17.05.2002

Die Häftlinge von Oz

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Die Häftlinge von Oz

WAS wird aus den Mördern, wenn sie erst einmal im Knast sitzen, fragte sich der US-amerikanische Drehbuchautor Tom Fontana, als er Anfang der Neunzigerjahre die Fernsehserie „Homicide“ produzierte. Fontana ist einer, der seine Ideen verfolgt – und so entstand fernab von Hollywood und dessen Soap-Diktat in den letzten Jahren die erfolgreiche Fernsehserie „Oz“, die mit hartem Realismus die Insassen eines Gefängnisses porträtiert. Schonungslos konfrontiert sie den Zuschauer mit all dem Hass und den Machenschaften, mit denen die Häftlinge sich gegenseitig malträtieren, erniedrigen oder aus dem Weg räumen.

Von MARTIN WINCKLER *

Ein Gefängnis, irgendwo in Amerika. Der im Knastmilieu arbeitende Sozialpsychologe Tim McManus hat den Auftrag, ein Konzept zur Wiedereingliederung der Gefangenen zu entwickeln. Statt eines Hochsicherheitstrakts schafft er eine offene Abteilung, eine Art Scheinfreiheit in der die Häftlinge außerhalb ihrer Zellen das Zusammenleben einüben. Bei der Strafanstalt handelt es sich um das Staatsgefängnis Oswald, das von seinen Insassen unter Anspielung auf den Film „Der Zauberer von Oz“ ironisch auf den Namen „Oz“ getauft wird. Die offene Abteilung hat den Spitznamen „Em(erald) City“, die „Grüne Stadt“, weil die Räume verglast und gitterlos sind.

McManus scheint ein beachtliches Projekt auf die Beine gestellt zu haben, aber bald wird klar, dass seine Ziele nur fromme Wünsche sind. Wenn man wilde Tiere auf engem Raum zusammensperrt, verhalten sie sich eben nicht wie Lämmer, sondern verschlingen einander … und reißen alle, die sie bewachen sollen, symbolisch mit in den Abgrund, in den Untergang: den Gefängnisleiter und die Wärter, Betreuer und Geistliche.

Die „Mieter von Oz“ sind eindrucksvolle, scharf gezeichnete Charaktere. Auf Seiten der Verwaltung, im Umkreis des selbstlosen, aber unentschlossenen schwarzen Direktors Leo Glynn, illustrieren einige Figuren sämtliche Widersprüche des Strafvollzugssystems: Tim MacManus, dessen Absichten nicht ganz so lauter sind, wie es den Anschein hat; Schwester Peter Marie, eine Psychologin, die nach der Ermordung ihres Mannes einem Orden beigetreten ist und sich der Arbeit mit Häftlingen verschrieben hat; Pater Mukada, ein junger Priester, der immer wieder an der Gewalt unter den Häftlingen scheitert; die Ärztin Gloria Nathan, die als Frau den medizinischen Dienst im Gefängnis versieht, oder auch Diane Whittlesey, eine ledige Mutter, die als Wärterin arbeitet, um ihre Kinder durchzubringen.

Auf Seiten der Gefangenen schließen sich die Männer nach ethnischer Zugehörigkeit oder Ideologie zusammen: afroamerikanische gangstas, am ganzen Körper tätowierte bikers, italoamerikanische wise guys, rassistische „Arier“, die von der Überlegenheit der Weißen schwärmen, schwarze Muslime und andere mehr. Jede Gruppe versucht, den anderen ihr Gesetz aufzuzwingen, jede taktiert mit wechselnden Bündnissen und Verrat, denn Drogen und Geld sind reichlich in Umlauf und werden mit allen Mitteln eingeschleust, natürlich auch über korrupte Wärter. Jede Gruppe bringt ihre eigenen Machtkämpfe hervor, ihre Anführer, ihre Werte, ihre Gewalt … und ihre Morde.

Die Fernsehserie beschreibt diesen Dschungel in all seinen Einzelheiten und präsentiert uns einige monströse Gestalten. So etwa Groves, der seine beiden Eltern umgebracht und die Mutter anschließend verspeist hat (den Vater wollte er sich für Thanksgiving aufheben); Schillinger, den reulosen Rassisten, der seinem Zellengenossen ein Hakenkreuz in den Hintern ritzt; oder Shirley Bellinger, die ihre Hinrichtung erwartet, weil sie ihre kleine Tochter umgebracht hat.

Aber in „Oz“ gibt es auch Menschen, die aus dem Rahmen fallen und in der Meute keinen Platz finden. Da ist Poet, der Rapper, dem eine Veröffentlichung in einer Anthologie afroamerikanischer Dichtung zur Entlassung verhilft; Kareem Said, der schwarze Muslim, der sich als politischer Gefangener versteht und sich in der Haft zum Ankläger des ganzen amerikanischen Justizsystems erhebt; dann Beecher, im bürgerlichen Leben Rechtsanwalt, der, um ein Exempel zu statuieren, zu einer hohen Strafe verurteilt worden ist, weil er betrunken am Steuer ein Kind totgefahren hat; und Busmalis, der mit einem kleinen Löffel den Zellenboden aufgräbt, um seinen x-ten Fluchtversuch zu unternehmen; da ist O‘Reilly, der geschickte Täuscher, der sich so heillos in Doktor Nathan verliebt, dass er bereit ist, für sie zu töten, und der alte Rebadow, ein ewiger Knastbruder, der von Gott persönlich Botschaften empfängt.

Und schließlich ist da noch ein junger Häftling namens Augustus Hill, der im Rollstuhl sitzt, seit die Polizei ihn bei seiner Festnahme von einem Dach gestoßen hat, nachdem er einen Schuss auf einen der Beamten abgegeben hatte. Augustus ist mehr als ein bloßer Häftling: Er ist derjenige, der das Fernsehpublikum durch die Serie führt – und das Sprachrohr ihres Autors.

„Oz“ unterscheidet sich radikal von den üblichen Fernsehgeschichten. Schon deshalb, weil es alle Züge einer antiken Tragödie hat. Jede Episode beginnt mit einer befremdenden Szene: Gegenüber der Kamera – die „vierte Wand“ der Fernsehkulisse – sitzt Augustus Hill, spricht den Namen „Oz“ aus und redet wie der Chorleiter im antiken Drama scheinbar über etwas anderes: die Familie, das Gesetz, die Liebe und die Freiheit. Sein Ton wirkt umso ironischer und beißender, als er manchmal mitten in der „Freizone“ zwischen den Zellen von Em City in einen Glaskäfig gesperrt ist, den man fast seine Agora nennen könnte.

Augustus Hill, der Mann mit dem lateinischen Vornamen, erzählt einigermaßen unverblümt von den Menschen und ihren Leidenschaften, während hinter ihm auf virtuellen Bildschirmen erstarrte oder heftig gestikulierende Gestalten vorbeidefilieren. Und dann setzt er uns wieder schonungslos den wilden Tieren aus, ihrem Hass, ihrer Dominanz, ihren Manipulationen – all den Machenschaften, mit denen sie sich gegenseitig beherrschen, erniedrigen oder aus dem Weg räumen.

Obwohl „Oz“ in Frankreich nur über Kabel und Satellit empfangen werden kann, ist die Serie den meisten Zuschauern doch ein Begriff. Viele kennen sie vom Hörensagen, andere haben sich einen Eindruck verschafft, als der „Pilotfilm“, die erste Folge, vom öffentlichen Sender M 6 ausgestrahlt wurde, um eine Sendung der Doku-Reihe Zone Interdite zu „illustrieren“, in der es um das Gefängnis geht. Dass M 6 davor zurückschreckt, die ganze Serie zu übernehmen, dürfte nicht zuletzt mit der schockierenden Wirkung dieser ersten Episode zusammenhängen, d. h. mit der intensiven physischen und psychischen Gewalt, die von den Geschichten wie von den Figuren ausgeht. Dabei ist die Gewalt wahrlich nicht das einzige Charakteristikum von „Oz“.

In den USA wird die Serie seit fünf Jahren von HBO, dem größten Kabelsender, mit nur acht Episoden im Jahr und ohne Werbeunterbrechungen gezeigt. Inzwischen umfasst sie insgesamt 48 Folgen. Die Ankündigung als „gewalttätige Actionserie im Knastmilieu“ wird ihr bei weitem nicht gerecht. Indem sie den Mikrokosmos Gefängnis darstellt, beschreibt sie zugleich auf unerhört mutige Weise die Gewaltkultur innerhalb der amerikanischen Gesellschaft, setzt sich überdies mit der Frage nach dem Glauben und dem Platz Gottes im Raum der Gesetzlosigkeit auseinander und stellt Reflexionen über Freundschaft und Loyalität unter den Menschen an.

Große Liebe hinter Gittern

SO überraschend es auch erscheinen mag, zeigt sie zudem eine Chronik verschiedener Liebesgeschichten. Die ergreifendste spielt sich zwischen dem heruntergekommenen, durch das Sträflingsleben asozial gewordenen Rechtsanwalt Beecher und dem Mörder Chris Keller ab, der Beecher erst verrät und ihn dann um Verzeihung anfleht. Diese seltsame Geschichte einer von Gewalt und Zärtlichkeit geprägten Leidenschaft ist eine der ungewöhnlichsten, die ich je gelesen habe – ich sage bewusst gelesen, weil sie sich mehr in den Gesichtern und der Körpersprache als in Worten ausdrückt –, eine Geschichte, die den Rahmen herkömmlicher Vorstellungen von leidenschaftlicher Liebe sprengt.

Wie jedes bedeutende Werk der Fernsehproduktion kommt freilich auch „Oz“ nicht aus dem Nichts. Den Ursprung bildet eine andere TV-Serie, „Homicide – Life on the Street“, die von 1993 bis 2000 von NBC gesendet wurde. (In Deutschland hat VOX von 1998 an in Nachtsendungen eine synchronisierte Fassung ausgestrahlt.) Schon sie war ein Exot in der amerikanischen Fernsehproduktion: Inspiriert von einer als Buch erschienenen Reportage des Journalisten David Simon über das Alltagsleben bei der Kriminalpolizei von Baltimore (Maryland), wurde sie am Ort der Handlung selbst gedreht und produziert.

„Homicide“, der seltene Fall einer ebenso realistischen wie poetischen Fernsehserie, ist aber auch stark vom Kinofilm beeinflusst. Man erkennt die Handschrift eines der beiden ausführenden Produzenten, bei dem es sich um keinen anderen als den aus Baltimore stammenden Filmemacher Barry Levinson handelt. Halb dokumentarisch gedreht, mit geschulterter Kamera und kaum geschminkten Schauspielern in der natürlichen Umgebung, arbeitet „Homicide“ mit raffinierten bild- und klangtechnischen Mitteln. Häufig werden Sequenzen versetzt geschnitten oder wiederholt, um die Gefühle einzelner Personen zu unterstreichen, oder es laufen stumme Szenen ab, in denen die musikalische Untermalung den später folgenden Diskurs ersetzt. Ein innovatives, nonkonformistisches, persönliches Werk, das sich jeder Gefälligkeit widersetzt und zwar nie die höchsten Einschaltquoten erreicht, aber sieben Jahre im Programm gehalten wird, weil der Sender ein Gespür für seine künstlerischen Qualitäten hat und von den ehrenhaften Auszeichnungen profitiert, mit denen es überhäuft wird – angefangen beim „Peabody Award“, einer Art Pulitzer-Preis der Fernsehbranche, der dieser Serie, was höchst ungewöhnlich ist, schon dreimal zugesprochen wurde! Neben Levinson ist Tom Fontana die zweite treibende Kraft für „Homicide“. Fontana, der früher Literaturwissenschaften unterrichtete, kam durch Zufall zum Fernsehen. Er war vor zehn Jahren einer der Hauptdrehbuchschreiber der renommierten Krankenhausserie „St. Elsewhere“ und ist bekannt für seine Strenge, seine Provokationslust, sein Festhalten an der Realität und seine Gnadenlosigkeit.

Der leuchtende Star von „Homicide“, ein begnadeter schwarzer Schauspieler namens Andre Braugher, hat es dem Drehbuchautor zu verdanken, dass er in der letzten Episode des vierten Produktionsjahres nicht stirbt, sondern ins Koma fällt. Für die fünfte Staffel schrieb Fontana eine Episode mit dem Titel „Prison Riot“ (Gefängnisaufstand), in der er die Frage eines Polizisten aus einer früheren Folge aufgreift: „Was wird aus diesen Mördern, wenn sie erst einmal im Knast sitzen?“ Die ganze Episode kündigt „Oz“ an, nicht nur erzählerisch, sondern auch durch die Themen. Auch mehrere Schauspieler aus „Homicide“ tauchen in der neuen Serie wieder auf.

Wie man sieht, lässt Fontana seine Ideen nicht ins Leere laufen. Er besitzt vielmehr die erstaunliche Fertigkeit, seine zahlreichen Protagonisten parallel zu entfalten. Und genau das ist für „Oz“ unverzichtbar, denn obschon dort viel gestorben wird, gibt es ein Dutzend Personen, die vom Anfang bis zum Ende regelmäßig mitspielen, ein anderes Dutzend ist in mehreren Episoden dabei und zahllose zweitrangige Figuren tauchen immer wieder zwischen den Gefängnismauern auf.

Am ungewöhnlichsten an der Konzeption dieser Serie ist die Tatsache, dass Fontana, der fast alle Episoden selbst geschrieben hat, keine seiner Figuren je aus den Augen verliert. Trotz der vielen verschiedenen Geschichten findet sich der Zuschauer mühelos in den komplizierten Verstrickungen zurecht. Diese fein gesponnene Konstruktion, die eine außerordentliche Hochachtung vor dem Fernsehpublikum bezeugt, und die Strenge der politischen, künstlerischen und moralischen Aussagen erklären, warum man von „Oz“ unweigerlich schockiert, gefesselt, begeistert und schließlich gerührt ist. Fontanas Werk – oder besser gesagt, sein work in progress, denn die Produktion geht weiter –erzählt uns von nichts anderem als der Gefängniswelt, in der wir alle leben, einer Welt, deren Geschichten uns ins Fleisch geschrieben sind, genau wie während des ganzen Vorspanns das eintätowierte „Oz“-Logo auf dem Arm des Autors prangt.

dt. Grete Osterwald

* Autor von „La maladie de Sachs“, Paris 1999 (dt. „Doktor Bruno Sachs“, München 2000); und „Les Miroirs de la vie. Histoire des séries américaines“, Paris 2002.

Le Monde diplomatique vom 17.05.2002, von MARTIN WINCKLER