17.05.2002

Demonstrierte Solidarität

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Demonstrierte Solidarität

WIR werden nach Jerusalem marschieren – Millionen von Märtyrer!“ Dieser Ausruf Arafats vom 29. März 2002 – einige Stunden nach Beginn des israelischen Angriffs auf Städte im Westjordanland – wurde quer durch die ganze arabische Welt von Demonstranten aufgegriffen. Tief bewegt sahen sie an jenem Abend vor dem Fernseher die von al-Dschasira ausgestrahlten Schreckensbilder. Die Belagerung des Hauptquartiers von Präsident Arafat und die erneute Besetzung des Westjordanlands – einen Tag nach Beschluss der saudischen Friedensinitiative durch den arabischen Gipfel – hatten ihre Gefühle verstärkt.

Der Graben zwischen Regierenden und Zivilbevölkerung wird immer tiefer. Doch bleibt abzuwarten, ob die derzeitige Mobilisierung die etablierten politischen Kräfte stärken oder neue Impulse hervorbringen wird. Erkennbar sind zwei große Strömungen: die eine, populistisch und fundamentalistisch, die den Friedensplan des saudischen Kronprinzen Abdallah ebenso ablehnt wie Verhandlungen mit Israel; eine andere, die ein Ende der Besetzung und des Konfliktes und ein Friedensabkommen fordert.

Der israelische Einmarsch ins Westjordanland hat beiden Seiten Argumente gegeben. Die „Irredentisten“ sehen dadurch bewiesen, dass die Oslo-Verträge die Palästinenser nicht vor der Wiederbesetzung ihrer Gebiete schützen konnten. Die „Pragmatiker“ verweisen darauf, dass die Oslo-Verträge den palästinensischen Städten eine – begrenzte – Freiheit garantiert hatten. Ambivalent ist auch die gewaltige Popularität, die der Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde in den letzten Wochen erlangt hat. Einerseits gilt sie dem Führer, der für die Unabhängigkeit seines Volkes und für den Frieden zwischen zwei Völkern kämpft, andererseits dem Arafat, den auch Scharon an die Wand malt: das Symbol des heiligen Krieges und des Terrorismus – in einer Reihe mit Ussama Bin Laden und Hassan Nasrallah, dem Hisbollah-Generalsekretär.

In Ägypten forderten die Demonstranten, alle Beziehungen zu Israel abzubrechen und den israelischen Botschafter auszuweisen. Abgelehnt wurde die Auffassung der Regierung, die diplomatischen Kanäle sollten „im Interesse der palästinensischen Sache“ offen bleiben. Von Kairo bis Alexandria, von Oberägypten bis zum Nildelta bekundeten die Menschen ihre Solidarität mit den Palästinensern. Dabei vermengten sich die Aufrufe zum Dschihad der einen mit der nationalistischen Nostalgie der anderen, die sich – wie in Sprechchören vor den Büros der Arabischen Liga in Kairo zu hören war – nach Nassers Zeiten zurücksehnen. Zugleich vermischte sich Antizionismus mit Antiamerikanismus. Die Staatsgewalt antwortete mit Tränengasbomben und Elektroschlagstöcken. Ein Demonstrant kam ums Leben.

Auch in Jordanien starb ein Junge aus dem palästinensischen Flüchtlingslager Baqa‘a bei Amman, die Polizei hatte ihm bei einer Kundgebung den Schädel zertrümmert, nachdem Panzer der haschemitischen Armee und Polizeikräfte das Lager umstellt hatten.

Jordanien bemüht sich vergeblich, den Zorn seiner Einwohner (mehrheitlich Palästinenser) zu besänftigen. Einerseits kann die Bevölkerung nicht ungerührt mit ansehen, was ihren „Brüdern“ jenseits des Jordan widerfährt; andererseits will die Regierung den Demonstrationen nicht freien Lauf zu lassen. Für sie kommt ein Abbruch der Beziehungen zu Israel oder die Ausweisung des israelischen Botschafters David Dadoon nicht in Frage, also versuchte sie, den Zorn zu kanalisieren. Minister gingen an der Spitze von 80 000 Demonstranten Seite an Seite mit der islamistischen und nationalistischen Opposition, die für den heiligen Krieg eine Öffnung der Grenzen forderte. Die Medien berichteten ausführlich über die Solidaritätskundgeungen, insbesondere über die Geste von König Abdallah und Königin Rania, die zugunsten der Palästinenser Blut spendeten.

Auch in Damaskus herrscht Beunruhigung über die Rückkehr der Arafat-Porträts, selbst wenn sein Bild neben denen der beiden Präsidenten, Vater und Sohn Assad, und dem Hisbollah-Chef Nasrallah auftaucht. In manchen Regionen Syriens häufen sich die Demonstrationen, und die Opposition, insbesondere die Komitees zur Wiederbelebung der Zivilgesellschaft, demonstriert auf den Straßen ihre politische Präsenz. Die Protestzüge unterstehen aber der Kontrolle des Machtapparats und der Baath-Partei. Insofern ist es kein Zufall, dass die Demonstranten Steine auf die Botschaften von Ägypten und Jordanien werfen konnten.

IM Libanon gingen am 29. März tausende palästinensische Flüchtlinge mit ihren libanesischen Mitbürgernauf die Straße und skandierten Parolen gegen Israel und die USA. Auch nach Westbeirut ist Arafats Porträt zurückgekehrt, was für manche politischen Führer nicht leicht zu verdauen ist. Die studentische Linke führt eine Boykottkampagne gegen alles, was amerikanisch ist. Sie organisiert Sit-ins vor McDonald‘s, Burger King und StarBox. Immer wieder kommt es vor dem Sitz der amerikanischen Botschaft zu Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften. Die Forderung, den US-Botschafter auszuweisen, genießt breite Unterstützung. Doch nur wenige treten dafür ein, erneut eine militärische Front im Süden gegen Israel zu eröffnen, denn das laufe „dem nationalen Interesse der Palästinenser“ zuwider.

Was den Antiamerikanismus der Hisbollah anbetrifft, so wurde er am 15. April 2002 bei der Ankunft Colin Powells in Beirut manifest, als zehntausende ihrer Anhänger gegen Washingtons bedingungslose Unterstützung für Israel protestierten. Auch in den Golfstaaten haben die Demonstrationen zugenommen, selbst dort, wo bisher keine Demos üblich waren. Auch hier äußert sich ein heftiger Antiamerikanismus. So bewarfen in Bahrein 20 000 Demonstranten die amerikanische Botschaft von Manama mit Steinen und Molotowcocktails. Sie forderten den Abzug der US-Truppen von der Insel, die den wichtigsten US-Stützpunkt in der Golfregion, das Hauptquartier der 5. Flotte beherbergt. Bei den Tumulten wurde ein Demonstrant getötet.

Kleinere Demonstrationen gab es in Oman, in den Emiraten, in Katar und in Kuwait. In Saudi-Arabien wurde die Menge von der Polizei daran gehindert, vor das US-Konsulat in Dharan zu ziehen, doch schon die Demonstration an sich war eine Premiere für das Königreich. In Irak, Libyen, Jemen, Sudan wirkten die Demonstrationen eher wie von der Obrigkeit organisiert. Dennoch gab es heftige Zusammenstöße, in Jemen starb dabei ein Demonstrant. In Bagdad gab es Bilder von Arafat neben den Porträts von Saddam Hussein, eine Straße wurde nach dem Palästinenserführer benannt.

In Libyen marschierte Muammar al-Gaddafi an der Spitze eines Zuges von 100 000 Demonstranten. In Marokko protestierten Jugendliche mit Sprechchören wie „Präsident des Jerusalem-Ausschusses (der marokkanische König), verschiebe deine Hochzeit“, gegen den israelischen Krieg und die Komplizenschaft der USA. Beim großen Solidaritätsmarsch für das palästinensische Volk sprachen die Behörden von 500 000, die Organisatoren von 3 Millionen Teilnehmern. Premierminister Yussufi musste sich unter Buhrufen zurückziehen. Die Kritik galt vor allem der „prowestlichen Politik“ des Landes. Die Menge war heterogen, wenn auch stark von der Präsenz der islamistischen Bewegung geprägt.

Trotz all dieser Demonstrationen fehlt es an einer einheitlichen politischen Perspektive. Die eine Strömung sieht den aktuellen Konflikt als Krieg zwischen Gut und Böse, eine andere ruft zugleich zur nationalen Befreiung des palästinensischen Volkes und zu einem israelisch-arabischen Frieden auf. Eine wirksame Strategie ist nicht in Sicht.

WISSAM SAADE *

dt. Grete Osterwald

* Journalist bei der Tageszeitung Al Safir, Beirut.

Le Monde diplomatique vom 17.05.2002, von WISSAM SAADE