17.05.2002

Shoppen und Beten

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Shoppen und Beten

SEIT dem Attentat auf das World Trade Center sei alles anders, behaupten Politiker und Publizisten in aller Welt. Für die USA ist damit die Frage aufgeworfen, wie die beste alle Welten ganz anders werden kann, ohne dass alles schlechter wird. Die Bush-Regierung predigt deshalb die noch intensivere Pflege patriotischer Werte. Die Krise erfüllt die konservative Sehnsucht nach dem „heilsamen Schock“, der die Angst vor dem sozialen Zerfall widerspiegelt. Aber die Wirkung des Schocks wird nicht ewig anhalten. Die Widersprüche der Politik, mit der die Regierung Bush die neue Realität bändigen will, zeigen sich als Erstes im Nahen Osten. Und sie werden sich auch auf das Verhältnis USA/Europa auswirken.

Von ANDREA BÖHM *

Am 13. März 2002, fast genau sechs Monate nach dem Terroranschlag auf New York und Washington, schrieb der Kolumnist George Will in der Washington Post eine Betrachtung über die „positiven Seiten im Leben nach dem 11. September“.

Kolumnisten zählen in den USA zu den Brahmanen der journalistischen Zunft, und die meisten sind nicht nur in der Presse, sondern auch im Fernsehen präsent. Diese so genannten pundits sind eine Kaste, die politisches Handeln oder die Inszenierung desselben fürs gemeine Publikum rezensiert. Und manchmal, wenn die Zeiten es verlangen, schauen sie dem Volk – nein, nicht aufs Maul, das tun die Demoskopen –, sondern direkt in die Seele.

Das tat George Will am 13. März 2002. Dabei entdeckte er die Wiedergeburt der Eindeutigkeit und der „Schönheit“ nach dem 11. September. George W. Bush habe mit seinem Kriegsruf „gegen das Böse“ nicht nur die Außenpolitik, sondern auch sein Volk „remoralisiert“. Und das schlage sich auch im Konsumverhalten der Amerikaner nieder: „Chippendalemöbel und Kristallleuchter“ seien wieder in Mode. In New Yorker Fast-Food-Restaurants plärre keine Rap- und Rockmusik mehr aus den Lautsprechern, sondern Samt-Jazz von Diana Krall. In den Buchläden verkauften sich Biografien der ehrwürdigen Präsidenten John Adams und Theodore („Teddy“) Roosevelt als Bestseller – obwohl solche Literatur jahrelang als Huldigung an „tote weiße Männer“ verschrien gewesen sei. Und bei Wal-Mart gebe es jetzt Windeln mit kleinen blauen Sternen für „kleine Patrioten“. Amerikaner seien erstens geschäftstüchtig und zweitens „sagenhaft patriotisch und nationalistisch“, schreibt Will. „Patriotismus ist die Liebe zum eigenen Land. Nationalismus ist die Feststellung der nationalen Überlegenheit. Nationalismus ist die Ablehnung des kulturellen Relativismus, der Grundlage allen ‚Multikulturalismus‘.“

Bevor der geneigten Leserschaft nun der antiamerikanische Kamm schwillt, sei dieses klargestellt: Rap und Rock sind keineswegs tot, und in meinem Bekanntenkreis gibt es niemanden, der nach dem 11. September Chippendalemöbel oder patriotische Windeln gekauft hätte. Wills erratische Anekdotensammlung ist folglich nicht interessant, weil sie ein akkurates Bild der US-Gesellschaft beschreiben würde, denn das tut sie nicht. Aber sie ist symptomatisch für die amerikanische Sehnsucht nach einem „heilsamen Schock“, nach einer Katharsis, damit das „United“ in den „United States of America“ wieder ganz groß geschrieben wird. Und Will wünscht sich stellvertretend für das erzkonservative Spektrum seiner Leser eine Rückkehr in die Fünfzigerjahre.

Der Soziologe Richard Sennett hatte kurz nach dem 11. September diese amerikanische Wahrnehmung von Kriegen dem europäischen Publikum zu erklären versucht (Süddeutsche Zeitung, 4. 10. 2001). Gerade weil der Zusammenhalt der US-Gesellschaft so fragil und das Land einem „ständigen Wirbelwind“ durch Einwanderung, Mobilität und soziale Konflikte ausgesetzt ist, argumentiert Sennett, bieten Kriege eine der seltenen Gelegenheiten zur Zementierung dieser Gesellschaft. Für kurze Zeit hat ein extrem heterogenes Land einen gemeinsamen Feind, ein gemeinsames Ziel – und diese Phasen des manichäischen Nationalismus brachten immer auch einen integrierenden Schub: Der Erste Weltkrieg zwang Soldaten verschiedener Einwanderergruppen erstmals zur gemeinsamen Verständigung auf Englisch. Der Zweite Weltkrieg schuf das Bild des schwarzen Amerikaners in Uniform und damit einen Ausgangspunkt für die Bürgerrechtsbewegung; der Golfkrieg zeigte erstmals kämpfende Frauen. Der Vietnamkrieg ist die Ausnahme von der Regel, und hinter George Wills Arie an den ästhetischen Patriotismus verbirgt sich auch die Angst, es könnten ähnlich wie vor 35 Jahren zersetzende Zweifel an der „moralischen Klarheit“ des Kriegs gegen den Terrorismus aufkommen.

Der Koran findet reißenden Absatz

FÜR alle Kriege aber gilt, dass die Rhetorik vom Kampf des Guten gegen das Böse weniger an den Feind adressiert ist als an die eigene Öffentlichkeit. Es ist eine quasireligiöse Antwort auf die ewige Frage, was dieses Land eigentlich zusammenhält. Sennett spricht von einer „Dialektik der Solidarität“ – einer Art Selbstbeschwörung, die „die Fähigkeit der Amerikaner schwächt, zu verstehen, was in der Welt außerhalb der Vereinigten Staaten vor sich geht“.

Auch die Terroranschläge vom 11. September und der anfangs eher leise Patriotismus haben mehr zur Integration neuer Einwanderergruppen beigetragen, als es zuvor zehn Jahre Immigrationspolitik vermocht hätten. So paradox es klingen mag: Unmittelbar nach dem Angriff galt dies besonders für die arabischen und muslimischen Communities. Diese mussten einerseits zwar mit Racheakten und polizeilichen Fahndungsaktionen rechnen, andererseits aber wurden sie in der Öffentlichkeit zum ersten Mal neben Juden und Christen als „dritte religiöse Kraft“ und als politische Lobby ernst genommen. Nicht Chippendalemöbel, sondern der Koran fand plötzlich reißenden Absatz, und Imame der zweiten und dritten Generation fanden sich auf einmal ins Weiße Haus eingeladen. All das erfolgte, wie immer, unter dem Postulat der moralischen Klarheit im „Krieg des Guten gegen das Böse“.

Fährt man dieser Tage durch das Land, so scheint diese „Dialektik der Solidarität“ auf den ersten Blick im Sinne George Wills zu funktionieren: In den Palästen wie in den Hütten zeigt man Flagge. Je ärmer die Gegend, desto größer die Plakate in den Fenstern, die verkünden: „United We Stand“. Im Neonlichterwald jeder Shopping-Mall blinkt alle fünzig Meter „God Bless America“, und niemand scheint sich zu fragen, ob Gott eigentlich nichts anderes zu tun hat.

Doch dieses Postulat der „moralischen Klarheit“ verliert innenpolitisch allmählich an Wirkung. Zum einen ist Afghanistan nach der Euphorie über den schnellen Erfolg aus den Medien fast verschwunden; der Krieg ist zwar nicht zu Ende, hat derzeit aber keinen geografischen Ort. Zum anderen hinterlässt er an der Heimatfront kaum Spuren.

Nach den Terroranschlägen auf New York und Washington kündigten Politiker und Medien der Bevölkerung eine Schicksalsprüfung an, einen großen Charaktertest. Amerika sei durch den 11. September aus einer glitzernden Nabelschau gerissen worden, schrieb die Kolumnistin Maureen Dowd: Nun habe man die Chance, sich selbst zu beweisen, dass „wir mehr sind als die Summe unserer Konsumgüter“ (New York Times vom 3. Oktober 2001).

Genau das geschah unmittelbar nach den Angriffen in eindrucksvoller Weise, doch als sich die Amerikaner dann fragten, wie ihr weiterer Beitrag zum Kampf des Terrorismus aussehen soll, anwortete ihr Präsident sinngemäß: „Kauft ein, bis die Tüten platzen, und betet sonntags für die Truppen. Um den Rest kümmert sich das Weiße Haus!“ Shoppen ist seitdem erste Bürgerpflicht an der Heimatfront, und selbst die Trauer um die Toten des 11. September ist bis ins Letzte kommerzialisiert.

Die Symbiose aus Konsum und Patriotismus garantiert George W. Bush immer noch hohe Zustimmungsquoten. Denn nach all den bedrohlichen Ankündigungen, es werde nach dem 11. September nichts mehr so sein wie vorher, finden es die Menschen sehr beruhigend, dass sie an ihrem Alltag und Lebensstil nichts ändern müssen.

Andererseits dominiert der Krieg nicht mehr die politische Agenda. Anfang des Jahres hatte Karl Rove, Bushs Berater im Weißen Haus, noch triumphierend verkündet, man werde mit dem beliebig langen und beliebig ausweitbaren Antiterrorkrieg die innenpolitische Bühne besetzen und die Kongresswahlen im kommenden November haushoch gewinnen. Heute muss Rove feststellen, dass sich die Wähler weniger um Ussama Bin Laden denn um Themen wie Arbeitslosigkeit, Krankenversicherung und Bildung sorgen. Das Weiße Haus droht, um in seinem Jargon zu bleiben, die Kontrolle über das Drehbuch zu verlieren.

Politik als Performance ist ein bestimmendes Merkmal der Mediendemokratie –das gilt ganz besonders in Kriegszeiten. Vor diesem Hintergrund sorgt sich das Beraterteam im Weißen Haus nicht nur um die Wiederkehr der vermaledeiten Innenpolitik, sondern auch um einen außenpolitischen Nebenschauplatz, der ausgesprochen störend ist: den Nahostkonflikt. Denn erstens lässt sich der Kampf zwischen Israelis und Palästinensern nicht ins Schema von „Gut gegen Böse“ pressen, weil es unter den Hauptakteuren keine Helden, sondern nur Schurken gibt. Darüber kann auch die rituelle Schelte des Präsidenten für Jassir Arafat nicht hinwegtäuschen, denn Bushs Text wirkt wie das falsche Tonband zu den Bildern aus Ramallah, Dschenin oder Bethlehem. Zweitens hat er damit die arabische und muslimische Community in den USA zutiefst verbittert.

Bush hatte als erster Präsidentschaftskandidat in der Wahlkampfgeschichte offensiv um deren Stimmen geworben – mit Erfolg. Nach dem 11. September war diese Allianz eher noch stärker geworden. Dann kamen die Solidaritätsbekundungen des Weißen Hauses für Ariel Scharon. Die propalästinensischen Lobbygruppen in Washington sahen sich wieder zu Schmuddelkindern degradiert, doch an den Universitäten wächst der Unmut gegen die israelische Siedlungs- und Besatzungspolitik und das Verhalten der US-Regierung.

Das Thema gehört mittlerweile zum Sammelkatalog der Globalisierungskritiker – frei nach dem Motto „Gegen die Weltbank, für die Westbank“. An manchen Hochschulen wird sogar eine „Divestment“-Kampagne diskutiert, wie sie einst gegen das Apartheid-Regime in Südafrika geführt wurde. Über die Zulässigkeit dieser Analogie kann man streiten. Jedenfalls könnte hier eine Protestbewegung entstehen, die ihrerseits eine „Remoralisierung“ der Außenpolitik fordert – allerdings nicht im Sinne eines Kreuzzugs von Gut gegen Böse, sondern im Sinne einer glaubwürdigen US-amerikanischen Vermittlungspolitik, mit der man in den Nahostkonflikt eingreift, um zu einer Lösung zu kommen, und nicht weil er die Vorbereitungen für einen neuerlichen Irak-Feldzug stört.

Das Weiße Haus hat unterdessen eine hochkarätige Werbeagentin als „Staatssekretärin für öffentliche Diplomatie und öffentliche Angelegenheiten“ angeheuert, um den „Krieg gegen den Terrorismus“ und das „Produkt USA“ außerhalb des Landes besser zu „verkaufen“. Wenn die Strategie der Vermarktung von Politik in amerikanischen Wahlkämpfen funktioniert, so dachte man in Washington, müsste sie doch auch in Kairo, Amman oder Islamabad verfangen. Demokratie, Menschenrechte und Marktwirtschaft ergeben zweifellos ein attraktives Paket, und manche pundits sehen die Arbeit der PR-Managerin als Bestandteil einer neuen außenpolitischen Doktrin: die Vereinigten Staaten als Weltpolizist, der das nationale Interesse mit globalem Freihandel, Demokratie und Marktwirschaft verbindet. Und der sich präventive Militärschläge gegen „Schurkenstaaten“ vorbehält, die Terroristen unterstützen, Massenvernichtungswaffen herstellen oder sich schwerer Menschenrechtsverletzungen schuldig machen. In diesem Bild fällt die UNO als Gremium zur Konfliktlösung aus und beschränkt sich auf humanitäre Leistungen und Wiederaufbau. Und Europa? Nun, Europa zahlt. Auf außenpolitischen Konferenzen in den USA fasst man das Modell mittlerweile unter dem Satz zusammen: „America fights, Europe funds and the UN feeds.“

Diese Doktrin birgt an sich schon Zündstoff genug in sich. Der entscheidende Punkt jedoch ist, dass sie nicht nur internationale Institutionen zur Konfliktregelung für obsolet erklärt, sondern in der Praxis auch die universelle Gültigkeit von Menschen- und Bürgerrechten. Das wiederum macht der „Staatssekretärin für öffentliche Diplomatie und öffentliche Angelegenheiten“ die Arbeit so schwer. Wie soll sie zum Beispiel durchaus demokratiehungrigen und „verwestlichten“ Ägyptern und Pakistanis beibringen, dass mit dem Produkt USA auch die Anwendung der Folter vereinbar ist? Die Debatte über „physischen Druck“ auf Terrorverdächtige wird in den amerikanischen Polit-Talkshows seit Monaten mit sportlichem Ehrgeiz geführt. In der Regel erinnert keiner der Gäste daran, dass die Vereinigten Staaten 1994 die Anti-Folter-Konvention ratifiziert haben. In den Debatten geht es vielmehr darum, welchen der Verbündeten man die Drecksarbeit machen lassen soll. Ägypten wird am häufigsten genannt, gefolgt von der Türkei, den Philippinen und Jordanien.

Der wahre Kern einer neuen außenpolitischen Doktrin findet sich dann eher in einem Vortrag von Robert Cooper formuliert (The Observer, April 7, 2002). Cooper ist außenpolitischer Berater der britischen Premierministers Tony Blair, und seinen Essay „The Postmodern State“ über den Umgang mit „Schurkenstaaten“ darf man ohne weiteres als Produkt der besonderen britisch-amerikanischen Beziehungen verstehen. „Die Herausforderung für die postmoderne Welt besteht darin, dass wir uns an das Konzept des double standard gewöhnen müssen. Unter uns“, schreibt Cooper und meint damit die westlichen Industriestaaten, „handeln wir auf rechtsstaatlicher Basis und in offener Sicherheitspartnerschaft.“ Aber jenseits der Insel der Seligen müsse man wieder zu den „raueren Methoden früherer Zeiten greifen: Gewalt, Präventivattacken, Täuschung. Unter uns halten wir uns an die Gesetze, aber wenn wir im Dschungel operieren, müssen wir die Gesetze des Dschungels anwenden.“

Oder anwenden lassen, muss man ergänzen, denn die Mitglieder der westlichen Welt sollen sich die Hände nicht selbst an den Folterwerkzeugen schmutzig machen. Laut Presseberichten (etwa The Guardian vom 12. 3. 2002) sind bereits mehrere mutmaßliche Al-Qaida-Mitglieder auf amerikanischen Wunsch an „Länder übergeben worden, zu deren Geheimdiensten die CIA gute Verbindungen hat und in denen Folter erlaubt ist.“

Wohlgemerkt: Nichts von solchen Überlegungen zu den Methoden des Dschungels ist bislang Gegenstand einer Debatte im amerikanischen Kongress. Nur ganz wenige Parlamentarier haben es in den vergangenen Monaten gewagt, sich der „Dynamik der Solidarität“ zu entziehen. Der demokratische Abgeordnete Dennis Kucinich ist einer von ihnen, und weil er ein guter Amerikaner ist, hat er seinen Protest in ein „Gebet für Amerika“ gefasst (The Nation, 1. 3. 2002): „Lasst uns beten, dass unser Land diesen Krieg beendet. Wir haben nie einem endlosen Krieg zugestimmt, nie einen Angriff gegen den Irak, Iran oder Nordkorea autorisiert oder die Bombardierung afghanischer Zivilisten beschlossen. Wir haben nie für eine permanente Kriegswirtschaft, für Militärtribunale, für die Einschränkung unserer Verfassung gestimmt. Lasst uns beten für ein Amerika ohne Massenvernichtungswaffen, das keine ‚Achse des Bösen‘ jagt, keine internationalen Verträge bricht, sondern eine Achse der Hoffnung bildet.“

Für europäische Ohren klingt so ein Gebet etwas pathetisch, für amerikanische ist es genau die richtige Tonlage. Nur ist die Gemeinde noch sehr klein.

* Andrea Böhm war von 1992 bis 1997 USA-Korrespondentin der taz und anschließend zwei Jahre lang Redakteurin der Zeit. Heute lebt sie als freie Journalistin in den USA.

Le Monde diplomatique vom 17.05.2002, von ANDREA BÖHM