14.06.2002

Das Menschenrecht, sich satt zu essen

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Das Menschenrecht, sich satt zu essen

Von JACQUES DIOUF *

OBWOHL weltweit ein Überfluss an Nahrungsmitteln herrscht, hungern über 800 Millionen Menschen. Tausende Kinder sterben täglich an den Folgen von Hunger und chronischer Unterernährung. Während der weltweit erwirtschaftete Reichtum zu den schönsten Hoffnungen berechtigen könnte, ist die alte Frage noch immer aktuell: Lässt sich der Hunger besiegen?

Einige kleine Siege im Kampf gegen diese Geißel gibt es durchaus zu verzeichnen: Im 20. Jahrhundert nahm die Nahrungsmittelproduktion stärker zu als die Weltbevölkerung, die sich im selben Zeitraum mehr als verdoppelt hat. Dennoch hat der ungleiche Zugang zu Nahrungs- und Produktionsmitteln zur Folge, dass noch immer Millionen Menschen das fundamentalste aller Rechte entbehren: das Recht, sich satt zu essen. Und um der gesamten Weltbevölkerung eine gesunde, gehaltvolle Ernährung zu sichern, muss noch viel getan werden.

Auf dem Welternährungsgipfel vom November 1996 hatten Vertreter aus 186 Ländern, darunter 112 Staats- und Regierungschefs, erste richtungweisende Schritte unternommen. Das damals gesetzte Ziel mutet zugleich bescheiden und ehrgeizig an: Sie wollen die Zahl unterernährter Menschen bis zum Jahr 2015 von 800 auf 400 Millionen reduzieren. Das allerdings würde bedeuten, dass es pro Jahr 22 Millionen weniger unterernährte Menschen geben müsste, tatsächlich waren es bisher aber nicht mehr als 6 Millionen pro Jahr.

Ungeachtet aller Resolutionen – und auch der Medienreaktion auf den Gipfel von 1996 – bleibt das Problem des Hungers im Gewissen der Menschheit ein dunkler Fleck, zumal es sich in manchen Regionen sogar noch verschlimmert hat. Die Zahlen sprechen für sich: In den Entwicklungsländern sind schätzungsweise 777 Millionen Menschen unterernährt, in den Schwellenländern 27 Millionen und in den Industrienationen 11 Millionen.

An Unterernährung leiden besonders stark die Kinder, am gravierendsten sind in dieser Hinsicht die Verhältnisse in Afrika südlich der Sahara und in Südasien. Knapp 156 Millionen Kinder unter fünf Jahren weisen einen Proteinmangel und etwa 177 Millionen ernährungsbedingte Wachstumsstörungen auf. Außerdem sind ungefähr 17 Prozent der Neugeborenen in den unterentwickelten Ländern schon im Mutterleib im Wachstum zurückgeblieben – eine Folge der Unterernährung schwangerer Frauen.

Kann das 1996 gesetzte Ziel, die Unterernährung einzudämmen, jemals erreicht werden? Verlangt das Fortbestehen des Hungers in einer Welt des Überflusses nicht ganz neue globale Initiativen? Wie lassen sich, um das Übel zu besiegen, der nötige politische Wille und die zusätzlichen Ressourcen konsequenter mobilisieren? Genau um diese Fragen wird es gehen, wenn sich Staats- und Regierungschefs, Parlamentarier, Repräsentanten internationaler, zwischenstaatlicher und nichtstaatlicher Organisationen, Spitzenvertreter internationaler Kreditinstitutionen wie auch der Privatwirtschaft vom 10. bis zum 13. Juni 2002 in Rom zum „Welternährungsgipfel: fünf Jahre danach“ versammeln.

Der G-8-Gipfel, zu dem die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) im Juli 2001 nach Genua eingeladen hatte, bekundete in einer einstimmigen Resolution, die Hauptziele einer gemeinsamen Strategie zur Bekämpfung der Armut müssten der Zugang zu ausreichender Nahrung und die Entwicklung der ländlichen Regionen sein. Sämtliche Bemühungen hätten sich darauf zu richten, dass die landwirtschaftliche Produktivität vorangebracht wird – um so mehr, als deren Förderung einen beträchtlichen Teil der öffentlichen Entwicklungshilfe ausmacht.

Die Unterstützung nationaler Agrarpolitik und die Ausbildung von Agronomen wurden also zur höchsten Priorität erklärt. Deshalb befürwortete der G-8-Gipfel auch die Süd-Süd-Kooperation, denn diese sei die entscheidende Voraussetzung für den Transfer von Technologien, die auf die sozioökonomischen Bedürfnisse armer Landwirte zugeschnitten sind und gleichzeitig den ökologischen Erfordernissen Rechnung tragen. Der Gipfel beschloss außerdem, den am stärksten betroffenen Regionen im südlichen Afrika und in Südasien Vorrang einzuräumen.

Die Landwirtschaft stellt den entscheidenden Faktor dar, weil sie dem Großteil der Unterernährten das Überleben sichern kann. 1999 lebten 60 Prozent der Gesamtbevölkerung der Entwicklungsländer auf dem Lande, im selben Jahr gingen ebenfalls an die 60 Prozent einer landwirtschaftlichen Arbeit nach. In vielen Staaten, die einem hohen Anteil unterernährter Menschen aufweisen, erbringt die Landwirtschaft über 25 Prozent des Bruttosozialprodukts und versorgt direkt oder indirekt 70 Prozent der Armen und der Menschen, deren Ernährung nicht gesichert ist. Dabei ist auch zu bedenken, dass die Bedürftigen in den Städten mehrheitlich aus ländlichen Regionen abgewandert sind, weil sie ihren Familien keinen Lebensunterhalt mehr sichern konnten.

Man müsste also noch mehr in die Landwirtschaft der Entwicklungsländer investieren. Diese stecken häufig allerdings nicht genügend Ressourcen in die Landwirtschaft, obwohl dieser eine zentrale Rolle als Motor der Wirtschaft zukommt. Aber auch die Industrieländer und die internationalen Kreditinstitutionen haben die für den landwirtschaftlichen Sektor vorgesehenen Hilfsleistungen reduziert. Zudem verfolgten manche Industriestaaten nicht immer eine Politik, die den Aufschwung der Landwirtschaft in den Entwicklungsländern begünstigen könnte. So beliefen sich die Subventionen, die die Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ihrer eigenen Landwirtschaft gewähren, 1999 auf schätzungsweise 361 Milliarden Dollar, das entspricht 1,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aller OECD-Staaten – gegenüber lediglich 7,4 Millionen Dollar, die 1998 offiziell als Hilfsgelder für die Landwirtschaft der armen Länder ausgegeben wurden. Die Zuschüsse, die andererseits die Landwirte der Industrieländer beziehen, betragen das 48fache dessen, was den Bauern in den armen Ländern zugestanden wird. Diese Situation entspricht zwar den Vereinbarungen der Welthandelsorganisation (WTO), aber man darf doch sehr bezweifeln, ob sie angesichts der geschilderten Probleme angemessen ist.

Die wirtschaftlichen Folgekosten des Hungers sind für die Individuen wie für die Gesellschaften exorbitant; Mangelernährung führt zu Krankheit und Tod; sie zwingt Familien, ihre knappen Mittel für Krankenpflege auszugeben; sie beeinträchtigt die kognitiven Fähigkeiten der Kinder; sie erstickt die Produktivität und hindert die Menschen an der vollen Entfaltung ihrer natürlichen Anlagen; sie bremst das Wirtschaftswachstum und verhindert, dass ganze Gesellschaften ein annehmbares Entwicklungsniveau erreichen. Ohne Mangelernährung hätte das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner im südlichen Afrika 1990 zwischen 1 000 und 3 500 Dollar jährlich gelegen, tatsächlich erreichte es nur 800 Dollar.

Verschärfend kommt hinzu, dass sich Aids in den ländlichen Regionen der Entwicklungsländer sehr schnell ausbreitet. Die Epidemie gefährdet die Versorgung mit Nahrungsmitteln wie die Produktivität. Die Zahlen sind erschreckend: Seit 1985 sind in den 25 am stärksten betroffenen Ländern Afrikas bereits 7 Millionen Menschen an Aids gestorben, die in der Landwirtschaft beschäftigt waren, bis 2020 könnten weitere 16 Millionen dazukommen. Für manche Länder würde das bedeuten, dass sie bis zu einem Viertel ihrer landwirtschaftlichen Arbeitskräfte verlieren.

Der Kampf gegen den Hunger in der Welt ist nicht nur ein moralisches Gebot. Er bringt auch die Wirtschaft voran und trägt zur Stabilität und Sicherheit aller Gesellschaften bei. Zu bedenken ist auch, dass Hunger nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Ursache von Konflikten und Unruhen ist und unmittelbar zu Landflucht und Emigration beiträgt.

Daher muss die internationale Staatengemeinschaft die Überwindung der Unterernährung als integralen Bestandteil der globalen Solidarität begreifen. Sie ist verpflichtet, alles zu unternehmen, um ihren Verpflichtungen nachzukommen. Die Industrienationen müssen ihre Finanzhilfen aufstocken, den Transfer angemessener Technologien fördern, die Schuldenlast verringern, die Märkte öffnen, ein Dumping überschüssiger Güter vermeiden und gerechte Handelsbedingungen garantieren. Die Entwicklungsländer müssen einen ausreichenden Teil ihres Budgets armen Bauern zukommen lassen, die Agrarproduktion und vor allem den sparsamen Umgang mit Wasser fördern, Anreize für einheimische Privatinvestitionen schaffen und den Zugang zu Land, Ressourcen, Bildung, Märkten und Krediten erleichtern, insbesondere für Frauen.

Im Kampf gegen Hunger und Unterernährung gibt es kein Allheilmittel und keine einfachen Lösungen. Aber wenn die Staaten und die internationale Gemeinschaft ihre Verpflichtungen in konkretes Handeln umsetzen, werden die Resultate nicht ausbleiben. Es wird ein schwieriger Kampf sein, doch mit Hilfe der öffentlichen Meinung und engagierter Mitstreiter auf der ganzen Welt muss es möglich sein, das elementare Menschenrecht auf ausreichende Ernährung zu sichern.

dt. Matthias Wolf

Le Monde diplomatique vom 14.06.2002, von JACQUES DIOUF