14.06.2002

Der Blick in den Loft trügt

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Der Blick in den Loft trügt

Von YOUNÈS ALAMI *

DIE französische Version von „Big Brother“ namens „Loft Story“ hat das Mittelmeer überquert und sich in die eklektische Medienlandschaft Marokkos eingefügt. Dank raubkopierter Chipkarten, die in Casablanca auf dem Schwarzmarkt von Derb Ghallef keine 5 Euro kosten, beobachtet man die lofteurs jetzt auch in Marokko mit mehr oder weniger Mitgefühl. Dass Kreativität in den staatlichen Fernsehsendern 2 M und TV M ein Fremdwort ist, erklärt allerdings nicht, warum die „würdigen Repräsentanten“ der französischen Lebensweise in den Wohnzimmern unseres Bürgertums auf so viel Hingabe und „ethnologische“ Faszination stoßen.

Die Marokkaner verfolgen nicht nur die täglichen Zusammenfassungen auf Kanal M 6. Auch die 22-stündige Direktsendung des Kanals „Loft Story“ von TPS halten sie mit großem Stehvermögen durch. Die legalen Abonnenten in Europa zahlen dafür ungefähr 4 Euro pro Monat, in Marokko liefern die kleinen Genies in Derb Ghallef den Decoder gratis dazu.

Heute wollen 70 Prozent der marokkanischen Jugendlichen ihr Land verlassen, weil sie anderswo rosigere Aussichten vermuten. Angesichts dessen ist der Schlüssellochblick auf die „Loft Story“ durchaus geeignet, das Leben in Gesellschaften „ohne Elend und Arbeitslosigkeit“ genauer unter die Lupe zu nehmen.

Die Wertediskussion um Sendungen wie „Loft Story“ und das Reality-TV im Allgemeinen hat die marokkanischen Zuschauer wenig beeindruckt – bis auf jene kleine, wirklich elitäre Minderheit, die sich bevollmächtigt sieht, am französischen Geistesleben teilzuhaben. Diese Menschen ereifern sich für Debatten, die nicht die Ihren sind, sei es aus Bequemlichkeit, sei es als Ergebnis einer widerstandslos hingenommenen Akkulturation. Alle anderen sehen sich die Loft-Realität – halb amüsiert, halb skeptisch – einfach an.

Dass unter den Loftbewohnern auch Nordafrikaner waren, hat die Identifizierung erleichtert – auch wenn deren vorzeitiger Rausschmiss die Wahrnehmung bestärkte, Franzosen hätten grundsätzlich etwas gegen Ausländer und Franzosen arabischer Abstammung. Als aber die junge Kenza mit einem ihrer Mitbewohner eine Romanze hatte, waren die Marokkaner von ihrem angeblich skandalösen Benehmen schockiert. Dass ein emotionaler Vorgang sichtbar, dass Zuneigung körperlich ausgedrückt wurde, erregte Unbehagen, weil die zwei Verliebten arabischer Abstammung sind. Am Ende wurde der körperliche Kontakt doch entschuldigt: Der Junge ist eben ein waschechter Nordafrikaner. Und wie immer wurde die Frau verurteilt, während umgekehrt der Mann in seinem Männlichkeitsgehabe bestätigt wurde. So übertrugen die Marokkaner ihr eigenes Frauenbild, ihre Tabus und Verbote auf die Jugendlichen, die sie sich gleichsam aneigneten, indem sie deren teilweise westliche Prägung negierten.

Kenzas Leidensweg und das Machogehabe ihres Freundes Aziz werden mit unaufgeregtem Mitleid verfolgt, in das sich etwas Scham und Belustigung mischen. Man macht sich über das schwache intellektuelle Niveau dieser „Vertreter der Minderheit“ lustig und übersieht, dass sich die „einheimischen“ französischen Loftbewohner auf demselben Niveau bewegen. Wieder mal wird die Verschwörungstheorie über die französischen Medien laut, die in Frankreich lebende Araber verächtlich machten. Wobei die frankophone Elite selbst eine gewisse Verachtung für die „elenden Emigranten“ hegt, „die ihre Kinder nicht erziehen können und dem Ansehen der Marokkaner in Frankreich schaden“. So ist man am Ende doppelt zufrieden, wenn Kenza und Aziz den Loft vorzeitig verlassen müssen, wurde der „Rauswurf“ doch durch die Vox populi eines Volkes bewirkt, das bei den jüngsten Wahlen sein Unbehagen gegenüber den Nordafrikanern klar zu Protokoll gegeben hat.

Nun sind die Marokkaner zweifellos Voyeure und als solche für das Reality-TV ein prima Publikum – in natürlicher Fortsetzung ihrer Schwäche für den Klatsch, das strapazierfähige soziale Band einer Gesellschaft, die sich langweilt, die keine integrierende politische Debatte, kein wirkliches Anliegen und kein mobilisierendes Ziel kennt. Nur die Versuchung des Extremismus und das Schicksal der Palästinenser können gelegentlich eine gewisse Empörung und aufrichtige Anteilnahme auslösen.

Was jedoch die Veränderung ihrer eigenen Lebensbedingungen betrifft, so können die Marokkaner ihre Apathie nur schwer überwinden. Im Klima allgemeiner Resignation wirkt der Loft kompensatorisch. Er hilft, die gähnende Leere einer Gesellschaft auszufüllen, die an mangelnder Fantasie, an Trägheit und an Fatalismus krankt. Angesichts der dürftigen Programme der nationalen Sender und der Tatsache, dass das Land über kein nennenswertes kulturelles Angebot verfügt, lassen sich die Marokkaner von einer Fernsehwelt in Bann ziehen, die nicht einmal die Ihre ist.

Die französischen Loft-Bewohner beurteilt man nachsichtiger und differenzierter. Wobei die Marokkaner finden, dass sie zugleich ganz anders als sie selbst und doch irgendwie genauso sind. Damit wirkt „Loft Story“ letztlich auch noch völkerverbindend. Denn Gefühle wie Eitelkeit und Liebe, Trauer und Wut sind überall gleich: im Frankreich des süßlichen, sterilen, reichen „Loft“ wie in Casablanca.

* Chefredakteur von Le Journal, Casablanca.

Le Monde diplomatique vom 14.06.2002, von YOUNÈS ALAMI