12.07.2002

Die tödliche Langeweile der Donnerstage

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Die tödliche Langeweile der Donnerstage

ES finden ja nicht ständig Massaker statt in Algerien. Und zwischen diesen Gewalttaten schleppen sich die Wochen dahin, langsam und gleichförmig. Die jungen Algerier sterben nachgerade vor Langeweile. Wer sich Abwechslung verschaffen will, braucht viel Geld – denn Geld ist das einzige, was heute noch zählt. Doch selbst wenn man ein paar „Büffel“ übrig hat (Tausenddinarscheine im Wert von etwa 15 Euro), ist die Sache noch nicht geritzt: Die alltäglichen Schwierigkeiten lösen sich am Abend ja nicht einfach in Luft auf.

„Alle, die ihr Leben für Algerien gegeben haben, würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüssten, wie es uns heute geht, nach vierzig Jahren Utopie und heillosem Durcheinander.“ Nassim lebt in Annaba, 600 Kilometer östlich von Algier, und mit 200 Dinar (3 Euro) in der Tasche wird man hier die tödliche Langeweile der Donnerstage nicht los. Das reicht gerade mal für einen Kaffee, ein Sandwich und ein Päckchen algerischer Rym-Zigaretten. Nassim ist arbeitslos, wie 75 Prozent der Algerier unter dreißig. Sein Horizont beschränkt sich auf den trostlosen Innenhof eines grauen Wohnblocks, auf das Gewühl von Annaba und die bunt gemischte Clique seiner „Kumpels“, Arbeitslose wie er; ein paar Frauen sind dabei, modisch gekleidet oder im traditionellen hidschab, dem Schleier. Ich lerne ihn vor einem Internetcafé kennen, und dort wird er auch in einem halben Jahr noch anzutreffen sein. In Algerien muss man sich nicht verabreden – man weiß ja, wo man sich findet. Wer diese Bewegungslosigkeit akzeptiert, kann jedenfalls in Ruhe und Frieden leben.

Nassim zieht es nicht nach Hause. Seine vielköpfige Familie lebt in einer Wohnung von 50 Quadratmetern, und er hat kein eigenes Zimmer. In Annaba gibt es kaum noch kulturelles Leben, kaum Kunstereignisse oder große Veranstaltungen. Einfach nur, um mal aus den Mauern der Innenstadt herauszukommen, haben sich Nassim und seine Freunde in der Mitte eines Verkehrskreisels niedergelassen, mit Stühlen und Dominosteinen. Die Atmosphäre ist entspannt an diesem Abend, man raucht marokkanisches Haschisch, das üblicherweise noch ein wenig mit Henna und Barbituraten gestreckt ist. Ab und an zieht der Duft von Jasmin durch die süßlichen Rauchschwaden. Rauschmittel werden immer beliebter, sie helfen, das tagtägliche Nichts zu ertragen.

Zurück in Algier. Malek wollte seine Freundin Latifa ins Kino einladen. Er hat gerade einen kleinen Job als Wachmann aufgetan. Die Initiative verlief im Sande, weil man ihnen an der Kasse des Ibn-Zeydun-Kinos erklärte, der Film werde nur gezeigt, „wenn wenigstens zehn Zuschauer da sind“. So viele wurden es dann nicht, und Malek und Latifa durften noch ein bisschen flirten, dann mussten sie frustriert den Heimweg antreten, jeder zu seinen Eltern. „Es gibt keinen Ort, wo wir zusammen hingehen können – nach Hause nicht und auch sonst nirgendwohin.“

Malek hat, wie so oft, auf dem Heimweg beim Videoverleih vorbeigeschaut und eine Kassette mitgenommen, um noch etwas von diesem misslungenen Abend zu haben. Latifa, die halbtags als Kellnerin in einem Restaurant arbeitet (für 3 000 Dinar im Monat – etwa 44 Euro), sitzt längst wieder über dem Kreuzworträtsel der französischsprachigen Tageszeitung El Watan. Die hat die umfangreichsten und schwierigsten – damit ist man wenigstens eine Weile beschäftigt. „So bringt man halt den Abend herum. Ich bin 28, und ich finde das doch etwas traurig.“ Latifa hätte sich gern noch mit ihren Freundinnen getroffen: „Aber wo? Auf der Straße vielleicht?“ Wenn junge Frauen in einem Café zusammensitzen und etwas trinken wollen, können sie damit rechnen, von den Männern unverhohlen angestarrt und mit Blicken ausgezogen zu werden – dem wollen sich die wenigsten aussetzen.

Eine andere Szene in Algier. Réda, selbst ernannter Allround-Businessman (das heißt: ein neureicher kleiner Händler), ist ein typischer Vertreter der beggar, jener Algerier, die in den 1990er-Jahren zu Geld gekommen sind. Er fährt einen Peugeot 306 mit Ledersitzen, den er für „unverzichtbar“ erklärt, in einer Hauptstadt, wo man nach 20 Uhr kein Taxi mehr bekommt – wegen des seit 1992 in ganz Algerien geltenden Ausnahmezustands. Für den alltäglichen Stress im Geschäft entschädigt sich Réda mit einem ordentlichen Quantum Wein, Whisky oder Wodka – er will schon gut abgefüllt sein, wenn er abends im Acropole einläuft, einer der drei angesagten Discos in Algier. Selbst in den schlimmsten Jahren des Terrors war dieser Laden immer voll. Damals wurden die Türen um 23 Uhr geschlossen und blieben dann bis sechs Uhr morgens dicht. Hier trifft sich die Jeunesse dorée der Hauptstadt, tobt sich zu Funkrhythmen aus und betrinkt sich mit Alkohol zu 350 Dinar (5 Euro) das Glas. Stockbesoffen erklärt Réda irgendwann, dass er jetzt nicht mehr lange herumhängen dürfe. Morgen früh habe er eine Verabredung zum Tennis.

Samstag fängt eine neue Woche an, und alles wird sein wie immer. Réda wird das Studentenwohnheim für Mädchen von Ben Aknoun belagern, auf der Lauer nach einer Studentin, die auf diese Art der Prostitution angewiesen ist, weil sie vom privatwirtschaftlich umgestalteten Staat pro Vierteljahr gerade mal 2 700 Dinar Ausbildungsbeihilfe erhält. Das sind etwa 40 Euro, und davon kann sie eine Woche leben und sich vielleicht noch zwei Bücher kaufen. Malek wird weiter von Latifa träumen und vom Ende der absurden Trennung der Geschlechter. Und Nassim wird mit seinen Freunden weiter über die schlechten Zeiten und die Langeweile reden und sich in den blühendsten Farben ausmalen, wohin man vielleicht auswandern könnte.

KRIM MOKHTAR

dt. Edgar Peinelt

Le Monde diplomatique vom 12.07.2002, von KRIM MOKHTAR