12.07.2002

Wenn du nach Jerusalem fährst

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Wenn du nach Jerusalem fährst

Von MARIE LUISE KNOTT 

EIN Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ lautete zu Beginn des letzten Jahrhunderts die zionistische Formel – eine fatale Illusion, die bis heute auf gespenstische Weise die Wirklichkeit in Israel geprägt hat. Der Schriftsteller Arthur Koestler reiste in den 20er- und 30er-Jahren nach Erez Israel, das damals noch palästinensisches Mandatsgebiet hieß und in dem Juden wie Araber die gleichen palästinensischen Pässe besaßen.

In seinem Roman „Diebe in der Nacht“ schilderte er die dortige Situation in düsteren Bildern: ein weites Land, in dem Araber und Juden einander misstrauisch belauern und die Araber den Neuankömmlingen nicht selten nach dem Leben trachten. Koestlers Kibbuzim erinnern an Wehrdörfer, und wenn ein Jude seine Siedlung verlassen will, benötigt er bewaffneten Begleitschutz. Erez Israel lag in Feindesland.

Heute, fünfzig Jahre nach der Staatsgründung, besteht für Israelis die einzige uneingeschränkte Bewegungsfreiheit darin, das Land verlassen zu können. Doch wer kann sich das schon leisten. Für die, die bleiben, sind die Bewegungsräume – die realen wie die mentalen – in den letzten Jahren immer kleiner geworden.

Die Selbstmordattentate haben den öffentlichen Raum zum gefährlichen Terrain gemacht. Jeder zieht um sich und die Familie eine unsichtbare Mauer; jeder Schritt, der über sie hinausführt, folgt festen, auf eigenen Ängsten und Wahrnehmungen beruhenden Reglementierungen. Auch jetzt in der warmen Jahreszeit, wenn sich die Attentäter nicht so leicht mit weiten dicken Jacken tarnen können, wird jeder Besucher mit diesen Schutzritualen vertraut gemacht: Fahr niemals Bus, gehe nur in Cafés, deren Eingänge von Sicherheitskräften bewacht sind, und achte darauf, dass sie bewaffnet sind. Sitzt man im derart waffengesicherten Gartenlokal, kann es passieren, dass plötzlich fünf junge hektische Sicherheitsmänner auftauchen, weil draußen ein verdächtiges Auto steht. Für Momente sind alle vor Angst wie gebannt; die Bilder zerfetzter Menschen sind plötzlich gegenwärtig.

Keinen Augenblick fällt die enorme innere Spannung von einem ab. Wie geladen die Menschen sind, erfuhr auch der Pianist Andras Schiff, als er kürzlich sein Konzert in Jerusalem mitten im langsamen Beethoven-Satz wegen des ständigen nervösen Hüstelns und Räusperns unterbrechen musste.

Doch wer kann schon auf den Bus, wer möchte schon auf Café, Kino oder Konzert verzichten? Bei vielen Ehepaaren hat sich im Laufe der Zeit die innere Ambivalenz zwischen lähmender Angst und „trotzigem“ Weiterleben auf die Partner verteilt: Ist der eine eher ängstlich, wird der andere im Schutze der strengen Regelungen wagemutiger. Nur die Jugendlichen widersetzen sich der Freiheitsberaubung. Sie fahren Bus, sie gehen in die Disco, gerade so, als läge ihnen nichts am Leben. Doch gerade deswegen hegen sie einen umso tieferen Hass auf die Palästinenser: weil die sie nötigen, Tag für Tag so zu tun, als achteten sie ihr Leben gering. Die Jugendlichen attackieren ihre liberalen Eltern, wenn diese die Gewalt Scharons gegen die Palästinenser kritisieren. „Ihr sorgt euch immer nur um die, nie um uns“, schimpft der 14-jährige Sohn beim Abendessen. „Sie wollen uns alle ins Meer schmeißen, und ihr verteidigt sie noch!“

Die zweite Begrenzung des realen Bewegungsraums für Israelis ist das beständige Umgehen arabischer Orte und Viertel. Jüdische Israelis betreten den arabischen Teil Jerusalems schon länger nicht mehr; nicht so sehr, weil sie um ihr Leben fürchten müssten, sondern weil sie unerwünscht sind. Vorbei sind die Zeiten, da man sich mit Palästinensern traf, um die Ecke im arabischen Viertel einkaufen ging oder in den besetzten Gebieten sein Auto reparieren ließ.

Auch die mentalen Bewegungsräume schrumpfen. Der „Andere“, der Palästinenser, verschwindet aus dem Bereich des Einfühlungsvermögens. Freund oder Feind lautet das Schema auf beiden Seiten. Damit ist es nicht mehr möglich, das Leiden des „Anderen“ wahrzunehmen und für wahr zu halten.

Da mit jeder Kritik an Israel der Antisemitismus im Ausland zu wachsen droht, schreibt der Politologe Daniel in deutschen Zeitungen längst nicht mehr, was er hört und denkt, sondern das, was er möchte, dass wir in Deutschland hören und denken. In Israel redet er mit seinen Studenten über das, was er möchte, dass seine Studenten, die gerade vom Militär kommen oder bald wieder zum Militär gehen, erfahren und denken. Auch wenn er nicht mehr frei spricht, ist sein geistiger Bewegungsraum relativ groß, verglichen mit den vielen, die sich angesichts der bedrohlichen Lage ohnmächtig in Schweigen hüllen. Ohnmächtig, weil sie sich ausgeliefert fühlen – der Allesbezwingenden Logik Scharons und der wahnhaften Logik der Attentäter. Je mehr Israel in die Kritik gerät, je mehr es sich durch das eigene Handeln isoliert, desto erbitterter wird das Schweigen. Kaum jemand redet darüber oder möchte hören, was in den besetzten Gebieten tagtäglich geschieht. Journalisten, die es dennoch beschreiben, werden bedroht. Das Wissen ist politisch wie menschlich eine Anfechtung, zumal die eigenen Ehemänner, Brüder oder Söhne „dort“ Dienst tun.

Die mentale Bewegungsfreiheit, die palästinensische Wirklichkeit noch in ihrer Gänze wahrzunehmen, diese Freiheit nehmen sich die meisten Israelis nicht. Doch es gibt sie, die Checkpoint-Watchers und andere Menschenrechtsgruppen, die Öffentlichkeit herstellen und die Schikanen des Militärs gegen Palästinenser anprangern und mildern.

Die Einsamkeit der Schweigenden ist das Gegenstück zur Einsamkeit all jener, die über die Besetzung und den Vandalismus reden. Sie schämen sich für ihr Volk, wenn sie erzählen, wie israelische Soldaten Moscheen und Arztpraxen mit ihrem Kot beschmutzen. Wie Soldaten Krankenakten vernichten, Behörden verwüsten und Wohnungen demolieren, nach dem Motto: demütige und vertreibe. Methoden wie in Tschetschenien, kommentiert eine Russin lakonisch.

Fast zehn Jahre nach Oslo sind die Palästinenser in den „Autonomiegebieten“ ein Volk von Eingesperrten. Die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit ist konkret. In den kleinen, manchmal nur aus einem Zimmer bestehenden Wohnungen sitzen die Kinder völlig apathisch am Tisch. Wie sollen sie sich bewegen? Entweder herrscht Ausgangssperre. Wenn nicht, muss man befürchten, dass die Kinder beim Spielen auf Minen treten oder bei einem der zahlreichen „kleinen“ Zusammenstöße zufällig erschossen werden.

Aber die Willkür an den Checkpoints und Straßensperren, wo Passanten abgewiesen oder für Stunden festgehalten werden, ist nur das eine; hinzu kommt die sich ausweitende Passierscheinregelung der israelischen Verwaltung, die den Bewegungsraum der Palästinenser systematisch verringert. Schon jetzt kommt man in einzelnen Gegenden nicht ohne Genehmigung von einem Dorf ins nächste. Doch selbst dort, wo noch keine Passierscheine eingeführt sind, kann jede notwendige Fortbewegung zum lebensgefährlichen Abenteuer werden. Ein Mann, der seine vor kurzem operierte kranke Mutter aus einem sieben Kilometer entfernten Dorf nach Ramallah zur regelmäßigen Nachuntersuchung bringen will, hat zwei Möglichkeiten: Er kann eine unbezahlbar teure Ambulanz rufen, die nach tagelangen Verhandlungen mit der Armee schließlich nach 60 Kilometern Umweg vielleicht 8 Stunden später in Ramallah ankommen wird. Oder er kann versuchen, seine Mutter unter Lebensgefahr auf dem Rücken zu schleppen, über Gräben, Stacheldraht und an den Patrouillen vorbei.

Die israelische Gesellschaft zerfällt derweil in kleine Inseln, auf denen Familien und peer-groups miteinander versuchen, in diesen finsteren Zeiten Anstand und Würde zu bewahren. Besucher, die von außen kommen, werden freundlich auf diese Inseln eingeladen. Jeder bastelt an seiner eigenen Erzählung der Wirklichkeit, mit Versatzstücken aus der Herkunftskultur, aus eigenen Erfahrungen, aus dem Holocaust-Erbe und dem Überlebenswunsch. Dabei ist immer wieder der Stolz auf dieses Land zu spüren, die Liebe zu seiner Schönheit – und zu seiner faszinierenden Vielfalt der Menschen und Kulturen. Mit Stolz zeigt man den Besuchern die Bauhausvillen in Haifa und erklärt ihnen mit Trauer: Wenn du nach Jerusalem fährst, achte darauf, wo immer du in der Landschaft eine Gruppe von Palmen siehst, stand einmal ein arabisches Dorf.

„Ein Heim, das mein Nachbar nicht anerkennt, ist kein Heim. […] Ein Jüdisches Nationalheim, das von dem Nachbarvolk nicht anerkannt und nicht respektiert wird, ist kein Heim, sondern eine Illusion – bis es zu einem Schlachtfeld wird“, schrieb Hannah Arendt 1945.

Alle sind einsam, doch statt ein Gespräch der Verzweifelten zu führen, macht sich jeder seinen eigenen Reim. Eine Tochter von Auschwitz-Überlebenden, die bei früheren Deutschland-Besuchen in den Gesichtern der Passanten die willigen Vollstrecker entdeckte, glaubt heute zu verstehen, wie es kommt, dass Menschen schweigend wegsehen. Was sie umso mehr erbittert, da Israel ein demokratischer Staat ist. Die extreme Einsamkeit, in die sich alle mit ihren teils spektakulären und äußerst spekulativen Interpretationen der Wirklichkeit verschanzen, hat auch damit zu tun, dass die meisten angesichts von Verhältnissen, die einen Teil der Bevölkerung völlig entrechten, mit sich nicht mehr im Reinen leben können.

In den 90er-Jahren, als die politische Lage mehr mentalen Bewegungsraum bot, verfasste der israelischer Philosoph Avishai Margalit eine Abhandlung über die moralische Verfasstheit von Gesellschaften. Ausgehend von einer Politik, die auf Würde und Achtung basiert, definierte er eine „anständige Gesellschaft“ dadurch, dass in ihr niemand durch Institutionen gedemütigt werde. Es war die Zeit, als man sich in Israel erstmals öffentlich mit der Vertreibung der Palästinenser im Jahr 1948 auseinander setzte.

Heute hört man in Israel Sätze wie: „I think we were rather fair in Jenin.“ Um die verfehlten Massaker-Vorwürfe aus dem Ausland abzuwehren, greift der Redende unversehens – wie in Notwehr – zu dem gleichermaßen verfehlten Begriff „fair“. Eine hilflose Form, Maßstäbe aus der „anständigen“ Welt, die man eigentlich verteidigen möchte, hineinzuverpflanzen in eine Welt, in der die eigenen Maßstäbe keinen Raum mehr finden.

Le Monde diplomatique vom 12.07.2002, von MARIE LUISE KNOTT