09.08.2002

Gleiches Recht auf Nevirapin

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Gleiches Recht auf Nevirapin

ALS die elf Richter den Saal betreten, wird es in dem kleinen Zuschauerraum des Verfassungsgerichtshofs in Johannesburg mucksmäuschenstill. Alle spüren den historischen Augenblick. An diesem 2. Mai beginnt die Zeugenvernehmung im „Nevirapin-Prozess“. Gesundheitsministerin Manto Thabalala-Msimang hat in der Nähe der TAC-Aktivisten (Treatment Action Campaign) Platz genommen. Die Fernsehkameras verlassen den Saal. Draußen demonstrieren tausende Menschen aus den umliegenden Townships für die „Rettung der Babys“. Anti-Apartheid-Kampflieder – mit abgewandeltem Text – begrüßen die Redner. Es sprechen der neue Erzbischof von Kapstadt, Monsignore Njongonkulu Ndungane, Vusi Nhlapo von der Cosatu, der größten Gewerkschaft des Landes, TAC-Präsident Zackie Achmat, aber auch die Abgeordnete Patricia de Lille, die bereits mit einer Parlamentsrede Aufsehen erregt hat, in der sie ihre Kollegen polemisch fragte, wieso die antiretroviralen Arzneimittel für die Armen „schädlicher“ sein sollen als für Parlamentarier.

Drei Tage lang sind die Anwälte der Regierung und der Aidskranken einem Sperrfeuer an Fragen ausgesetzt. Die TAC hatte die Angelegenheit letztes Jahr vor den Obersten Gerichtshof des Landes gebracht, weil die Regierung die Entscheidung über die Verhütung der Mutter-Kind-Übertragung immer wieder hinausschob. Im öffentlichen Gesundheitssektor war die Prophylaxe mit Ausnahme von 18 Pilotprojekten verboten. Zehntausende Kinder kamen infiziert zur Welt. Der Oberste Gerichtshof verpflichtete die Regierung damals, einen nationalen Aktionsplan gegen die Mutter-Kind-Übertragung auszuarbeiten und gestattete den Ärzten einstweilen, Nevirapin zu verschreiben. Daraufhin beschloss die Regierung, den Verfassungsgerichtshof anzurufen. Ihre Argumente: Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs verstoße gegen das Prinzip der Gewaltenteilung, im Übrigen sei sie vorschnell erfolgt, denn das Regierungsprogramm habe kurz vor der Beschlussfassung gestanden.

Vor den Verfassungsrichtern klingt die Argumentation der Regierung nicht sehr überzeugend. Der Anwalt der Regierung sucht mühsam nach Worten. Eine Woche zuvor hatte das Gesundheitsministerium zur allgemeinen Verwunderung verkündet, die Aidsbekämpfungsstrategie der Regierung sei in der Öffentlichkeit falsch verstanden worden. „Ein allgemeiner Aktionsplan zur Verhütung der Mutter-Kind-Übertragung durch Nevirapin ist für die Zeit nach dem Dezember 2002 in Vorbereitung“, hieß es in der einseitigen Zeitungsannonce. Merkwürdig, dass der Regierungsanwalt der „Linie“ folgt, die seine Klientin offenbar gerade aufgegeben hat.

Edwin Cameron, einer der Architekten der neuen südafrikanischen Verfassung, lehrt an der juristischen Fakultät der Universität Witwatersrand. Cameron gehörte selbst für zwei Jahre dem Verfassungsgericht an. Heute ist er froh, dass die aus dem ANC hervorgegangene Regierung die „sozioökonomischen Rechte“ anerkennen muss, die der ANC „aus freien Stücken“ in die Verfassung aufgenommen sehen wollte. Das 1997 endgültig verabschiedete Grundgesetz schreibt nicht einfach nur „das Recht aller auf Wasser, Gesundheit und Bildung“ fest. „Es enthält vielmehr eine positive Verpflichtung der Regierung, diese Rechte auch – im Rahmen der fiskalischen Möglichkeiten – durch konkrete Maßnahmen schrittweise zu verwirklichen. Die Gerichte sind verfassungsmäßig befugt, das Regierungshandeln zu bewerten. Das ist der eigentlich zentrale Punkt im Nevirapin-Streit.“

Über das laufende Verfahren will sich Cameron nicht näher äußern. Der Verfassungsrechtler hat 1993 das Aids Law Project initiiert, eine Arbeitsgruppe aus Universitätsangehörigen und Aktivisten, die sich mit den rechtlichen Aspekten von HIV/Aids beschäftigt. Bei seiner Anhörung zu der Frage, ob er als Verfassungsrichter mit der Nevirapin-Entscheidung befasst sein könne, outete er sich zur allgemeinen Überraschung als HIV-Infizierter und empörte sich, dass die antiretroviralen Medikamente, die ihn am Leben hielten, im öffentlichen Gesundheitssektor nicht verfügbar sind.

Angesichts der „schrecklichen Diskrepanzen zwischen Armen und Reichen, Weißen und Schwarzen, Männern und Frauen“ interessiert den Rechtswissenschaftler vor allem die Frage, ob eine Rechtskonstruktion den Abbau der gravierenden Ungleichheiten im Land vorantreiben und den Zugang zu Wohnraum, Land, Gesundheit usw. fördern kann. Genau dies war die Intention der Kommission, die den Regimewechsel 1994 ausgehandelt hatte, meint Cameron und fragt sich heute: „Wird die Verfassung ihr Versprechen halten, Gleichheit zu schaffen, oder wird sie sich, wie so viele andere wunderbare Schriftstücke, als nutzlos erweisen? Immerhin ist der Verfassungsgerichtshof mit 20 bis 30 Entscheidungen im Jahr und einer umfassenden Rechtsprechung seit 1994 redlich bemüht, das revolutionäre Potenzial der Verfassung mit Leben zu erfüllen.“

Die Befugnisse und Zuständigkeiten des südafrikanischen Verfassungsgerichts gehen tatsächlich sehr weit. Die Richter können jedes Gesetz überprüfen, bis zu zwanzig Jahren nach der Verabschiedung. Sie können in jedem Einzelfall angerufen werden, haben also die Möglichkeit, sich nicht nur mit den Gesetzen, sondern auch mit deren Umsetzung zu befassen. Einer der Verfassungsrichter betont: „Mandela hat in seiner Antrittsrede 1994 betont, das Land wolle ‚kein Brot ohne Freiheit, aber auch keine Freiheit ohne Brot‘. Deshalb setzte sich der ANC für die Aufnahme und Durchsetzbarkeit sozioökonomischer Rechte ein. Die Verfassung bringt auf diese Weise zur Geltung, was der Sinn des Menschseins ist. Die südafrikanische Zulu-Sprache hat dafür das Wort ubuntu: ‚Ich bin ein Mensch, weil du ein Mensch bist‘.“

Ph. R.

Le Monde diplomatique vom 09.08.2002, von Ph. R.