Migrationsblockaden und Kapitalströme
Von NIELS KADRITZKE
WIE sich die Zeiten ändern. Über Jahre hatte der Hochsommer an der griechisch-türkischen Grenze stets denselben völkerrechtlichen Konflikt ausgebrütet. Wenn am Grenzfluss das Wasser fiel, traten Sandbänke zu Tage, die beide Seiten – mit aufgepflanzten türkischen oder griechischen Fahnen – für sich reklamierten.
In diesem Sommer ist alles anders. Als Ende Juni auf einer Sandbank 30 Männer, Frauen und Kinder um Hilfe riefen, wurde die Flussinsel schlagartig zum Niemandsland. Keine Seite wollte das flüchtige Territorium für sich reklamieren. Niemand fühlte sich für die von türkischen Schleusern ausgesetzten Menschen zuständig. Die Griechen erbarmten sich erst, als einige Flüchtlinge bei dem Versuch, ihr Ufer zu erreichen, fast ertrunken wären.
Die Migrationsströme stellen die Logik traditioneller Grenzkonflikte auf den Kopf. Reiche Staaten geben sogar ihre Randgebiete auf, wenn sie damit Armutsflüchtlinge auf Abstand halten können. Australien hat seine Inseln in der Torresstraße zur exterritorialen Zone erklärt, um einen Cordon sanitaire gegen die Migration aus Neuguinea zu gewinnen. Wo es keine Puffer gibt, entstehen Grenzregime, die an den Eisernen Vorhang zwischen Ost und West erinnern. Zwischen den Norden und den Süden unserer Welt schieben sich Grenzanlagen mit Infrarotlicht und Elektro-Stolperdrähten. Sie sollen die Ordnung und den Wohlstand der reichen Welt vor dem Ansturm der Armutsflüchtlinge schützen. Am Hightech-Limes zwischen den USA und Mexiko sterben Jahr für Jahr mehr Menschen als im tödlichsten Jahr der Berliner Mauer.
Auch die Zukunftsvision der Europäischen Union ist geprägt von Belagerungsängsten. Mit der Osterweiterung geht der Ausbau zu einem Bollwerk gegen den ferneren Osten einher. Die Beitrittsländer werden verpflichtet, ihre Außengrenzen flüchtlingsabweisend zu imprägnieren. Auf dem letzten EU-Gipfel war die Abwehr unerwünschter Zuwanderer das große Thema. Großbritannien und Spanien wollten sogar die Entwicklungshilfe für arme Länder streichen, die illegale Immigranten nicht zurücknehmen wollen.
Das Konzept „Peitsche ohne Zuckerbrot“ war in Sevilla noch nicht mehrheitsfähig, aber es gibt die Richtung vor. Schon hat die Regierung Berlusconi beschlossen, von jedem Nicht-EU-Ausländer als Gegenleistung für die Aufenthaltsgenehmigung einen Fingerabdruck zu verlangen –jeder Migrant ein potenzieller Krimineller.
Die reiche Welt, die der armen Welt die Segnungen der Globalisierung aufdrängt, macht ihre Grenzen dicht. Wir wohnen doch alle im selben Dorf, behaupten die Verkünder des global village. Doch für Migranten, die aus der Wüste der Unterentwicklung in die Oasen des Wohlstands streben, ist die Idylle eine Fata Morgana. Im global village stoßen sie überall auf elektrische Gartenzäune. Dieses Grenzregime steht für den Grundwiderspruch der Globalisierungslehre. Die grenzenlose Mobilität, die angeblich dafür sorgt, dass alle ökonomischen Faktoren ihren produktivsten Platz finden, gilt für Waren und Geld, nicht aber für menschliche Arbeitskraft. Das vagabundierende Kapital wird als universaler Träger des globalen Wirtschaftswunders vergöttert, der vagabundierende Mensch als „Wirtschaftsflüchtling“ verteufelt. Dabei nimmt er nur die neoliberale Heilslehre beim Wort und will seine Arbeitskraft weltweit anbieten. Er wird mobil, weil er anderswo mehr verdienen kann als zu Hause.
Wie gehen die Missionare der Globalisierung mit diesem Widerspruch um? Prinzipiell haben sie zwei Optionen. Die erste besteht darin, den Widerspruch anzuerkennen und Modelle vorzuschlagen, die ihn überwinden. Das tun eher zaghaft die Politiker, die eine „intelligente“ Migrationspolitik vorschlagen: Wir holen indische Computerspezialisten ins Land, um eine Lücke auf dem Arbeitsmarkt zu füllen. Konsequenter sind die Dogmatiker, die ein strikt marktwirtschaftliches Einwanderungsregime vorschlagen. Ihre Lieblingsidee ist das Auktionsmodell: Arbeitsplätze im Norden werden meistbietend an Bewerber aus dem Süden versteigert. Der Staat soll dieselben Marktgesetze nutzen, die den Schleuserbanden ihre Höchstpreise für kriminellen Dienstleistungen garantieren. Mit dem Unterschied, dass der Einwanderer per staatlicher Auktion eine legale Existenz erwirbt. Das nutzt der heimischen Volkswirtschaft, weil der legale Immigrant wie ein Wilder arbeiten wird, um sein Eintrittsgeld abzuzahlen.
Pragmatiker wie Modelltheoretiker haben dasselbe Ziel im Auge. Die Einwanderung dient den reichen Gesellschaften. Die Motive und Interessen der Armutsmigranten spielen keine Rolle. Das gilt auch für die zweite Reaktion auf den Grundwiderspruch der Globalisierungsideologie. Man vergisst die reine Lehre und verweist auf die schnöde Wirklichkeit: Die massive Zuwanderung von Fremden wirkt destabilisierend; sie gefährdet die kulturelle Identität und den sozialen Zusammenhalt; mit armen Einwanderern wird Armutskriminalität importiert und so weiter. Die meisten dieser Argumente sind richtig und in jeder Gesellschaft ernst zu nehmen.
In jeder Gesellschaft. Und hier liegt das intellektuelle und moralische Defizit, das die „realistischen“ Bedenken offenbaren: Sie sind selektiv. Dieselben Bedenken sind nicht zu vernehmen, wenn die Folgen der Globalisierung der Waren- und Finanzmärkte ganze Gesellschaften des Südens destabilisieren. Auch die Asienkrise von 1997 hat bekanntlich den sozialen Zusammenhalt und die kulturelle Identität der betroffenen Länder nicht unversehrt gelassen. Doch wenn die Regierung eines betroffenen Landes mit Abschottung reagiert, wird sie von der Globalisierungsaufsichtsbehörde IWF abgestraft. Schutzmaßnahmen von armen oder Schwellenländern gegen destruktive Folgen der unbeschränkten Waren- und Kapitalströme gelten als Verstoß gegen die universale ökonomische Lehre – und nicht als Ausdruck legitimer Selbstbehauptung wie die Hightech-Zäune der reichen Länder.
Dabei sind die Wirkungen des vagabundierenden Kapitals für die aufnehmenden Länder weit tiefgreifender und in der Regel auch krimineller: „Die Liberalisierung des Kapitalmarkts liefert die Entwicklungsländer auf Gedeih und Verderb den … Launen der Investoren aus, ihrem irrationalen Überschwang und ihrem Pessimismus.“ So lautet das Fazit des Ökonomen Joseph Stiglitz nach seinen Erfahrungen im Innern der Weltbank. Das jüngste Opfer dieser Launen ist Argentinien, das binnen kurzem vom Schwellenland zum Entwicklungsland regrediert ist. Heute lebt die Hälfte der Argentinier unterhalb der Armutsgrenze und die Menschen emigrieren in hellen Scharen. Die Krise hat das klassische Einwanderungsland zum Auswanderungsland gemacht.
Selbst die Prediger des Neoliberalismus, die eine positive Gesamtbilanz der Globalisierungs- und Deregulierungsfortschritte aufmachen, müssen zugeben, dass sich die sozialen Gegensätze verschärft haben, und zwar sowohl zwischen den reichen und den armen Ländern als auch innerhalb der ärmsten Gesellschaften. Diese doppelte Polarisierung ist die Hauptursache der globalen Migrationsströme, die im Übrigen zum größten Teil zwischen den armen und den ganz armen Regionen des Südens verlaufen. Nur ein Nebenfluss dieses Menschenstroms erreicht überhaupt den Norden.
Doch in der reichen Welt erzeugt schon die begrenzte Menschenmenge, die gegen ihren Hightech-Limes andrängt, eine panische Angst vor der Idee des grenzenlosen, globalen Arbeitsmarktes. Diese Idee ist in der Tat keine besonders gute. Sie würde nicht nur eine soziale Belastungsprobe für die reiche Welt bedeuten, sondern auch eine entwicklungspolitische Kapitulation in und gegenüber der armen Welt. Aber der verängstigte Norden wehrt sich gegen die soziale Zumutung mit einem Argument, das wir uns näher ansehen müssen. Offene Grenzen für die Menschen seien niemals mehrheitsfähig, lautet das Argument. Damit beruft es sich auf den heiligsten aller Werte, die Demokratie.
Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn dieser Wert dieselbe globale Geltung hätte wie die der Dow-Jones-Index. Doch in Sachen Demokratie denken die Globalisierungsfanatiker keineswegs universal, sondern höchst selektiv.
Ein Beispiel bietet erneut Lateinamerika, wo die argentinische Krankheit auf die Nachbarn überzugreifen droht. In Brasilien, wo 50 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, stehen Präsidentschaftswahlen an. Angesichts der ökonomischen Misere hat der Kandidat der Linken, der Gewerkschafter Lula da Silva, gute Aussichten, denn er steht für die Interessen der Bevölkerungsmehrheit.
Der Sieg Lulas wäre ein Sieg der Demokratie und eine Niederlage der Globalisierungsgewinner. Das wissen seine Gegner. Deshalb drohen sie den brasilianischen Wählern, die ausländischen Investoren könnten Brasilien vollends im Stich lassen. Ob die Erpressung wirkt, werden die Wahlen zeigen. Doch die Strategen der Finanzströme haben erneut demonstriert, dass sie die Demokratie für ein Luxusgut halten, das eigentlich nur der reichen Hälfte des global village zusteht. In der armen Hälfte hingegen ist Demokratie schädlich, wenn die Gefahr besteht, dass eine Mehrheit der Wähler gegen die schlimmsten Globalisierungsfolgen und damit gegen die Interessen der internationalen Anleger zu mobilisieren ist.
Solche Interessenlagen erklären, warum für die reichen Länder, die den unbeschränkten Export von Waren, Dienstleistungen und Kapital als Fortschritt schlechthin feiern, die Demokratie kein förderungswürdiges Exportgut ist. Auch nicht nach dem Zusammenbruch des irrealen Sozialismus, der die „Systemkonkurrenz“ beendet hat, die unkeusche Allianzen mit Diktatoren der Dritten Welt rechtfertigen konnten. Doch auch für die Weltordnung nach 1989 gilt, dass aus Sicht des Nordens demokratische Verhältnisse im Süden im Zweifel unproduktiv sind. Denn sie sind das einzige Mittel, mit dem sich gesellschaftlich destruktive Globalisierungskosten eindämmen lassen.
Vielleicht begreifen die Menschen im globalen Norden solche Zusammenhänge erst, wenn noch mehr Migranten aus dem Süden gegen ihre Hightech-Grenzzäune drücken. Aber es kann noch lange dauern, bis ihre Ängste statt panischer Reaktionen ein paar vernünftige Einsichten auslösen. Eine positive Wirkung könnte die Flüchtlingsdrohung allerdings schon heute erzielen. Sie könnte friedenstiftend wirken. Zum Beispiel wäre der Streit zwischen Marokko und Spanien um die Petersilieninsel leicht zu vermeiden gewesen. Statt sechs Soldaten hätten die Marokkaner sechzig Migranten auf dem Eiland absetzen sollen, die statt einer marokkanischen Flagge sechzig Asylanträge hissen. Der Anblick hätte selbst die spanische Armada in die Flucht geschlagen.