Ziel Bagdad
Von ALAIN GRESH
ER hat gegen sein eigenes Volk und gegen seine Nachbarn Chemiewaffen eingesetzt.“ – „Er hat seine Nachbarn überfallen.“ – „Er hat Millionen seiner Mitbürger getötet.“ George W. Bushs nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice listet in der BBC am 15. August 2002 die „unwiderstehlichen“ Argumente auf, weshalb die Vereinigten Staaten im Irak intervenieren und Staatspräsident Saddam Hussein stürzen müssten. Die Fakten sind nicht von der Hand zu weisen: Im September 1980 marschierte der Irak im Iran ein, und als Schwierigkeiten auftauchten, setzte das Regime tatsächlich Chemiewaffen ein. Später, im März 1988, ließ Saddam Hussein in Halabja 5 000 irakische Kurden vergasen. Trommelte Washington damals zum Kreuzzug gegen den „blutrünstigen Tyrannen“?
Wie die amerikanische Presse jüngst bestätigte, versorgte eine Gruppe von rund 60 US-Offizieren den irakischen Generalstab vielmehr mit „detaillierten Informationen über die Aufstellung der iranischen Streitkräfte“ und erörterte Schlachtpläne mit den irakischen Militärs. Als die Berater von den Gaseinsätzen erfuhren, hatten sie nichts dagegen einzuwenden, angeblich, so liest man in der New York Times vom 18. August, „weil sie dachten, der Irak kämpfe um sein Überleben“.
Bereits 1984 hatte die Reagan-Administration wieder diplomatische Beziehungen zu Bagdad aufgenommen, die seit dem Sechstagekrieg 1967 unterbrochen waren. Und der Irak, der im Westen zum Bollwerk gegen die „islamische Revolution“ avancierte, wurde von der Liste der Länder, die den Terrorismus unterstützen, gestrichen. George Bush sen. unterzeichnete kurz nach seinem Amtsantritt im Januar 1989 eine Direktive, deren Zynismus nur von ihrer Dummheit übertroffen wurde: „Normale Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Irak dienen unseren langfristigen Interessen und tragen zur Stabilität in der Golfregion und im Nahen Osten bei. Wir müssen dem Irak Anreize bieten, sein Verhalten zu mäßigen, und unseren Einfluss auf das Land stärken.“
Es war die Zeit, da amerikanische Firmen mit Zustimmung des US-Außenministeriums Material zur Herstellung bakteriologischer Waffen in den Irak exportierten, wie man im Bericht des US-Senats nachlesen kann (William Blum, „What the New York Times left out“, Znet Commentary, 20. August 2002.) Doch so sehr sich die „Internationale Gemeinschaft“ in den Neunzigerjahren für die Geschichte des irakischen Programms zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen interessierte, so wenig konnte ihr daran gelegen sein, den ausländischen Unternehmen auf die Spur zu kommen, die Bagdad nach Kräften unterstützten. Angefangen von den Vereinigten Staaten über Frankreich bis hin zu Deutschland waren einfach zu viele westliche Regierung in die irakischen Rüstungsanstrengungen verwickelt.
Inzwischen wird in den Vereinigten Staaten der Sturz Husseins mit militärischen Mitteln debattiert, dabei geht es jedoch nicht um das Ob, sondern um das Wie einer Intervention. Die Frage ist nicht: „Sollen wir losschlagen?“, sondern: „Wie sollen wir es anstellen?“. Die arabischen Verbündeten – ohnehin provoziert durch die Straffreiheit für die Regierung Scharon – haben ebenso Vorbehalte wie die europäischen Partner. Aber das wird den Beginn des „ersten Präventivkrieges“ im 21. Jahrhundert sicher nur hinauszögern.
OFFIZIELL zielt die Operation gegen Bagdads Massenvernichtungspotenzial. Die am 3. April 1991 verabschiedete Resolution 687 des UN-Sicherheitsrats, daran sei hier erinnert, verlangt vom Irak einschneidende Abrüstungsschritte. Punkt 14 des Beschlusses bezeichnet die Abrüstungsmaßnahmen als Teil einer „Initiative“ mit dem Ziel, im Mittleren Osten eine Zone zu schaffen, die frei von Massenvernichtungswaffen und Trägerraketen ist.
Von einer „Initiative“ für die gesamte Region konnte nie die Rede sein. Alles konzentrierte sich auf den Irak. Das Land wurde einem mörderischen Wirtschaftsembargo unterworfen, das die Bevölkerung aushungert, die Gesellschaft in den Ruin treibt und das Regime der Baath-Partei stärkt. Beeindruckende Arbeit verrichteten in den Jahren 1991 bis 1998 die UN-Inspekteure. Sie sorgten dafür, dass der Irak sein Atomprogramm abwickelte, fast alle Raketensysteme verschrottete und sein Chemiewaffenarsenal zu großen Teilen abbaute. Ein langfristiges Kontrollsystem mit dutzenden von Videoüberwachungsanlagen wurde aufgebaut. Man war auf dem besten Weg zur Abrüstung und zur Beendigung des Embargos. Doch Washington hatte in Wahrheit andere Ziele.
Rolf Ekeus, der von 1991 bis 1997 die UN-Inspektion im Irak leitete, enthüllte in der Financial Times vom 30. Juli 2002, dass die Vereinigten Staaten die Inspektoren nicht nur für Spionagezwecke missbrauchten, sondern sie auch „unter Druck setzten, Aufträge auszuführen, die auf den Widerstand der irakischen Seite treffen mussten, um die Situation auf diese Weise zu blockieren und eine Rechtfertigung für eine direkte Militäraktion zu schaffen“. Im Dezember 1998 war es so weit. Washington beschloss, den Irak ohne UN-Zustimmung zu bombardieren, so dass die Inspektoren das Land verlassen mussten. Seither unterliegt das irakische Rüstungsprogramm keiner Kontrolle mehr.
Heute wie gestern ist dem Weißen Haus weniger an einer Rückkehr der Inspektoren gelegen als an einem Vorwand für ein militärisches Abenteuer. Zu befürchten ist, dass sich die Kluft zwischen der muslimischen Welt und dem Westen dadurch weiter vertieft. Wer weiß, wie sich eine solche Unternehmung auf die Region auswirken würde, die schon jetzt durch die Offensive der israelischen Regierung gegen die Palästinenser erschüttert wird? Brent Scowcroft, ehemaliger Berater von US-Präsident George Bush sen., warnt im Wall Street Journal Europe vom 15. August: „Israel wäre wie 1991 das erste Opfer eines Krieges. […] Dieses Mal könnte der Einsatz von Massenvernichtungswaffen einen israelischen Gegenschlag nach sich ziehen, möglicherweise unter Einsatz von Nuklearwaffen, was für den Nahen Osten ein Armageddon bedeuten würde.“