11.10.2002

Wilna zwischen Ignalina und Potemkin

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Wilna zwischen Ignalina und Potemkin

LITAUEN sagte sich 1990 als erste Republik von der Sowjetunion los. Damit sich das Trauma der Besatzung nie wiederholt, wollen die Litauer nicht noch einmal zwischen zwei Machtblöcke geraten. Die meisten sehen eine stabile Eigenständigkeit durch eine starke Einbindung in Europa garantiert. Die EU-Skeptiker sehen darin zwar eine paradoxe Argumentation, aber sie werden ohnehin immer weniger. In Brüssel gilt Litauen – wie die anderen baltischen Republiken – als folgsamer Schüler in der Beitrittsklasse. Und dennoch fällt es den Litauern schwer, einige Forderungen zu akzeptieren, die das Land stark verändern werden. Doch sie haben keine andere Wahl, wenn sie über die EU-Zukunft mit entscheiden wollen.

Von RUTH LEISEROWITZ *

„Auch wir sind Europa“, titelte eine sowjetlitauische Zeitung im Sommer 1989. Das klang trotzig, fordernd und zugleich illusionär. Kaum jemand in Wilna, Kaunas und Klaipeda glaubte damals, dass die kleine baltische Sowjetrepublik bald ihre Unabhängigkeit wiedererlangen könnte. Doch dann setzte eine unerhörte Dynamik ein: Noch 1989 wagten die litauischen Kommunisten als Erste den Austritt aus der KPdSU, 1990 deklarierte die Republik Litauen die Wiederherstellung ihrer Unabhängigkeit, 1991 folgten die weltweite Anerkennung und die Aufnahme in die UNO, 1993 zog das ehemals sowjetische Militär endgültig ab.

Ähnlich rasch verliefen die Entwicklungen in den baltischen Schwesterrepubliken Estland und Lettland. Als Estland im März 1998 „bevorzugt“ in die erste EU-Beitrittsrunde aufgenommen wurde, stachelte das nur den Wettbewerb unter den baltischen Republiken an – übrigens zum Nutzen Lettlands und Litauens, wie die derzeitigen Zwischenberichte zeigen. Litauen hat kräftig aufgeholt und konnte im Juli 2002 genau wie Estland 28 der geforderten 30 Verhandlungskapitel abschließen. Nun ist der EU-Beitritt für das Jahr 2004 vorgesehen.

Die „Bevorzugung“ Estlands hatte in Litauen für viel Aufregung gesorgt, denn seit jeher lodert ein kleiner, zäher Konkurrenzkampf zwischen den drei baltischen Staaten, und Litauen bildet sich nicht wenig darauf ein, im Gegensatz zu den anderen Republiken schon auf eine eigenständige Geschichte im Mittelalter verweisen zu können.

1253 ließ sich der Fürst Mindaugas zum litauischen König krönen und schuf das „Großfürstentum Litauen“, das durch Gebietseroberungen im 14. Jahrhundert seine größte Ausdehnung erreichte: von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Auf diese Tatsache sind die Litauer bis heute stolz. Doch aufgrund der anhaltenden Bedrohung durch den Deutschen Orden an der Westgrenze schloss das Großfürstentum am Ende des Jahrhunderts eine Union mit Polen: 1386 heiratete Großfürst Jogaila die polnische Königin Jadwiga und erhielt die polnische Königskrone. Ganze 150 Jahre spielte das Großfürstentum eine eigenständige Rolle in der polnisch-litauischen Union, dann sank seine Bedeutung, und mit der dritten Teilung Polens 1795 verschwand es vollständig von der politischen Landkarte. 120 Jahre war das Gebiet unter zaristischer Herrschaft, bevor es am Ende des Ersten Weltkrieges zeitgleich mit der Entstehung von Estland und Lettland am 16. Februar 1918 wieder unabhängig wurde. 1920–22 folgte die internationale Anerkennung, 1921 wurde Litauen in den Völkerbund aufgenommen. Polnische Freischärler besetzten jedoch 1920 die litauische Hauptstadt Wilna. So musste Kaunas bis 1939 als Interimshauptstadt herhalten. Das litauische Parlament, der Seimas, initiierte große Reformen, führte die Lita als Landeswährung ein – ein reges Kultur- und Bildungsleben entstand in der Hauptstadt. Anfangs verfügte die jüdische, sehr staatsloyale Minderheit (8,6 Prozent) über eine Kulturautonomie.

Die Zwischenkriegszeit wird vielfach als die „goldenen Jahre“ der litauischen Kultur bezeichnet, obwohl es eine politisch äußerst schwierige Zeit war, zumal nach dem Militärputsch von 1926 ein autoritäres Regime an die Macht kam und die Spannungen mit Polen die kulturelle Abschottung begünstigten. Das Litauische wurde zur Landessprache, und es entstand eine eigenständige Nationalkultur, die sich nicht nach Europa orientierte, obwohl die Protagonisten oftmals im Ausland studiert hatten. Viele Künstler spürten die nationale Enge und verließen das Land.

Heute blickt man mit Nostalgie auf jene Zeit zurück. Doch erst nachdem die grundlegende Verbesserung der polnisch-litauischen Beziehungen in den Neunzigerjahren den Litauern die nationalistische Enge der Zwischenkriegszeit einsichtig gemacht hat, konnte das Land Kurs auf Europa nehmen. Die Vorboten der Annäherung mehren sich. Dazu gehört auch, dass Litauen zum 1. Februar 2002 endlich die Anbindung seiner Währung von US-Dollar auf Euro umgestellt hat. Wirtschaftlich gesehen wurde es höchste Zeit, denn europäische Investoren und Partner klagten schon mehrere Jahre über die fiktiven Kursverhältnisse (seit 1992: 1 Dollar = 4 Lita), die das finanzielle Engagement in Litauen immer unattraktiver machten. Allerdings zögerte die Regierung die Aufhebung der Dollarbindung so lange wie möglich hinaus, denn ein Großteil der Bevölkerung trägt seine Ersparnisse nicht auf die Bank, sondern tauscht sie in Dollarscheine und versteckt sie unter der Matratze.

In diesem Sommer trug die Jugend in Klaipeda bevorzugt Taschen und T-Shirts mit dem Eurozeichen. Regelmäßig bringen die Zeitungen Ergebnisse der Meinungsforschungsinstitute zum Thema „Der Litauer und die EU“. Die letzte große Umfrage im Mai 2002 (2 523 Befragte) ergab, dass 54,3 Prozent der Befragten für den Eintritt ihres Landes in die EU sind. Dazu zählen vor allem Jugendliche, Besserverdienende, Geschäftsleute und Menschen mit Hochschulbildung. Euroskeptiker finden sich vor allem unter den Niedrigverdienern, Arbeitslosen, Landbewohnern sowie unter der russischen und polnischen Minderheit. Die polnische Minderheit lebt mehrheitlich auf dem Land und hat ein unterdurchschnittliches Einkommen, was ihre Zurückhaltung gegenüber den europäischen Ambitionen erklärt.

35 Prozent der Bevölkerung befürchten vor allem, dass sich die Lage der Landwirtschaft durch den Eintritt in die EU verschlechtern würde, was nicht verwundert, da der Agrarsektor mit 8 Prozent einen erheblichen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt leistet und knapp 20 Prozent der Erwerbstätigen beschäftigt. Allerdings hat die große Trockenheit dieses Sommers viele vor allem kleine Bauern in den Ruin getrieben. Nur 5 Prozent der litauischen Bauern bewirtschaften Höfe mit 50 Hektar oder mehr (EU-Durchschnitt: 8,5 Prozent, Polen: 0,8 Prozent) und können beim Staat Ansprüche auf Unterstützung geltend machen. Vor allem die Kleinbauern fürchten die scharfe Konkurrenz und die hohen Qualitätsstandards innerhalb der EU.

Die Frage, ob es ein Referendum zum EU-Beitritt geben wird, ist noch offen, doch viele Litauer äußern, dass ihr Votum von der Position einzelner Politiker, vor allem aber von einem (bisher nicht vorhandenen) Votum der Kirche beeinflusst werden könnte. Staatspräsident Valdas Adamkus, ein Litauer aus dem US-amerikanischen Exil, der seit 1998 an der Macht ist und sich im Dezember zur Wiederwahl stellt, unterstreicht vor allem Litauens Bestrebungen, der Nato beizutreten. Diesem Bündnis misst er persönlich weitaus mehr Bedeutung bei als der EU. Dafür gibt es historische Gründe.

Litauen hat das Ende seiner „goldenen Jahre“ als traumatische Erfahrung verbucht. 1939, nach dem Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes, erzwang die UdSSR mit einem Beistandsvertrag die Einrichtung sowjetischer Militärstützpunkte im Baltikum. Nach der Besetzung durch die UdSSR am 15. Juni 1940 folgte ein Jahr gnadenloser Sowjetisierung: Im Juni 1941 begannen die Deportationen. Die letzten Züge mit Verbannten standen abfahrbereit, als die deutsche Wehrmacht in das Land einmarschierte. Die Litauer hofften auf eine neuerliche Unabhängigkeit, doch das Land wurde in das neu gebildete Reichskommissariat Ostland eingegliedert. 95 Prozent der litauischen Juden wurden ermordet, zigtausende Zwangsarbeiter rekrutiert.

Doch auch nach dem Kriegsende blieb die Unabhängigkeit ein Traum: die baltischen Republiken wurden sowjetische Teilrepubliken. Die Amtssprache war Russisch, die Landessprache Litauisch. Bis 1953 dauerte der bewaffnete Kampf, doch während der gesamten Sowjetzeit ist der Widerstand nie völlig erloschen.

Heute genießen in Litauen die einstigen Unabhängigkeitskämpfer großes Ansehen. Der derzeitige Premierminister Algirdas Brazauskas, der die Regierungskoalition von Sozialdemokraten und der sozialliberalen Neuen Union anführt, gilt als eine Galionsfigur der Unabhängigkeitsbewegung. Er ermunterte die litauischen Kommunisten 1989, die KPdSU zu verlassen. Seit er sich offen für den EU-Beitritt erklärt hat, haben sich auch viele seiner Parteianhänger, der früheren Kommunisten und jetzigen Sozialdemokraten, zu gemäßigten Europragmatikern gewandelt.

Zank um den Atommeiler

Knackpunkt in den Verhandlungen mit der EU ist das Kernkraftwerk Ignalina in Ostlitauen mit seinen Reaktoren vom Typ Tschernobyl, gegen das Ende der Achtzigerjahre heftig demonstriert worden war. Heute soll der Meiler am Netz bleiben, weil er mehr als drei Viertel des Energiebedarfs des Landes deckt und durch Stromverkäufe an Weißrussland und nach Kaliningrad zusätzliche Einnahmen bringt. Kein anderes Land der Welt ist derart abhängig von atomar erzeugtem Strom. Der litauische Präsident hat zugesagt, Block I von Ignalina bis 2004 unter einer Bedingung stillzulegen: die EU-Mitgliedschaft bis 2004. Der zweite Meiler könnte bis 2009 stillgelegt werden, aber nur wenn Brüssel die entsprechenden Fördergelder sowie die Mittel für die Entwicklung alternativer Energien zur Verfügung stellt. Gegenüber den litauischen Forderungen nach Aufschub bleibt die EU hart. Bisweilen wird diese Haltung von litauischen Politikern als „Beschädigung der nationalen Interessen“ ausgelegt, was Wasser auf die Mühlen der Euroskeptiker sei.

Die EU-Gegner machen sich vor allem stark, wenn es um Regelungen des Grundstückskaufes für Ausländer oder deren Rückgabe an ehemalige Besitzer bzw. deren Erben geht. Hier herrscht immer wieder die Angst vor, Litauen könne von Ausländern aufgekauft werden, denn die Litauer hegen bis heute eine überaus starke Bindung an den Landbesitz. Nicht umsonst sagt man in Litauen von einem Menschen, über den es anderswo heißt, dass er mit dem linken Fuß aufgestanden sei: „Er läuft herum, als habe er sein Land verkauft.“

Außerdem machen die Euroskeptiker geltend, dass die EU-Mitgliedschaft das Verhältnis zu Russland beeinträchtigen werde. Das befürchten jedenfalls 26,5 Prozent der Befragten, die damit sicher nicht nur das gegenwärtig breit diskutierte Problem des russischen Transits nach Kaliningrad im Auge haben.

Gerade in dieser Frage gibt es beträchtliche Differenzen zwichen den regierenden litauischen Sozialdemokraten, die im Rahmen der Privatisierungen russisches Kapital ins Land ließen, und den eher russophoben Konservativen, die aber noch keine Aktivitäten entwickeln konnten. Im Gegensatz zu Estland und Lettland hat Litauen jedenfalls keine Probleme mit seiner russischen Minderheit, die mehrheitlich die litauische Staatsbürgerschaft besitzt und sich überaus loyal verhält.

Russland und Litauen sind wirtschaftlich stärker verflochten, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Russische Aktionäre besitzen etwa große Anteile an litauischen Energiebetrieben. Litauische Exporte nach Russland machen derzeit etwa 9 Prozent aus. Die künftige Zollgrenze zu Russland wird den gesamten Nachbarschaftshandel grundlegend verändern. Der Import von Dünger, Erdgas, Chemikalien und Fahrzeugen wird sich verteuern. Die Geschäftsleute geben sich zwar einstweilen betont gleichgültig, befürchten aber, dass die Erzeugerpreise in Litauen in die Höhe schnellen und so den Handel gefährden werden. Im privatwirtschaftlichen Sektor werden die absehbaren Veränderungen den Gebrauchtwagenhandel besonders hart treffen. Ganze Regionen in Litauen leben praktisch nur vom Autohandel in die GUS-Staaten. Hier werden Gebrauchtwagen aus Westeuropa in unzähligen kleinen Werkstätten repariert, neu zusammengeschraubt, lackiert und poliert, bis sie dann russischen und häufig auch usbekischen und kasachischen Käufern angeboten werden. Um die riesigen Automärkte herum hat sich eine ganze Dienstleistungspalette entwickelt, von Wechselstuben über Hotels bis hin zu glitzernden Striptease-Shows. Ohne die Kunden aus Russland droht Stillstand und ein rapides Ansteigen der Arbeitslosigkeit.

Aus Russland hingegen kommen erste Zeichen, die darauf hindeuten, dass auch die litauischen Joint Ventures in Kaliningrad von den Veränderungen betroffen sein werden. Offiziell arbeiten derzeit etwa 3 000 Arbeitskräfte im Nachbargebiet, vor allem auf dem Bau, in Werften und in der Landwirtschaft. Alle repräsentativen Bauvorhaben in Kaliningrad werden seit einigen Jahren von litauischen Firmen ausgeführt, da diese besser arbeiten als die einheimischen Anbieter. Jetzt hat Moskau angekündigt, dass die ausländischen Arbeitskräfte ab Januar 2003 quotiert und auf insgesamt maximal 8 000 festgelegt werden.

Insgesamt sind die offiziellen Beziehungen der Administrationen in den Grenzregionen gut und recht eng. Hinzu kommen die zahlreichen persönlichen Verbindungen. Es gibt viele familiäre Kontakte zwischen Litauern im Kaliningrader Gebiet und ihren Verwandten in Litauen sowie Russen in Klaipeda und ihren Angehörigen jenseits der Grenze. Litauen ist jedenfalls an dauerhaft guten Beziehungen interessiert. Nun hat Dänemark signalisiert, dass die derzeitige Transitfrage zwischen Russland und der EU geklärt werden müsse, da Litauen gegenüber der EU bereits alle diesbezüglichen Vereinbarungen unterzeichnet habe. Litauen solle sich deswegen nicht von Moskau unter Druck setzen lassen.

Zweifellos wird das Wirtschaftsgefälle an der litauisch-russischen Grenze künftig noch größer werden als bisher. Dabei blüht schon jetzt der Schmuggel, verstopft der Ameisentourismus die Grenzübergänge in Kybartai und Panemune, denn die vielen Arbeitslosen in den litauischen Grenzregionen versuchen, mit dem Einkauf von billigem russischem Benzin, Schnaps und Zucker ihr Budget aufzubessern.

Trotz allem überwiegt in den Umfragen über die Perspektiven eines EU-Beitritts ein vorsichtiger Optimismus. 56 Prozent der Befragten hoffen auf bessere Arbeitsmöglichkeiten und einen Rückgang der Arbeitslosigkeit, und insbesondere auf bessere Lebens- und Lernbedingungen für die Jugendlichen. Sehr viele junge, gut ausgebildete Litauer sind in den letzten Jahren ausgewandert, da es zu Hause an attraktiven und gut dotierten Arbeitsplätzen mangelt und Eigeninitiative immer noch durch eine irrwitzige Bürokratie nachgerade erstickt wird. Litauische Experten für Europapolitik rechnen der Bevölkerung immer wieder vor, dass gerade in den ersten Jahren der EU-Zugehörigkeit der Geldstrom aus Brüssel größer wäre als die Beiträge, die das Land zu entrichten hätte. Nur trauen die Litauer solchen politischen Versprechungen nur zögernd.

Die größten Hoffnungen setzen Besserverdienende, Geschäftsleute und die Intellektuellen auf die Einführung europäischer Standards, die jetzt schon für die EU-Mitgliedschaft erforderlich sind. Dazu gehören vor allem die Bereiche Rechtssicherheit und Strafverfolgung. In diesem Zusammenhang hoffen die Bürger auch auf das Zurückdrängen der Korruption. Zwar hat das litauische Parlament im Zuge der Vorbereitung auf die EU-Mitgliedschaft eine Strategie zur Bekämpfung von Korruption ins Leben gerufen und ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Trotzdem konnte diese gerade im Verwaltungsbereich bisher nicht eingedämmt werden. Nach einer internationalen Studie in 102 Staaten belegt Litauen gemeinsam mit Weißrussland, Südafrika und Tunesien die Plätze 36 bis 39 in der Reihe der korruptionsanfälligsten Länder.

Es gibt viele Skandale und Skandälchen. Zu den Letzteren gehörte eine Immobilienauktion im Sommer dieses Jahres, bei der ein Schwiegersohn des amtierenden Premierministers Brazauskaus ein großes Hotel auf der Kurischen Nehrung ersteigern wollte. Obwohl er von drei Mitbietern überboten wurde, erklärte er nach Ende der Auktion ganz unverfroren, dass ihm die Immobilie gehöre, da sie dem zustünde, der die Summe am schnellsten bezahlen könne. Die Veranstalter bestätigten, eine solche Regelung sei zwei Tage zuvor eigens für diese Auktion erlassen worden. Ein glatter Verstoß gegen das Auktionsgesetz, was aber weder den Veranstalter noch den Begünstigten störte. Viele Litauer zucken bei solchen Nachrichten resigniert mit den Schultern, sagen aber: „Gäbe es nicht die Vorgaben aus Brüssel, würde die Korruption in den Himmel wachsen und der Filz nie ein Ende finden.“

Die russisch-sowjetische Tradition, Potemkin‘sche Dörfer zu errichten, ist auch in Litauen noch nicht ausgestorben. Ein neueres Beispiel dafür ist eine Maßnahme zur Verbesserung der Umweltbedingungen in der litauischen Hauptstadt „im Zuge der Angleichung an europäische Strukturen“. Per Erlass Nr. 327 vom 23. Mai 2000 ließ der damalige Bürgermeister Rolandas Paksas einen Fahrradweg in der Altstadt einrichten. In Wirklichkeit wurde kein halbwegs befahrbarer Streifen gebaut, sondern auf das Kopfsteinpflaster der Altstadtstraßen einfach nur weiße Markierungslinien ausgemalt und ein paar Schilder im gänzlich unbefahrbaren Straßengraben angebracht. Zum Vorzeigen reicht es. Die Stadtführer in Wilna weisen die Touristen immer gern darauf hin.

* Historikerin an der Humboldt-Universität, Berlin. Arbeitete 1996–2000 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Thomas-Mann-Kulturzentrum in Nida/Litauen.

Le Monde diplomatique vom 11.10.2002, von RUTH LEISEROWITZ