11.10.2002

Kurdische Landschaften vor dem Krieg

zurück

Kurdische Landschaften vor dem Krieg

Viele Kurden setzen große Hoffnungen auf eine US-Intervention im Irak. Der kurdische Traum von einer demokratischen Republik musste immer wieder scheitern, weil er die Integrität von drei Staaten bedrohte. Die geopolitischen Realitäten reduzierten die Erwartungen auf Autonomiemodelle. Als Erste haben die Kurden im Nordirak unter dem Schirm der britisch-amerikanischen Luftwaffe einen autonomen Quasistaat aufgebaut. Die iranischen Kurden hingegen wollen mehr Einfluss in Teheran gewinnen. Den türkischen Kurden hat das Parlament in Ankara, von der EU ermahnt, erstmals kulturelle Rechte eingeräumt. Aber die Türkei befürchtet, was die türkischen Kurden erhoffen: eine irakische Föderation möge ansteckend wirken. Zudem könnte ein Krieg alte Rivalitäten zwischen Iran, Irak und der Türkei entfachen, was erneut zu Lasten der Kurden ginge.

Von MICHEL VERRIER *

NAHE der iranischen Grenze liegt die Stadt Van an einem sanften Hang, der sich zu den Ufern des Van-Gölü-Sees hinabzieht, einer Art Binnenmeer mit 37 000 Quadratkilometern Wasserfläche. Seit dem Ende der Kämpfe zwischen der türkischen Armee und der Guerilla der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) ist in dieser Region, die noch immer einer strengen Kontrolle unterliegt, die Erleichterung mit Händen zu greifen. „Die Armee ist da, weil wir Kurden sind und weil das nicht gut ist“, lautet der sarkastische Kommentar von Hamdi Demir. Der etwa 60-jährige Vorsitzende der prokurdischen Hadep-Partei, die noch immer von einem Verbotsverfahren bedroht ist, strahlt trotz Anzug und Weste die Würde eines alten Weisen aus. Seine Worte sind einfach und scharf.

Vom kleinsten Dorf bis zu den größten Ballungszentren gibt es kein Dach ohne Satellitenschüssel. Die kurdischen Familien im Osten der Türkei sehen – das behauptet jedenfalls Ankara – den „PKK-nahen Sender“ Medya-TV. Militärisch hat Ankara die Schlacht gewonnen. Nach der Festnahme von PKK-Chef Abdullah Öcalan und seinem Aufruf zum Waffenstillstand im August 1999 haben die bewaffneten Kämpfer, die seit Anfang der Achtzigerjahre in die Berge gegangen waren, ihre Sachen gepackt und sich in den Norden des Irak zurückgezogen. Aber den Medienkrieg, die Schlacht um die Bildschirme, hat der türkische Staat verloren, nachdem er jahrelang versucht hatte, die Parabolantennen zu beschlagnahmen. Die Armee kontrolliert die Straßen, aber nicht die Wellen im Äther.

Die Wände des Raums sind mit Teppichen und Porträts von kurdischen Persönlichkeiten gepflastert. Ein Dutzend Studentinnen und Studenten haben sich zum Tee versammelt und erzählen von den Hintergründen ihrer Kampagne für die kurdische Sprache, die seit dem letzten Winter an 53 Universitäten durchgeführt wird. „Unsere Forderung ist klar“, sagt der 20-jährige Huseyin: „Wir wollen nur das Recht haben, Kurdisch als Zweitsprache zu lernen, genau wie Englisch, Spanisch, Farsi oder Arabisch. Es geht uns nicht darum, Türkisch als Unterrichtssprache abzuschaffen und durch Kurdisch zu ersetzen. Die Regierung stellt das falsch dar, um unsere Forderung zu diskreditieren. In Van hatten wir 2 000 Unterschriften gesammelt, die wir dem Rektor der Universität überreichen wollten. Und dann hat dieser uns gezwungen, dass jeder Unterzeichnende diesen Schritt einzeln vollzieht.“

Zwei Monate später kam der Urteilsspruch aus Ankara: „Diese Bewegung ist eine Kampagne der PKK.“ Mehrere der führenden Aktivisten wurden festgenommen und von der Universität verwiesen. Nach einem Hungerstreik im Mai wurden einige von ihnen am 18. August vor dem Staatssicherheitsgerichtshof in Istanbul angeklagt und verurteilt. Dabei hatte das türkische Parlament in der Zwischenzeit das Recht auf Unterrichtung der „Minderheitensprachen“ anerkannt: Am 3. August hatte die Nationalversammlung ein Reformpaket verabschiedet, um die Gesetze und die Verfassung mit den so genannten Kopenhagen-Kriterien zu harmonisieren, die für alle Beitrittskandidaten der Europäischen Union verbindlich sind. Aber der Unterricht in „den verschiedenen Sprachen und Dialekten, die von türkischen Staatsbürgern traditionellerweise in ihrem Alltagsleben gesprochen werden“, wie es in dem Gesetzestext heißt – das Wort „kurdisch“ bleibt tabu –, darf nur in privaten Einrichtungen erfolgen, und die Kurse dürfen weder „gegen die grundlegenden Prinzipien der Türkischen Republik, wie sie in der Verfassung niedergelegt sind“, noch gegen „die Unteilbarkeit des Staatsgebiets und der Nation verstoßen“. Diese beiden Einschränkungen könnten die Wirksamkeit der neuen Gesetze durchaus zunichte machen.

Im Lauf der Diskussion kommen unsere Gesprächspartner auf den Kurswechsel der PKK zu sprechen. Über Medya-TV haben die meisten von ihnen die Wandlungen der Rebellen-Partei verfolgt. Sie begrüßen das Ende des bewaffneten Kampfes zugunsten einer Strategie der demokratischen Entwicklung in den vier Ländern – Türkei, Irak, Syrien und Iran –, die den Siedlungsraum der Kurden bilden, und die Gründung des Kadek (Kongress für Freiheit und Demokratie in Kurdistan). „Die Welt ändert sich, man muss mit der Zeit gehen“, meint Cemal, der gerade das Buch liest, das Öcalan in seiner Zelle auf der Gefängnisinsel Imrali geschrieben hat. Der seit Jahrzehnten über das Kurdengebiet verhängte Ausnahmezustand wurde am 20. Juni 2002, drei Jahre nach dem Ende des bewaffneten Kampfes, fast vollständig aufgehoben; nur in den Provinzen Diyarbakir und Sirnak wurde er um vier Monate verlängert. Eine Veränderung ist jedoch kaum zu spüren. In Bingol haben etwa dreißig politische Vereinigungen und Nichtregierungsorganisationen am 2. Juli in einer gemeinsamen Erklärung festgestellt: „Obwohl der Notstand schon seit drei Jahren aufgehoben ist, dauert die Repression gegen demokratische Institutionen und Organisationen unvermindert an.“

In Van liegt die Arbeitslosigkeit bei 80 Prozent. Die vom Land vertriebenen Dorfbewohner strömen in die Städte, wo sie in Lagern oder Slumsiedlungen hausen. Von 520 zerstörten Dörfern der Region, denen man Unterstützung der PKK-Rebellen vorgeworfen hatte, wurden den Einwohnern gerade einmal 90 zurückgegeben. Die übrigen Zwangsevakuierten will Ankara in neu errichteten, mehrere Dörfer zusammenfassenden Siedlungen unterbringen, die oft weit von ihren traditionell bearbeiteten Feldern entfernt liegen. Aber die Menschen weigern sich und bleiben in den Städten, wo sie ohne Arbeit sind und keine Möglichkeit haben, sich wieder in Ackerbau und Viehzucht zu betätigen, traditionell die wichtigsten Einkommensquellen der Region.

Die aus regimefreundlichen Kurdenstämmen rekrutierten Hilfsmilizen der so genannten Dorfschützer, die mit der Verfolgung der bewaffneten Kämpfer beauftragt waren, sind immer noch aktiv und haben sich häufig die Böden der vertriebenen Familien angeeignet, worüber Letztere natürlich verbittert sind.

Zwanzig Jahre Krieg, jahrzehntelange Militarisierung und der fortwährende Ausnahmezustand in der Region haben eine bürokratische und militärische Hydra hervorgebracht, in deren Innerstem sich die Klans und die Mafia eingenistet haben. Jetzt, nach dem Ende der Guerillakämpfe, fällt die Umstellung schwer. Das vielköpfige Ungeheuer widersetzt sich jedem Wandel, der die regionale Macht der Kurden stärken und ihnen darüber hinaus – im Rahmen der Institutionen der Türkischen Republik – eine Beteiligung an der zentralen Macht in Ankara einräumen würde. Werden die vorgezogenen Wahlen am 3. November ein Ergebnis bringen, das eine von den Wählern in der Osttürkei gewünschte Mehrheit mit der institutionellen Mehrheit im Parlament von Ankara in Einklang bringt? Die Meinungsumfragen räumen der gemäßigten islamistischen AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) und der prokurdischen Dehap-Partei, Nachfolgerin der mit Verbot bedrohten Hadep, gute Chancen ein. Diese Kombination irritiert vor allem den Generalstab des türkischen Militärs, dessen institutionelle Macht bislang ungebrochen ist.

Ein Militärschlag der USA gegen den Irak in diesem Herbst oder Winter könnte die politische Entwicklung in der Türkei zurück an ihren Nullpunkt bringen. Dann würde sich die Armee auf der politischen Bühne wieder in den Vordergrund drängen. Die befürchtete Zerschlagung des Irak und die Proklamation eines unabhängigen Kurdenstaats an der türkischen Grenze sind für Ankara eine wahre Horrorvorstellung. Beim Besuch des stellvertretenden US-Verteidigungsministers Paul Wolfowitz am 17. Juli hat die Türkei für ihre Beteiligung an der „unvermeidlichen“ Intervention der USA vier Bedingungen gestellt. Washington soll erstens die vier Milliarden Dollar Schulden erlassen, die Ankara für Rüstungslieferungen schuldet; zweitens neue Kredite bewilligen, um die wirtschaftlichen Folgen eines neuen Krieges zu mildern; drittens die territoriale Integrität des Irak garantieren und viertens den irakischen Kurden nicht nur jeglichen kurdischen Staat, sondern auch jede Kontrolle über die ölreiche Region um ihre historische Hauptstadt Kirkuk verweigern. Der Aufstand der irakischen Kurden am Ende des Golfkriegs im Frühjahr 1991 und ihr anschließender Exodus, der sie zu Millionen in die Berge trieb, hatten in der Region von Van zu chaotischen Verhältnissen geführt. Die türkischen Kurden verfolgen daher mit größter Aufmerksamkeit, wie sich die Kraftprobe zwischen Washington und Bagdad entwickelt. „Wenn die amerikanische Intervention nur darauf abzielt, Saddam auszuschalten, um einen anderen Diktator an seine Stelle zu setzen, wird es schlimm“, meint Hamdi Demir. „Wenn sie aber eine demokratische Lösung in Bagdad ermöglichen soll, um so besser. Dann ist nichts zu befürchten: Die irakischen Kurden werden nicht in die Berge fliehen, um hier Schutz zu suchen.“

Die Brüder im Iran haben es besser

DIE Kurden erleben ihre Geschichte oft aus zweiter Hand, über Informationen von Verwandten jenseits der Grenzen, die sie voneinander trennen. Familien- und Stammesverbände sind auseinander gerissen. Auch Hamdi Demir hat, wie es in der Region häufig vorkommt, zwei Brüder und eine Schwester, die im Iran leben. Daher weiß er zu berichten: „Dort ist das Leben einfacher, sowohl in ökonomischer Hinsicht als auch auf der kulturellen Ebene. Im Iran haben sie auch als Kurden Meinungsfreiheit, ja sie stellen sogar Abgeordnete im Parlament von Teheran.“

„Kordestan-Nord“: Das Schild an der Ringstraße, die sich um das Zentrum der iranischen Hauptstadt zieht, ist vielleicht ein lächerliches Detail, und doch wäre es in Ankara undenkbar, wo man schon durch die Verwendung des Wortes „Kurdistan“ in die Fänge der Justiz geraten kann.

Im Iran kommen auf die Gesamtbevölkerung von 70 Millionen Einwohnern mehr als 10 Millionen Kurden. Seit einiger Zeit verfügen diese bereits über einen Großteil jener Grundrechte, die den Kurden der Türkei bis zum Sommer dieses Jahres verwehrt waren. Im kurdischen Kulturzentrum von Teheran wurde übrigens am 30. und 31. Mai 2002 die erste wissenschaftliche Konferenz zur Didaktik der kurdischen Sprache abgehalten. Bei dieser Gelegenheit hat ein Vertrauter von Präsident Mohammed Chatami die Teilnehmer eigens ermutigt, ein Lehrbuch der kurdischen Sprache zu verfassen.

„Unser Kampf hat eine lange Geschichte“, betont der Direktor des Zentrums, Bahran Valadbaigi. „1945 gründeten die iranischen Kurden die Republik Mahabad, die ein Jahr später von der Zentralregierung zerschlagen wurde. Wir haben uns an der Revolution von 1978 gegen den Schah beteiligt. Aber dann wurden uns nicht die Rechte eingeräumt, die wir hätten bekommen müssen.“ Noch einmal wurden die Kurdengebiete befreit, diesmal von Kämpfern der Demokratischen Partei Kurdistan in Iran unter Abdul Rahman Gassemlu, ehe dieser mitsamt seinen Getreuen ermordet und die kurdische Freiheitsbewegung von den Pasdaran, den Revolutionsgarden der Ajatollahs, blutig niedergeschlagen wurde.

Aber wie in der Türkei hat sich auch der größte Teil der Kurden im Iran definitiv vom bewaffneten Kampf abgewendet. „Das ist eine Generationenfrage“, versichert Bahran Valadbaigi. „Unsere neue Strategie nimmt Rücksicht auf die Veränderungen in der Welt: Den Fall der Berliner Mauer, die Auflösung der Blöcke, die Globalisierung, das Internet. Sie stützt sich auf die Kultur, auf Filme, die Sprache, das Streben nach Demokratie.“ Und Bachtiar, ein junger Kurde aus Sanandaj, resümiert lachend: „Der Krieg geht weiter, nur haben wir jetzt statt der Kalaschnikows unsere Kugelschreiber.“

Im Parlament von Teheran ist die kurdische Bevölkerung heute durch 22 Abgeordnete vertreten, die allerdings als Unabhängige gewählt sind, weil es keine kurdische Partei geben darf. Aber, betont Valadbaigi, „wir wollen an der Ausübung der Zentralmacht teilhaben. Wir lassen uns nicht mehr an den Rand drängen.“

Die Erfahrung der Kurden im benachbarten Irak, die zu Herren ihrer eigenen Region geworden sind, wird hier mit gespanntem Interesse verfolgt. Sie kommt den iranischen Kurden ein wenig wie eine Neuauflage der Republik Mahabad vor. Nach Ansicht Valadbaigis käme im Übrigen eine Intervention der USA zum Sturz von Saddam Hussein aus kurdischer Sicht einer „Vorsichtsmaßnahme“ gleich, schließlich hat das Regime in Bagdad „unsere Brüder dezimiert. Dazu war ihm jedes Mittel recht, einschließlich chemischer Waffen, und niemand kann sicher sein, dass es diesen Versuch nicht wiederholt.“

Sanandaj, 250 Kilometer von Teheran entfernt, ist die Hauptstadt der Region, die offiziell als Iranisch-Kurdistan bezeichnet wird. Vor einem imposanten Gebäude der Pasdaran gesteht uns ein Kurde in leitender Position: „Das ist nicht unsere Welt, aber wir mussten uns anpassen.“ Seine Frau, die wider Willen den schwarzen Schleier trägt, bestätigt: „Die Tschechen und Slowaken haben sich wenigstens anständig getrennt, ohne sich zu prügeln. Warum haben wir nicht das Recht, es genauso zu machen? Man wählt, man entscheidet sich, das ist doch ein Recht, oder?“

Die massiven Solidaritätsdemonstrationen nach der Festnahme des PKK-Führers kamen für alle überraschend. „In Sanandaj gab es 30 Tote“, erzählt ein junger Kurde. „Die Demonstration geriet außer Kontrolle, weil die Jugendlichen immer mehr Druck gemacht haben, erst mit Parolen für Abdullah Öcalan, dann mit Forderungen nach Freiheit für die Kurden im Iran und schließlich mit Attacken auf die Regierung in Teheran, gegen die Islamische Republik.“ Einer seiner Freunde gibt dazu den Kommentar: „Ehe die Amerikaner Bagdad bombardieren, sollen sie lieber mal hier vorbeikommen und ein paar Bomben auf unser Regime abwerfen.“

Kahle Berge, verschachtelte, von Palmen überragte Ortschaften, schmale Straßenpisten. Wenn man auf der Straße, die Kermanschah mit Bagdad verbindet, der irakischen Grenze näher kommt, sieht man rechts und links immer mehr ausgebrannte Wracks von Panzern und Kampffahrzeugen. Seit dem iranisch-irakischen Krieg (1980–1988) liegen sie hier herum. In Qasr ist die Grenze zum Irak an zwei Tagen pro Woche geöffnet. Hinter Stacheldraht und Sandsäcken sieht man bewaffnete Soldaten Wache schieben.

Hier im Nordosten des Irak ist die grüne Fahne mit der roten Rose allgegenwärtig. Sie ist das Symbol der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), der Partei von Dschalal Talabani, die jüngst in die sozialistische Internationale aufgenommen wurde. Das sich westlich anschließende Kurdengebiet, das an die Türkei und an Syrien grenzt, untersteht der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP), der Partei von Masud Barsani. Nach den jahrelangen Kämpfen zwischen beiden Fraktionen herrscht endlich Ruhe. Es war ein „Selbstmordkrieg“, der etwa 3 000 Tote gefordert hat. Der Chef der Regionalregierung, Baran Saleh, hält die Steuereintreibungen der KDP an der türkisch-irakischen Grenze und die Begünstigung der von ihr kontrollierten Region bei der Verteilung der Gelder für den Schlüssel der Feindseligkeiten, die das autonome Kurdistan gespalten haben.

Mittlerweile ist die Versöhnung der beiden Parteien, die seit 1998 von London und Washington betrieben wird, so gut wie abgeschlossen. Am 6. August haben sich Delegationen beider Seiten in Koisinjaq getroffen, um die vereinte kurdische Nationalversammlung, die bereits 1992 gewählt worden war, wieder ins Leben zu rufen. Am 7. September empfing Barsani dann den Rivalen in seiner Hochburg Salahad-Din. Da war Talabani gerade von einer Reise nach Washington, London und Ankara zurückgekommen, wo er an einem Treffen mit Vertretern der irakischen Opposition teilgenommen hatte, einer Konferenz vor allem von Kurden, Schiiten und Offizieren der irakischen Armee, die im Lauf der letzten zehn Jahre aus ihrem Land geflohen waren. Die beiden Männer verständigten sich darauf, das kurdische Parlament am 4. Oktober wieder in Erbil zusammentreten zu lassen und die Positionen beider Parteien in den wichtigsten Punkten abzustimmen: über die allgemeine Zukunft des Irak und über Fragen des Föderalismus, der Demokratie, der Beziehungen zu den Nachbarländern und zur internationalen Gemeinschaft.

Das ist auch nötig, sagt Baran Saleh, „denn die Lage von Irakisch-Kurdistan bleibt prekär, solange Saddam Hussein in Bagdad herrscht, solange sein Regime nicht durch ein demokratisches System ersetzt ist, das von den Irakern anerkannt wird und dem auch die Kurden angehören. Der gegenwärtige irakische Staat ist bankrott. Die Araber wissen das und fragen sich schon, ob sie nicht künftig mit den Kurden regieren sollten.“

Saleh ist ein lebhafter großer Mann um die vierzig mit Stirnglatze und ausladenden Gesten. Er wohnt im Zentrum von Sulaimanija in einer kleinen Straße, deren Zufahrt in beide Richtungen abgesperrt ist. Bewaffnete Peschmerga halten Wache. Saleh ist im März 2002 knapp einem Attentat entkommen. Seine Leibwächter wurden erschossen. Vor der Haustür steht eine Kolonne von Limousinen, brandneu und alle identisch, aus Sicherheitsgründen. Wenn er sich von der Stelle bewegt, weiß man nie, welchen Wagen er benutzt.

Saleh sieht sich schon in Bagdad. Er ist ein Gegner des „kurzsichtigen politischen Realismus“, der Meinung also, dass die Beteiligung an einer US-amerikanischen Intervention gegen das Regime von Saddam Hussein für die Kurden ein zu großes Risiko wäre. Aber natürlich könne man auch nicht „bei jedem Plan oder jedem Abenteuer“ mitmachen. Die kurdischen Organisationen haben, anders als die Nordallianz in Afghanistan vor dem Sturz des Taliban-Regimes, bereits jetzt fast ein Drittel des Landes unter ihrer Kontrolle: „1991 hatten wir 804 Schulen, heute sind es über 2 700. In zehn Jahren haben wir doppelt so viel gebaut wie vorher in siebzig Jahren. Wir haben viermal so viele Ärzte wie früher. Der Lebensstandard hier ist weit höher als in den von Bagdad kontrollierten Regionen.“ Und er fährt fort: „Niemand lebt in der Angst, mitten in der Nacht von der Geheimpolizei aus dem Bett geholt zu werden.“

Um 18 Uhr drängen sich die Menschen auf den Gehsteigen von Sulaimanija und in den Gassen des Basars. Das Warenangebot ist umfassend und reichhaltig. Beim Umtausch gegen Dollars ist das irakische Geld von Kurdistan zehnmal so viel wert wie das offizielle irakische Geld in Bagdad. Wechsler sitzen an jeder Straßenecke. Die Stadt hat eine Zentralbank, aber keine Verbindung mit dem internationalen Bankensystem.

Die Nachrichten sind frei. Eine Vielfalt von Zeitungen werden verkauft, die meisten sind allerdings parteigebunden. Häufig haben die Parteien auch ihre eigenen Fernsehsender und Radiostationen. Es wäre also verfrüht, von einer unabhängigen Presse zu sprechen. Aber die Einwohner können ihr Fernsehprogramm wählen und nach Belieben im Internet surfen. Auch die Zeitungen der KDP sind in Sulaimanija erhältlich. Das allerdings ist neu. Seit dem Krieg zwischen den beiden Fraktionen war die Partei von Barsani in den von der Talabani-Partei kontrollierten Gebieten offiziell nicht mehr vertreten, und umgekehrt.

An der großen Straße, die ins Stadtzentrum führt, findet man neben Hotels und Restaurants auch etliche Läden, die Alkohol verkaufen. Manche Frauen tragen den schwarzen Schleier über dem Gewand, aber viele sind auch „westlich“ gekleidet. Der Schleier ist weder verboten wie in der Türkei noch obligatorisch wie im Iran. „Die individuellen Freiheiten setzen sich durch“, sagt Baran Saleh, „Sie sind gesetzlich verbürgt. Keine offizielle Ideologie darf irgendjemandem eine bestimme Lebensart vorschreiben.“ Die Polygamie wurde unter Strafe gestellt, der Ehrenmord – also jene Tradition, die es „duldet“, dass die Familie Frauen tötet, wenn sie die ihnen auferlegten Heiratsvorschriften nicht einhalten – ist nunmehr verboten und wird mit schwersten Strafen geahndet. In der von der KDP kontrollierten Region wird in dieser Frage die gleiche Politik verfolgt.

Ob Turkmenen, Assyrer, chaldäische Christen oder jesidische Kurden, die ethnischen und religiösen Minderheiten haben ihren Platz in der Öffentlichkeit und genießen ihre Rechte – eine Voraussetzung für jede demokratische Entwicklung. Aber in der Umgebung von Halabjah, nahe der iranischen Grenze, haben sich in mehreren Dörfern Gruppen von Ansar al-Islam niedergelassen, die nach Angaben der regionalen kurdischen Behörden mit dem Netz der al-Qaida in Verbindung stehen. Das bedeutet für die Regionalregierung eine ernste politische Gefahr. Gedankenfreiheit, Laizität, freier Alkoholverkauf, fehlender Kleiderzwang: alle hier erzielten Fortschritte könnten womöglich der fundamentalistischen Kritik eine Angriffsfläche bieten, vor allem in den armen Schichten der Bevölkerung, die sich den von ihren Führern so geschätzten westlichen Lebensstil nicht leisten können.

Auf dem Campus der Universität dagegen haben die Islamisten offenbar keinerlei Einfluss. In Sulaimanija studieren 6 000 junge Leute. Die naturwissenschaftlichen Fächer werden auf Englisch gelehrt, Literatur, Geschichte und Geografie dagegen in arabischer Sprache. Die kurdische Sprache kommt auf einer anderen Ebene zum Zuge: Seit die Kurden 1991 die Kontrolle über die Region errungen haben, ist der Kurdischunterricht zum Bestandteil der Lehrpläne an Grund- und Oberschulen geworden. „Am Institut für Kurdologie arbeiten wir an der Vereinheitlichung der kurdischen Sprache, die zwei Hauptdialekte hat“, erklärt Kamal H. Choschnaw, der Präsident der Universität: „Wir denken daran, das lateinische Alphabet einzuführen, das auch die Kurden in der Türkei benutzen, und das derzeit in Irak und Iran geltende arabische Alphabet aufzugeben.“

„In all diesen Kriegsjahren, seit wir 1975 den Weg der Guerilla eingeschlagen haben und in die Berge gegangen sind, haben wir uns oft gesagt: Nächstes Jahr werden wir in Kirkuk sein. Und wir haben uns ständig getäuscht“, sagt Dschalal Talabani. „Aber diesmal bin ich überzeugt: Nächstes Jahr sind wir in Bagdad.“ Der PUK-Führer glaubt, dass das Ende der Ära Hussein gekommen ist. Aber auch wenn die USA beschlossen haben, das Regime in Bagdad zu stürzen, weiß man weder wann noch wie es dazu kommen wird: „Und solange diese beiden Fragen nicht geklärt sind, können wir unmöglich sagen, ob wir ihre Intervention unterstützen werden oder nicht. Saddam Hussein ist völlig isoliert von der irakischen Bevölkerung, er kann nicht die geringste Öffnung zulassen. In Bagdad werden weder Internet noch Satellitenschüsseln geduldet. Die Worte des Präsidenten sind Gesetz, auch wenn das Gegenteil in der Verfassung steht. Es handelt sich um eine totale Terrorherrschaft. Wer nicht ja sagt, wird gehenkt.“ Zwischen drei und vier Millionen Iraker, Führungskräfte, Militärs und Intellektuelle, mussten vor der Diktatur aus ihrem Land fliehen.

Für Talabani läuft die Zukunft des Irak über die Errichtung einer weltlichen, demokratischen und föderalen Republik. „Nichts wäre uns lieber, als wenn dieser Staat auf friedlichem Wege entstünde, über den Dialog, ungefähr so, wie der Übergang beispielsweise in Osteuropa abgelaufen ist.“

Erst jüngst hat das irakische Parlament die Amtszeit von Saddam Hussein um weitere sieben Jahre verlängert. Zur Wahrung des Scheins sollen am 15. Oktober Wahlen stattfinden. Mit seinem Appell an den irakischen Präsidenten will Kurdenführer Talabani dem Regime eine letzte Chance eröffnen, „endlich Schluss zu machen mit der Einparteienherrschaft, eine Regierung zu bilden, die das ganze irakische Volk repräsentiert, und den Weg zu freien Wahlen frei zu machen“. Sollte dieses Angebot jedoch zurückgewiesen werden, „ist die amerikanische Intervention unvermeidlich“.

Die „unvermeidliche Intervention“ könnte vor allem in einer Reihe von Luftschlägen gegen die letzten Stützpfeiler des Regimes bestehen, konzentriert auf die Kasernen der republikanischen Garde, die persönlichen Schutztruppen von Saddam Hussein. „In einem solchen Fall könnten diese Kräfte vielleicht zwei oder höchstens drei Wochen widerstehen“, meint Saada Pira, der für die internationalen Beziehungen der PUK zuständig ist. Was die regulären irakischen Streitkräfte betrifft, so würden sie das Regime nach Einschätzung der Kurden nicht gegen eine angloamerikanische Offensive verteidigen. Im Gegenteil, man rechnet eher mit einer noch heftigeren Welle von Desertionen und Regimentserhebungen als am Ende des Golfkriegs.

Die irakische Opposition hält es für die Aufgabe der Iraker, der Kurden und der Araber, in diesem Moment der Schwäche das Regime zu stürzen. Nach eigener Darstellung kann sie sich auf mindestens 200 000 bewaffnete Männer stützen und möchte verhindern, dass eine größere Zahl fremder Truppen auf irakischem Boden zum Einsatz kommt. Wenn die Hauptstadt und die wichtigsten großen Städte unter Kontrolle gebracht wären, „käme es zu einer ähnlichen Situation wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg“, bemerkt Saadi Pira, von Haus aus Germanist, der 15 Jahre lang in Österreich gelebt hat. „Wir sollten davon ausgehen, dass sich die meisten Mitglieder der Baath-Partei in einer ausweglosen Lage befinden. Wir werden sie eben reintegrieren müssen, im Rahmen des Rechtssystems, das es neu aufzubauen gilt.“

Nach Talabani wird mit dem Sturz von Saddam die Zeit für Freiheit und Demokratie anbrechen: „Alle werden an den Wahlen teilnehmen, und danach wird entschieden. Wir haben gute Beziehungen zu sämtlichen Parteien – zu Kommunisten, Sunniten, Schiiten, Nasserianern, Liberalen und Demokraten. Es ist vielmehr die Regierung in Bagdad, die Keile zwischen die Gruppen treibt und sie gegeneinander aufhetzt.“

Der Chef der PUK befürchtet nicht, dass im Süden des Irak eine fundamentalistische Region entstehen könnte: „Mohammed Baker al-Hakim, der Vorsitzende des Obersten Rats der Islamischen Revolution, wird seine Leute nicht nach Kurdistan schicken, damit sie die Geschäfte schließen, in denen es Alkohol zu kaufen gibt.“ Er setzt auf ein parlamentarisches Regime. Auch seien die Schiiten alles andere als Fundamentalisten, vielmehr waren die Nationalisten und die irakische KP in der Schiitenregion im Süden besonders stark, meint Talabani: „Sicher, die Kurden träumen immer noch von einem vereinten Kurdistan. Aber das geht an der Realität vorbei. Dafür müsste man überall neue Verhältnisse schaffen, im Irak, in der Türkei und im Iran. Wir träumen von einem demokratischen Irak. Lassen wir erst einmal diesen Traum Wirklichkeit werden.“

Ein so einschneidender Umbruch könnte für die Nachbarländer eine harte Belastungsprobe darstellen. Eine kurdische Teilhabe an der Macht in Bagdad würde die Kurden im Iran und in der Türkei in ihren Forderungen bestärken. Die Errichtung einer autonomen Region im Rahmen eines irakischen Föderativstaates wäre ein Präzedenzfall, ein Vorbild für die anderen Länder mit kurdischer Bevölkerung. Genau davor fürchtet man sich in Ankara, das sich schon jetzt im Namen der turkmenischen Minderheit anmaßt, über die innere Gestalt eines neuen Irak und insbesondere über das Schicksal der Provinz Kirkuk zu bestimmen. „Die USA müssen die Verantwortung dafür übernehmen, dass es hier nicht zu einem ‚zweiten Fall Zypern‘ kommt“, sagt man in Sulaimanija.

Was den Iran betrifft, so wird er dem Regime in Bagdad keine Träne nachweinen, das während des sich fast zehn Jahre hinziehenden iranisch-irakischen Krieges heimlich von den USA unterstützt wurde. Die iranische Führung befürchtet, das nächste Ziel auf der Liste der Amerikaner zu sein, auch deshalb dürfte sie gute Beziehungen zu den Kurden und Schiiten pflegen, die den Kurs einer neuen Regierung in Bagdad beeinflussen können. Und al-Hakim ist in der iranischen Hauptstadt, in der er seit Anfang der Achtzigerjahre lebt, ohnehin praktisch zu Hause.

Die Ersetzung des Regimes von Saddam Hussein durch eine mit den USA verbündete Regierung – wäre das nicht der große Coup in dem politischen Spiel, das mit dem Krieg in Afghanistan begonnen hat? Dann würden die Karten in der Region neu gemischt, die Vereinigten Staaten würden die Kontrolle über die irakischen Ölquellen ausüben und wären nicht mehr auf den einen privilegierten Bündnispartner Saudi-Arabien angewiesen. Dass auf diese Weise die strategischen Interessen der USA mit ihrem eigenen Streben nach Demokratie zusammenfallen, bestärkt die irakischen Kurden in ihrer Hoffnung, diesmal nicht im Stich gelassen zu werden. Ist das ein Traum, oder ist es Wirklichkeit?

dt. Grete Osterwald

* Journalist, Berlin.

Le Monde diplomatique vom 11.10.2002, von MICHEL VERRIER