13.12.2002

Jüdische Erfahrungen für Londonistan

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Jüdische Erfahrungen für Londonistan

ALLE zwei Jahre versammelt das Stephen-Roth-Institut [für Studien des zeitgenössischen Antisemitismus und Rassismus] an der Universität Tel Aviv, unter der Leitung von Dina Porat, die Entscheidungsträger der jüdischen Gemeinden und Universitätsvertreter aller fünf Kontinente. Sie sollen die Erscheinungsformen und das Ausmaß des Antisemitismus evaluieren. Das letzte Treffen Anfang Oktober 2002 in Mexiko hat bestätigt, dass die jüdischen Vertretungen seit der Welle antijüdischer Gewaltakte, die mit der zweiten Intifada einhergegangen ist, überall einen neuen Hauptfeind haben: An die Stelle des rechtsextremen und nationalpopulistischen Antisemitismus sind der radikale Islam und die extreme Linke getreten. In den Ländern des früheren kommunistischen Blocks hingegen (Ausnahme: Russland), so der israelische Historiker Raphael Vago, gelten Erstere immer noch als die größte Bedrohung. Dort hat der Islam bislang kaum Wurzeln geschlagen, der Zustrom muslimischer Immigranten ist begrenzt, und um die Linientreue gegenüber der einstigen UdSSR aufzukündigen, sind viele der Staaten auf Distanz zur arabischen Welt gegangen.

Die jüdischen Organisationen haben in der Folge überall einen „Ruck nach rechts“ gemacht. Manche Institutionen stehen noch unter dem Schock der antiisraelischen Stimmung auf der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban (2001). In ihren Augen ist die Menschenrechtsbewegung „weltweit feindlich gesinnt“ – wie es ein Delegierter der amerikanischen Anti-Defamation League ausdrückte – weshalb man neue Bündnispartner suchen müsse, namentlich unter den protestantischen Fundamentalisten, auch wenn diese in Israel mit missionarischem Eifer die Juden zu bekehren versuchen. Doch anders als in Frankreich, wo mitunter „der Islam“ pauschal als pathogen definiert und „die Linke“ mitsamt den Globalisierungsgegnern pauschal als antiisraelisch abgestempelt wird, verwehren sich die meisten Gemeinden gegen eine gefällige Islamfeindlichkeit und bemühen sich um den Dialog mit den arabischen und muslimischen Minderheiten.

In Lateinamerika etwa sind die jüdischen Gemeinden konfrontiert mit einem wachsenden politischen Engagement der Bürger arabischen Ursprungs – die mittlerweile in Argentinien, Ecuador wie Brasilien bereits wichtige politische Posten innehaben. Der Chilene Jorge Zeballos erinnert an die Tatsache, dass in seinem Land die 300 000 Menschen palästinensischer Herkunft, von denen 98 Prozent der griechisch-orthodoxen Religion angehören, offener als früher ihre Israelkritik artikulieren. Raphael Hodara aus Montevideo beklagt, dass die Beziehungen zwischen Juden und Arabern „frostig“ geworden seien, auch wenn nach einer Umfrage der Tageszeitung El Observador Scharon bei den Uruguayern größere Sympathie genieße als Arafat (19 zu 16 Prozent) und Israel mehr geschätzt werde als die Palästinenser (14 zu 13 Prozent) – wobei 70 Prozent der Befragten keine Stellung bezogen.

In den angelsächsischen Ländern mit ihren kommunitaristischen Gesellschaftsstrukturen setzen sich zahlreiche jüdische Einrichtungen dafür ein, den Aufbau islamischer Gemeinden zu fördern – vorausgesetzt, das Existenzrecht Israels wird anerkannt und der Terrorismus prinzipiell abgelehnt. Mike Whine vom Board of Deputies of British Jews, ein hervorragender Kenner von „Londonistan“, bietet den Muslimen, die staatlich finanzierte Konfessionsschulen gründen wollen, die jüdischen Erfahrungen in Sachen Integration an. Er konstatiert bei seinen Gesprächspartnern „eine berechtigte Angst vor Islamfeindlichkeit“ und hält die Radikalisierung der muslimischen Jugend für „ein Produkt des Rassismus und der Ereignisse im Nahen Osten“. Auch die jüdischen Einrichtungen Kanadas machen sich dafür stark, dass muslimische Schulen und Moscheen mit öffentlichen Mitteln finanziert werden. Sie stehen im Dialog mit dem Canadian Council of Imams. Der streng gläubige Vizepräsident der australischen Jüdischen Gemeinde, Jeremy Jones, der als Mitglied der australischen Delegation auch in Durban war, hat sich im April 2002, auf dem Höhepunkt der antijüdischen Welle, in einer „Gruppe zur Förderung des Dialogs zwischen Christen, Muslimen und Juden“ engagiert.

Die Islamologin Esther Webman von der Universität in Tel Aviv hat vor kurzem eine differenzierte Bilanz des Antisemitismus in der muslimisch-arabischen Welt vorgelegt. Ihr zufolge „kann man feststellen, dass die antisemitischen Ausfälle in der palästinensischen Presse nachgelassen und in der arabischen Presse zugenommen haben, so als wolle man in diesen Ländern die mangelnde Unterstützung der Palästinenser durch die arabischen Regierungen kompensieren“. Sie geht davon aus, dass es sich bei dem Konflikt im Nahen Osten um einen Zusammenprall der Rechte zweier Nationen und nicht zweier Glaubensrichtungen handelt, und schlussfolgert: „Der Antisemitismus in der arabischen Welt ist nicht das Haupthindernis zur Beilegung des Konfliktes.“ Während die These vom clash of civilizations in den jüdischen Gemeinden immer mehr Anhänger findet und jedes Selbstmordattentat etwas mehr radikalisiert, gibt es immer noch Widerstand gegen die „Allein gegen alle“-Position. Für Jeremy Jones muss „der Kampf gegen den Antisemitismus Bestandteil des Kampfes für die Menschenrechte bleiben“.

dt. Grete Osterwald

* Politologe, Autor von „Front National: eine Gefahr für die französische Demokratie?“, Bonn (Bouvier Verlag) 1998.

Le Monde diplomatique vom 13.12.2002, von JEAN-YVES CAMUS