13.12.2002

Weltmeister im Selbstbewusstsein

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Weltmeister im Selbstbewusstsein

DER vierte Platz bei der letzten Fußballweltmeisterschaft hat die Südkoreaner euphorisiert. Seitdem hat sich der Stolz auf das rot bedresste Nationalteam in eine Selbstbegeisterung verwandelt, die auch realitätsferne wirtschaftliche und politische Ambitionen hervorbringt. Und eine nationalistische Rhetorik, die sich nicht nur gegen die USA als den traditionellen Verbündeten der Nachkriegszeit richtet, sondern auch gegen den benachbarten Giganten China. Von TRISTAN DE BOURBON *

Während der Fußballweltmeisterschaft im Juli 2002 hat Südkorea die ganze Welt in Erstaunen versetzt. Das lag nicht daran, dass das Turnier besonders gut organisiert war oder die Stadien voll waren; überrascht hat vielmehr das Ausmaß der öffentlichen Begeisterung um den Ball. In den Medien wurden die Millionen von Zuschauern, die in Shirts mit der Aufschrift „Be The Reds“ ihre Mannschaft feierten, ausgiebig präsentiert. Während das Eröffnungsspiel vor den Großleinwänden im ganzen Land von nur 800 000 Zuschauern verfolgt wurde, nahm die Begeisterung immer mehr zu, bis beim verlorenen Halbfinale gegen Deutschland schließlich 7 Millionen Menschen auf den Straßen tanzten.

Für diesen Ausbruch des Patriotismus sorgten maßgeblich auch die örtlichen Medien. Die übertrafen sogar noch die überschwänglichen Lobeshymnen ihrer französischen Kollegen von 1998, die bereits als ziemlich chauvinistisch galten. Die Medien kannten nur noch das Wort Fußball, das übrige Tagesgeschehen wurde in Kurzmeldungen verwiesen, besonders auch die Wahlen auf Parlaments- und kommunaler Ebene, die zwar nur Teilwahlen, aber dennoch von entscheidender Bedeutung waren. Die Intensität dieser Euphorie kam besonders in den den Kommentaren von Kindern zum Ausdruck, die Korea schon als neuen Weltmeister sahen.

In Wirklichkeit aber sind dieser Monat und diese Atmosphäre, so schön, angenehm und friedlich sie auch gewesen sein mögen, nur in geringem Maße dem tollen Spiel der „Roten Teufel“ zu verdanken. Die Südkoreaner – die sich normalerweise kaum um Fußball kümmern – feierten den Eintritt ihres Landes in den geschlossenen Kreis der „großen Nationen“. Das ist bei ihnen gar nichts Neues, haben sie im Sport doch schon immer etwas anderes als Unterhaltung gesehen.

Wie das Wort „Begegnung“ andeutet, dienen sportliche Begegnungen vor allem dazu, die Einheit des Landes zu stärken und sein Image im Ausland zu fördern. Ein schlagendes Beispiel waren die Olympischen Sommerspiele 1988 in Seoul. „Damals“, kommentierte der Koreanologe Patrick Maurus, „musste das Land sich und anderen beweisen, dass es zu einer Weltmacht geworden war, indem es den Weg Japans beschritten hatte, nur besser und schneller: ‚Japan hat die Spiele gehabt, wir werden sie ebenfalls haben, und wir werden sie zu einem noch größeren Erfolg führen als die Japaner.‘ “

Mit einer solchen Vision im Rücken musste dieser Sieg – und der Weg der koreanischen Mannschaft war gewiss ein solcher – ein Erdbeben auslösen. Doch während die ausländischen Journalisten über dieses offene und feierfreudige Volk staunten, ohne die von der Regierung in Gang gesetzte gewaltige „Verführungs“-Strategie wahrzunehmen, suchte man auf dem Gebiet der Diplomatie vergebens nach einer ähnlichen Atmosphäre.

Einige Stunden vor dem Spiel um den dritten Platz gegen die Türkei brachen die Nordkoreaner am 29. Juni 2002 im Gelben Meer ein Seegefecht vom Zaun, bei dem fünf Südkoreaner getötet und neunzehn verletzt wurden und (wie erst später bekannt gegeben wurde) doppelt so viele bei ihren Gegnern. Die Medien, die öffentliche Meinung und in deren Gefolge die Politiker forderten nunmehr einen Wechsel der Regierungspolitik. Alle waren sich einig, dass Seoul nun keine Angst mehr haben solle, seinen feindlichen Bruder in Verlegenheit zu bringen. Sogar ein Krieg wurde ernsthaft ins Auge gefasst, sollte es zu einem erneuten Zwischenfall kommen.

„Unsere Militärpolitik muss einer vollständigen Revision unterzogen werden“, erklärte der Kandidat der konservativen Großen Nationalpartei und Favorit für die Präsidentschaftswahlen vom 19. Dezember, Lee Hoi-chang, am 1. Juli 2002: „Eine harte Antwort ist das einzige Mittel, die bewaffneten Provokationen Nordkoreas zu stoppen.“ Selbst die Mitglieder der von Präsident Kim Dae-jung gegründeten Demokratischen Millenniumspartei (DMP), wenden sich von dessen „Sonnenscheinpolitik“ ab, die auch der Präsidentschaftskandidat der Partei, Roh Moo-hyun, mit den Worten attackierte: „Sie ist an ihre Grenzen gestoßen und hat die Unterstützung des Volkes in beiden Koreas verloren. Es scheint mir besser zu sein, den Ausdruck ‚Sonnenscheinpolitik‘ nicht mehr zu verwenden. Sollte ich zum Präsidenten gewählt werden, werde ich eine andere, mehr auf Konsens abzielende Linie verfolgen.“

Den – relativen – Kurswechsel der koreanischen Diplomatie bekam nicht nur Pjöngjang zu spüren, sondern auch Tokio. Ursprünglich hatte man geglaubt, Japan und Südkorea würden sich durch die gemeinsame Ausrichtung der Weltmeisterschaft näher kommen; doch seit dem Tag des Finales haben die Reibereien zwischen Soeul und Tokio stark zugenommen. Anfang August kündigte eine Gruppe von Parlamentariern an, sich auf die im Japanischen Meer gelegenen felsigen Dogdo-Inseln zu begeben, die beide Länder für sich beanspruchen. Wie schon so oft wurden die japanischen Geschichtsbücher kritisiert, und die Polemik um die Rückbenennung des Japanischen Meers nahm an Schärfe zu. Südkorea lehnt diesen Namen ab, der „aus der Zeit der japanischen Kolonisierung der Halbinsel datiert und dem Ethnozentrismus Japans“ entspringe, und möchte ihn durch den Namen Östliches Meer ersetzen. Aber der wird nur von Korea unterstützt.

Die nationalistische Rhetorik richtet sich aber auch gegen den engsten Verbündeten. „Wir sind insgesamt mit den Vereinigten Staaten einverstanden“, versicherte Roh Moo-hyun, der Kandidat der DMP, auf dem Asien-Europa-Presseforum am 10. September in Seoul. „Dennoch sind wir dagegen, dass sie ihre Weltordnung errichten wollen und Nordkorea wegen der nuklearen Bedrohung zur Achse des Bösen zählen.“ Als George W. Bush im März 2002 Korea besuchte, stand Präsident Kim Dae-jung die Verärgerung zwar sichtlich ins Gesicht geschrieben, doch hält der asiatische Verbündete für gewöhnlich still. Offiziell ließ man sich den Dissens mitWashingtons harter Linie gegenüber Pjöngjang nie anmerken.

Das gilt auch für das Verhältnis zu Peking. Erstmals hat Seoul durch einen Sprecher des Außenministeriums gefordert, dass die sieben Nordkoreaner, die am 26. August beim Versuch, in China um politisches Asyl zu bitten, vor dem chinesischen Außenministerium verhaftet worden waren, nicht „gegen ihren Willen nach Nordkorea“ zurückgeschickt werden sollten. Bisher hatte die Regierung in dieser höchst sensiblen Frage nie Partei ergriffen: Ihr mächtiger Nachbar betrachtet die „nordkoreanischen Dissidenten“ als „illegale Einwanderer“.

Südkorea ist sich jedoch stets bewusst, dass China sein zweitgrößter Handelspartner ist. Die Turbulenzen im bilateralen Verhältnis halten sich also in Grenzen. So hat Seoul der Luftfahrtgesellschaft Asiana Air die Beförderung des Dalai Lama auf zwei Flügen zwischen Indien, Südkorea und der Mongolei untersagt. Schon früher hatte man, um China nicht zu verärgern, dem geistlichen und weltlichen Oberhaupt der Tibeter die Ausstellung eines Visums verwehrt. Und Mitte September sagte die Stadt Seoul eine Zeremonie zu Ehren des Gewinners eines Architekturpreises im letzten Moment ab – wegen dessen Rolle bei der Studentenbewegung auf dem Tienanmen-Platz im Jahre 1989.

Der nationalistische Schub macht sich auch in der Wirtschaft bemerkbar. Die Unternehmen wie die Regierung in Seoul formulieren Ziele, die – gemessen an der Größe und Kapazität des Landes – überdimensioniert erscheinen. In Anknüpfung an den vierten Platz bei der Fußball-WM verkündet die Regierung neuerdings, sie wolle das Land (das vor der Finanzkrise von 1997–1998 unter den Welthandelsnationen den dreizehnten Platz belegt hatte), „innerhalb von zehn Jahren zur viertgrößten Wirtschaft der Welt“ machen.

Das Verhalten der Unternehmen hat sich nicht grundsätzlich geändert. „Die Auswirkungen der Weltmeisterschaft sind noch nicht vollständig sichtbar geworden, weil dieses Selbstvertrauen und dieser Glaube an sich selbst bereits vorher da waren“, erklärt Philippe Tirault, Leiter der Niederlassung der Unternehmensberatung Heidrick & Struggles in Seoul. Die Strategie des koreanischen Konzerns Samsung für das 21. Jahrhundert ziele allen Ernstes auf das Ziel, „in jeder Kategorie weltweit die Nummer eins zu sein“. In der Tat hatte Lee Yoon-woo, einer der Direktoren der Samsung-Gruppe, Mitte Juli den Wunsch geäußert, „bis 2005 in den Bereichen Telefon der dritten Generation, digitales Fernsehen und Computerbauteile zu dominieren, um die Zahl ihrer ‚weltweit führenden‘ Produkte auf zehn zu erhöhen und 80 Milliarden Dollar Umsatz zu erreichen“. Derzeit beläuft sich der Umsatz auf 25 Milliarden Dollar.

Die Eroberung des Auslands ist wieder zum Leitmotiv der Chaebols, der koreanischen Unternehmenskonglomerate, geworden. Die von der Regierung betriebene Politik reduzierter Ausgaben und Investitionen wird nicht mehr befolgt. So gibt Samsung jedes Jahr 400 Millionen Euro für Werbung, 2 Milliarden für Marketing und ebenso viel für Forschung und Entwicklung aus. Konzentration auf das Basisgeschäft und Restrukturierung sind nicht mehr angesagt: die Gruppe hat immer noch über 64 Tochterunternehmen. Die Chaebols wollen wieder sehr schnell sehr hoch hinaus. Vergessen sind die Fehler, die vor weniger als fünf Jahren in die Krise geführt hatten.

Die Zukunft erscheint umso problematischer, als einige Wirtschaftsdaten zu Besorgnis Anlass geben. Zahlreiche Experten sehen kurzfristig sogar eine Krise voraus, wobei sie diesmal mit dem Finger auf die Bevölkerung zeigen. Von einer Rhetorik geblendet, die von der absoluten Zuverlässigkeit der eigenen Volkswirtschaft spricht und von der Verpflichtung aller, davon zu profitieren, nimmt die Bevölkerung bei den Geldinstituten Kredite in nie gekannter Höhe auf. Nach einem Bericht der Bank von Korea vom 25. September „liegt die durchschnittliche Verschuldung der Haushalte schon fast so hoch wie die durchschnittlichen Jahreseinkommen“.

Die Fußballweltmeisterschaft hat den koreanischen Nationalismus zwar angeheizt, aber keineswegs hervorgebracht. Der existiert schon so lange wie die Geschichte dieses Landes, das zwischen den Giganten China und Japan eingezwängt ist. Seit den ersten mongolischen Invasionen im 13. Jahrhundert befand sich Korea immer unter der Oberhoheit oder der expliziten Herrschaft eines seiner Nachbarn. Der Beginn der japanischen Kolonisierung im Jahre 1905 markierte eine wichtige Etappe in der Entstehung eines Gefühls nationaler Einheit. Doch so richtig deutlich bewusst wurde den Bewohnern die Idee der Zugehörigkeit zu ein und demselben „Korea“ offenbar erst 1945, also im Moment der Befreiung und der Teilung durch die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion.

Seither ist die Wiedervereinigung zum Ziel beider Teile geworden. „Während des Kalten Kriegs haben sich beide Seiten wechselseitig verunglimpft, um die Legitimation für die Regierung des Landes für sich zu reklamieren“, erklärt Kim Dal-chung, Professor für Internationale Beziehungen an der Yonsei-Universität. „So haben die Studenten und die Intellektuellen die Regierung des Südens heftig kritisiert, weil sie ihnen weniger nationalistisch zu sein schien als die des Nordens. Das hat sich auf unsere Beziehungen zu Japan ausgewirkt und in geringerem Maße auch auf die zu anderen Partnern. Denn eine betont nationalistische Haltung stärkt das Image der Regierenden bei der Bevölkerung.“

Die Vertreter der Macht haben sich bemüht, die von ihnen Regierten glauben zu machen, Südkorea sei dank ihrer Taten und ihres Rückhalts zu einer der größten Nationen der Welt geworden. Die Medien, vor allem aber die nationalen Bildungseinrichtungen erwiesen sich als perfekte Träger dieser Ideen. Das war umso notwendiger, als die Studenten seit 1989, also seitdem sie ins Ausland reisen dürfen, mit der Realität in Kontakt treten. „Man hatte mir immer gesagt, mein Land sei eines der wichtigsten der Welt“, erklärt Jeong-ho. „Als ich nach Frankreich kam, musste ich erkennen, dass fast niemand es auf dem Globus finden konnte.“

dt. Markus Sedlaczek

* Journalist, Seoul.

Le Monde diplomatique vom 13.12.2002, von TRISTAN DE BOURBON