13.12.2002

Was mit der „Joola“ unterging

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Was mit der „Joola“ unterging

LIEBER Diadié, seit der Schiffskatastrophe Ende September 2002 erreichen uns von überall her Botschaften des Mitgefühls. Ich bekam welche aus nächster Nähe, wie von dir, aber auch aus Trinidad und Athen. Über dich, Diadié, möchte ich zugleich Freunden wie Yanne und Beata, Louis, Noémie und Zohra antworten. Du hast in deinem Brief bewegende Worte zu unserer Tragödie gefunden. Dennoch frage ich mich, was eigentlich Wochen später im Kopf eines Fremden haften geblieben sein mag. So ist das in unserer Zeit: Da wir unbekannte Menschen in weiter Ferne unter Häusertrümmern stöhnen hören können, halten wir uns damit kaum mehr auf. Erinnere dich: Das Fährschiff „Joola“, das für 550 Passagiere ausgelegt war und zwischen Ziguinchor und Dakar verkehrte, hatte 1 220 Menschen an Bord. Nach nicht dementierten Pressemeldungen vielleicht sogar 2 000. Es gab 65 Überlebende. Mit Hilfe dieser Angaben ist die Rechnung leicht aufzumachen, aber niemand wagt es. Die genaue Zahl der Opfer ist mehr als ein Staatsgeheimnis, sie ist tabu.

Nun gibt es in deinem Brief einen kurzen Satz, über den ich beschämt und verärgert lächeln musste. Du schreibst: „Ich war der Ansicht, so etwas hätte überall in Afrika passieren können, nur nicht im Senegal.“ Ohne es zu ahnen, hast du das Messer in unserer Wunde gedreht. Auch wir haben gedacht, solche Dinge könnten nur anderen zustoßen. Übertriebene Bescheidenheit ist nie unser Fehler gewesen. Wenn es dieses böse Erwachen gab, dann weil wir uns in unserem Größenwahn zu lange sicher fühlten.

Von unserem ehemaligen Präsidenten Abdou Diouf haben wir verlangt, dass er sich bei den Wahlen am 19. März 2000 bereitwillig schlagen lässt und obendrein in der Niederlage auch noch Größe beweist. Wir wollten zweifach gewinnen – aufseiten des Siegers und aufseiten des Besiegten. Diouf hat sich großmütig auf dieses grausame Spiel eingelassen. Sein berühmter Telefonanruf bei Abdoulaye Wade, dem Wahlsieger, war weniger seines Inhalts als seiner klaren demokratischen Haltung wegen bedeutsam. Uns gab er die Möglichkeit, der Welt zu sagen: Seht her, sind wir nicht großartig, wir Senegalesen?

Ein knappes Jahr später hat das Begräbnis von Léopold Sédar Senghor die Aufmerksamkeit wieder in sehr schmeichelhafter Weise auf uns gelenkt: Jeder erinnerte sich, dass unser entschieden unkonventionelles Land als ersten Präsidenten einen ausgezeichneten Intellektuellen hatte, obwohl sein politisches Handeln bis heute umstritten ist. Auch sein freiwilliger Abschied von der Macht hat ihm Respekt eingetragen. Du erinnerst dich sicher.

Nichts hat uns so sehr den Kopf verdreht wie unsere sportlichen Meisterleistungen in Asien im Juni 2002: Das Eröffnungsspiel einer Fußballweltmeisterschaft hat etwas Besonderes. Es steht in gewissem Sinne noch außerhalb des Turniers und ist doch dessen Essenz. Es ist vor allem ein Duell, ein einmaliger Zweikampf. Vor den Augen der ganzen Welt haben wir uns an unserem ehemaligen Kolonialherrn revanchiert. Und während unserer Siegesserie stießen wir an jedem neuen Morgen lange Freudenschreie aus. Der neue Präsident hatte uns das Glück versprochen. Und da winkte sie uns schon, die glückliche Zukunft. Tatsächlich war es eine Zeit für Chimären aller Art. Nie war ein armes Land so reich an Flughäfen, transkontinentalen Autobahnen, Zukunftskonferenzen und anderen kalifornischen Ranches.

Es gab nur ein kleines Problem: All diese Dinge waren imaginär. Mit der erfolgreichen Fußballweltmeisterschaft im Rücken sollte nichts mehr unseren Vorwärtsdrang bremsen können. Als die ewigen Miesmacher anfingen, von Hungersnot zu reden, kamen Experten aus Marokko und sorgten dafür, dass sie den Schnabel hielten. Man hat uns, mit Hilfe wissenschaftlicher Tabellen, von künstlichem Regen träumen lassen. Und da das wirkliche Land an Wassermangel litt, zeigte das Fernsehen Archivbilder von tosenden, tropischen Wolkenbrüchen.

Niemand wurde getäuscht, und doch funktionierte das System blendend. Wir haben stets geglaubt, auf mehr oder weniger wundersame Weise dem Schlimmsten entrinnen zu können. Der Untergang der „Joola“ hat diesen absurden Träumereien ein böses Erwachen beschert. Wir begannen uns zu fragen, lieber Diadié, ob wir nicht aus purer Lust an der Abwechslung die Macht in gefährlich unerfahrene Hände gelegt hatten. Anstelle der versprochenen Baustellen begann das Regime von Wade, zwischen Dakar, Ziguinchor und Banjul insgeheim Notfriedhöfe anzulegen. Bestürzt sahen wir mit an, wie es, statt für neue Arbeitsplätze zu sorgen, hunderte von Leichen achtlos in Container werfen ließ. Nie war uns die Kluft zwischen unseren Wunschvorstellungen und der Realität so erniedrigend und unerträglich vorgekommen.

Und was soll man zu den Pannen sagen, die die Rettung unzähliger Menschen verhindert haben? Der Schiffbruch ereignete sich um 23 Uhr in einem Gebiet, wo seit zwanzig Jahren der Aufstand der „Bewegung der Demokratischen Kräfte von Casamance“ (MFDC) wütet. Bis acht Uhr morgens konnte keine zivile oder militärische Stelle kontaktiert werden. Es stimmt zwar, dass der Minister für Fischereiwesen noch in der Nacht informiert wurde. Er hat aber später arglos beteuert, dass er nichts habe tun können, weil er die Handynummer des Verkehrsministers nicht kannte. Er hat es so nicht gesagt, aber es war klar, dass er sich wieder schlafen gelegt hat, was ja durchaus menschlich ist. Für eine Situation, die so wenig zum Lachen reizt, ist man oft nah an der Lächerlichkeit gewesen.

Die Armee wurde von der Öffentlichkeit wegen ihres außerordentlich brutalen Vorgehens kritisiert – was für den Senegal etwas so Neues ist, dass es einen nachdenklich machen darf. Wir haben immer den größten Respekt für eine Armee gehegt, die niemals versucht hat, den Zivilisten die Macht streitig zu machen. Die Katastrophe brachte beunruhigende Defizite dieser Institution zum Vorschein. Sie hat vor allem das Bild der Professionalität getrübt, das ihr die Beteiligung an allen Friedensmissionen der Vereinten Nationen und der Organisation der Afrikanischen Einheit eingetragen hat. In einer einzigen Nacht hat der Schlendrian mehr Menschenleben gekostet als in den Jahren der Rebellion. Die Angehörigen der Opfer fordern übrigens – ein unerhörter Vorgang – die Absetzung des Generalstabschefs der Armee.

Präsident Abdoulaye Wade hat sehr schnell eingeräumt, dass der Schiffbruch kein Unfall war. Anstatt alles auf die Naturgewalten zu schieben, beschloss er, hart mit uns ins Gericht zu gehen. Du wirst mir erlauben, seine Aussagen frei wiederzugeben, ohne die geringste Furcht, sie zu entstellen. „Habgierig seid ihr und leichtfertig“, warf er uns an den Kopf, „ihr habt keinen Respekt vor dem Leben eurer Mitmenschen, schämt euch, die ihr das Betrügen so sehr liebt!“

Und ob du es glaubst oder nicht, alter Freund – trotz unserer Wut und unseres Schmerzes bebten wir innerlich vor Freude. Keine Ahnung, ob der Begriff einen Sinn ergibt, aber ich würde das Populismus mit umgekehrtem Vorzeichen nennen. Wir wollten gescholten werden, und ein Präsident mit einem offenen Ohr für unsere geheimsten Wünsche mochte sich da nicht kleinlich zeigen. Unser Volk, immer zum Prahlen aufgelegt, hat am 26. September die Vorzüge der kollektiven Selbstgeißelung kennen gelernt – und sich ihr überschwänglich, doch nicht ohne Ernst hingegeben. In Wirklichkeit aber war das vorherrschende Gefühl nach der Schiffskatastrophe die Scham. Wenn man sich kurz vor dem Gipfel wähnt, fällt es schwer zuzugeben, dass man, wie so viele andere, am Rand des Abgrunds steht. Hinter ihrem großspurigen Gehabe verbirgt unsere Demokratie so manchen traurig banalen Mangel.

Die „Joola“ hat nicht nur das Bild von uns zerstört, das durch tatsächliche Erfolge entstanden war. Sie hat bewirkt, dass wir nicht mehr stolz auf sie sind und dass sie sogar einen bitteren Beigeschmack haben. Als wir den Slogan „Der Senegal gewinnt“ über Gebühr strapazierten, waren wir nicht darauf gefasst, dass er auf uns zurückfallen könnte. Dann ging uns auf, dass wir drauf und dran waren, eine weitere Glanzleistung zu vollbringen: mit unserem einzigen Schiff sollten wir den Rekord der „Titanic“ brechen.

Das Bild der beiden Flugzeuge, die sich in die Twin Towers bohren, wird für immer das Sinnbild des 11. Septembers sein. Unser Drama wird untrennbar mit dem Bild der Pirogen verbunden bleiben, die man auf der Insel Karabane um das schon gefährlich krängende Schiff hat kreisen sehen, um ihm noch mehr Waren und Passagiere aufzuladen. Auf Karabane regnet es, und die Bilder des Amateurvideos wirken umso ergreifender, als sie unscharf und verwackelt sind. Wir befinden uns immerhin beinahe im Herzen der Finsternis. Eine Frau im blauen Kleid, vom Regen durchweicht, geht über eine Veranda, die seltsamerweise an irgendeinen fernen Dschungel erinnert. Die junge Frau verschwindet sodann in einem Blitz, noch ehe man versteht, was sie dort tut. Wenn der Tod auf diese Weise nahe kommt, gibt es nichts zu verstehen; nur so viel, dass das Desaster, von dem die Zeichen künden, mit Sicherheit eine neue afrikanische Tragödie sein wird. Letztlich heißt das, eine gewaltige, durch die Dummheit der Menschen verursachte Naturkatastrophe. Keine Politikerrede wird diese Gewissheit aus dem Gedächtnis tilgen: Das, was passiert ist, Diadié, haben wir der ungeheuren Inkompetenz unserer Regierenden zu verdanken.

Fast 1 500 Tote, ein Schiff mit seiner Ladung und hunderten verwesender Leichen auf dem Grund des Atlantiks – das ist eine teuflische Bürde für unser Gedächtnis. Unsere Würde liegt darin, sie zu tragen. Der Untergang der „Joola“ mag vor allem Demut lehren; wir können daraus Nutzen ziehen, vorausgesetzt, dass er unseren Präsidenten auf den Boden der Wirklichkeit zurückholt. Ein Land kann nicht wie im Atemstillstand am Tropf des vermeintlichen oder tatsächlichen Wissens eines einzigen Menschen hängen. Das macht uns unselbstständig und birgt die Gefahr, dass wir uns eines Tages gefesselt und geknebelt den übelsten Abenteuern ausliefern.

dt. Christian Hansen

* Senegalesischer Schriftsteller, 1946 geboren, studierte Literatur und Philosophie, schreibt Theaterstücke, Erzählungen, Romane und Essays. Er erhielt u. a. den „Grand Prix de la République du Sénégal pour les Lettres“ und war einer von zehn Teilnehmern am Literaturprojekt „Rwanda: écrire par devoir de mémoire“. Sein Buch „Murambi. Le livre des ossements“ (2000) ist in Paris bei Stock erschienen.

Le Monde diplomatique vom 13.12.2002, von BOUBACAR BORIS DIOP