13.12.2002

Eine Entdeckung, keine Erfindung

zurück

Eine Entdeckung, keine Erfindung

JEDES Menschenleben entwickelt sich aus den menschlichen Genen. Diese Gene sollten wir uns als Potenziale – und nicht als auferlegte Beschränkungen – denken. Viele Menschen befürchten, dass genetische Informationen über Individuen zu diskriminierenden Zwecken verwandt werden können, und diese Sorge muss sehr ernst genommen werden. Versicherungskonzerne drängen darauf, ihre Kunden genetisch testen zu dürfen und aufgrund der Ergebnisse über die Vergabe oder Nichtvergabe von Policen zu entscheiden. Sofern die Gesetze es zulassen, werden Versicherer und Arbeitgeber künftig die Vergabe von Policen bzw. Arbeitsplätzen von der Einwilligung zu genetischen Tests abhängig machen. Dem gilt es einen Riegel vorzuschieben. Solange fortlaufend Menschen an Krebs, Herzleiden und Altersdemenz erkranken, führen Schlagzeilen wie „Genetischer Code könnte alle Krankheiten knacken“ nur zu Enttäuschungen.

Das neue genetische Wissen ist eine unschätzbare Grundlage für innovative biologische und medizinische Forschungen. Aber dieses Wissen wird erst dann den größtmöglichen Nutzen erbringen können, wenn die Sequenzierung des menschlichen Genoms komplett ist. Es wird dann gleichsam ein bleibendes Archiv sein, auf das Wissenschaftler immer wieder zurückgreifen werden.

Die Ergebnisse der Gentests werden Ernährungsweise und Lebensstil der Menschen beeinflussen, was in den westlichen Konsumgesellschaften als eine große Marktchance betrachtet wird. Einer meiner Albträume ist, dass die Leute sich künftig bei der Wahl ihres Restaurants an ihrem Genotyp ausrichten. Da wird einiges durcheinander gehen und es wird natürlich viele Übertreibungen geben, aber trotz allem werden die Aussagen der Gentests ein Körnchen Wahrheit enthalten.

Realistisch betrachtet werden wir innerhalb des nächsten Jahrzehnts einige neue Arzneimittel gegen Krankheiten entwickeln, die zurzeit sehr schwer behandelbar sind. Mike Strattons Krebsforschungsgruppe im Sanger Centre beispielsweise untersucht Tumore auf ihre genetische Differenz zu normalem Gewebe. In vielen Fällen dürfte es einfacher sein, eine Zelle zu beseitigen, als sie zu heilen. Die Informationen über das Genom sollten es erleichtern, Angriffspunkte auf Tumorzellen zu erkennen und diese dann selektiv chemotherapeutisch zu zerstören, was wiederum weniger Nebenwirkungen und höhere Heilungsraten zeitigen wird als bei konventionellen Chemo- oder Strahlentherapien.

Die Sequenzierung des Genoms ist einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zur molekularen Anatomie des menschlichen Körpers. Dabei stehen wir nicht etwa am Ende, sondern noch ganz am Anfang; von den meisten Genen wissen wir weder, wie sie aussehen, noch wann oder wie sie in Proteineum gesetzt werden. Das Genom als solches verrät uns nichts über diese Dinge. Dennoch verfügen wir mit diesem Wissen über eine zentrale Ressource, über einen Werkzeugkasten, auf den die Forscher immer wieder zurückgreifen werden, während sie nach und nach die gesamte Struktur des Körpers von seinen Grundlagen her zu erkennen versuchen. Der nächste Schritt wird darin bestehen, alle Gene zu entdecken: herauszufinden, was durch das Genom im Einzelnen codiert wird, wo sich die Gene befinden und insbesondere, wo all die Kontrollsignale lokalisiert sind.

Im November 1995 entdeckte das Forschungsteam des Institute of Cancer Research (ICR, in Sutton, Surrey, England) in einer Familie, in der Brustkrebs gehäuft auftrat, eine Mutation auf dem Genort des Gens BRCA2. Kaum zwei Wochen nachdem die Sequenz zur Verfügung stand, hatte das Team diese Mutation auch schon bestätigt und fünf weitere dazu. Es bestand nun kein Zweifel mehr: Sie hatten das Gen gefunden. Mike Stratton beeilte sich, die Entdeckung seines Teams in der Zeitschrift Nature zu veröffentlichen; vor seinen Mitarbeitern hielt er sie bis zum letzten Augenblick geheim. Doch trotz seiner Vorsicht sickerten so viele Informationen zu Mark Skolnick von der Firma Myriad in Utah durch, dass Skolnick das Gen selbst lokalisieren und – am Tag vor der Veröffentlichung des ICR-Artikels in Nature – einen Patentantrag einreichen konnte. Trotz seiner Vorbehalte gegen Patente war sich Mike Stratton darüber im Klaren, dass er die Entdeckung seines Teams in einem so hart umkämpften Feld nur durch ein eigenes Patent gegen die kommerzielle Ausbeutung schützen konnte.

Das Institut ließ die erste Mutation patentieren und erhielt später ein Patent für mehrere weitere Mutationen. Inzwischen beanspruchten die Patentanträge von Myriad bereits die Rechte am gesamten Gen. Die Wissenschaftler aus Utah hatten ein anderes Gen (BRCA1), auf das sie ebenfalls Patente besitzen, als Erste geklont. Sie gründeten in Utah ein kommerzielles Diagnostikzentrum, und nachdem ihnen die Patente zugesprochen worden waren, drohten sie jedem anderen Labor in den USA mit rechtlichen Schritten, das eines der beiden Gene zur Brustkrebsdiagnose einsetzen sollte. Alle diagnostischen Tests dieser Art mussten fortan zum Preis von 2 500 Dollar pro Patientin im Myriad-Labor durchgeführt werden. Zwar wurden Lizenzen für die Anwendung einfacherer Tests zur Entdeckung einfacher Mutationen auch an andere Labors vergeben, aber auch diese kosteten mehrere hundert Dollar pro Test. Einer dieser Tests weist eine Mutation auf dem BRCA2-Gen nach, die von Mikes Team entdeckt wurde und die besonders häufig bei aschkenasischen Juden vorkommt. „Die Aschkenasim-A-Mutation stand in unserer allerersten Veröffentlichung“, konstatiert Mike, „und Myriad verlangt nun von allen Frauen in den USA eine Gebühr für eine Mutation, die von uns nachgewiesen wurde.“ Das empfand Mike, der selbst aschkenasischer Jude ist, als besonders skandalös.

Die Rechte, die Myriad an diagnostischen Tests für die beiden BRCA-Gene angemeldet hat, und die von der Firma verlangten Preise schlagen natürlich im Gesamtetat des Gesundheitswesens zu Buche. Aber schlimmer noch erscheinen mir die Folgen für die Wissenschaft und künftige Behandlungsmöglichkeiten. Wenn die Forschung erst einmal verstanden hat, wie die Mutationen auf BRCA1 und BRCA2 das Tumorwachstum freisetzen, werden sich neue Therapiemöglichkeiten ergeben. Aber in Anbetracht der Patente wird ausschließlich Myriad diese Therapien vermarkten dürfen. Für andere Organisationen, die ebenfalls über das nötige Fachwissen verfügen, besteht kein Anreiz, sich ins Zeug zu legen; und selbst wenn ihnen neue Entdeckungen gelingen, werden diese zunächst vor allem die Anwälte beschäftigen, die für das Aushandeln von Lizenzverträgen zuständig sind. Am Ende wird wegen der Patente deutlich weniger intellektuelle Energie auf die Lösung des Problems verwandt werden. Meiner Ansicht nach verfolgen Unternehmen wie Myriad ein kurzsichtiges Profitinteresse, das auf Kosten der langfristigen Gesundheitsfürsorge geht – wobei Letztere doch gerade immer als Rechtfertigung für das gesamte Projekt der Genomsequenzierung ausgegeben wird.

Obschon 1995 die vollen Konsequenzen von Myriads aggressivem Vorgehen noch nicht abzusehen waren, zeichnete sich doch damals schon deutlich ab, wohin die Ausrichtung auf den kommerziellen Profit führen würde. Daher erschien es uns dringend geboten, alle Forscher, die in den verschiedenen Ländern an der Sequenzierung arbeiteten, darauf zu verpflichten, ihre Erkenntnisse über das Genom öffentlich bekannt zu geben, statt sie durch Einzelabkommen zwischen Firmen und Forschern zu fragmentieren und dem Profitdiktat zu unterwerfen. Deshalb haben wir ein internationales Strategietreffen anberaumt, auf dem darüber beraten werden sollte, wer was tut und wie mit den Daten umgegangen werden sollte. Dieses Treffen, das 1996 in Bermuda stattfand, erwies sich als äußerst konstruktiv. Für die Forscher war es die erste Gelegenheit, ihre Ergebnisse eingehend zu vergleichen. Dabei wurde schließlich auch der Grundstein für das Prinzip gelegt, dass die Aufklärung des Genoms durch eine weltweit gemeinschaftliche Autorschaft zu erfolgen habe. Wir mussten einfach zusammenarbeiten, weil keiner von uns zum damaligen Zeitpunkt das Ganze allein hätte schaffen können. Alle waren mit schriftlich fixierten Forderungen angereist, die Ansprüche auf die Sequenzierung bestimmter Regionen erhoben, doch im Verlauf des Treffens konnten die konkurrierenden Ansprüche weitgehend abgeklärt werden.

Am Ende des Treffens berieten wir über das Problem der Veröffentlichung der Daten. Unfertige Daten wurden damals noch nicht automatisch in öffentliche Datenbasen eingespeist, wohl aber fertig analysierte Sequenzen. Doch wie schon beim Genom des Wurms stellten wir auch jetzt unsere Daten über unvollständige menschliche Genomsequenzen auf unseren eigenen Webseiten zur freien Verfügung, so dass jeder sie herunterladen und mit ihnen weiterarbeiten konnte. Unsere einzige Bedingung: die Unvollständigkeit der Sequenzierung musste anerkannt und die Quelle der Daten in jeder Publikation genannt werden. Alle Mitarbeiter am Sanger Centre und alle mit uns kooperierenden Wissenschaftler mussten unser Vorgehen akzeptieren. Wir publizierten laufend solche Ergebnisse, oft genug gegen den Widerstand der Leute, die nützliche (und womöglich Gewinn bringende) Gene vor allen anderen zu isolieren hofften.

Ich war der festen Überzeugung, dass man das Prinzip der Datenfreigabe durchsetzen müsse, damit wir uns untereinander weiterhin vertrauen konnten. Bob Waterson und ich hatten in Bermuda den Vorsitz. Da stand ich nun vor einem Halbrund von Stühlen und versuchte, meine Argumente wirksam vorzubringen. Ich hielt es für sehr unwahrscheinlich, dass alle zustimmen würden. Mehrere der Anwesenden, darunter Craig Venter von TIGR, hatten bereits Verbindungen zu kommerziellen Organisationen. Es war also zu erwarten, dass meine Idee, alle Daten gratis preiszugeben, auf Widerstand stoßen würde. Aber während ich dort stand und auf die Wandtafel kritzelte, mal Wörter auswischte, mal neue hinzufügte, zimmerten wir nach und nach eine Erklärung zurecht. Der Wellcome Trust [Hauptsponsor des Sanger Institute] hat in seiner Sammlung ein Foto dieser handgeschriebenen Erklärung mit ihren drei wichtigsten Punkten. Sie lauten: – Automatische Freigabe von Sequenzstücken größer als 1 kb (vorzugsweise täglich) – Sofortige Vorlage vollständiger, annotierter Sequenzen

– Ziel, alle Sequenzen in der Öffentlichkeit für Forschung und Entwicklung frei zugänglich zu machen, um ihren gesellschaftlichen Nutzen zu maximieren.

Während Bob und ich unsere Kollegen aus der Wissenschaft bearbeiteten, bemühte sich Michael Morgan um die Geldgeber. Die Richtlinien, die ich an die Tafel geschrieben hatte, wurden mit geringfügigen Änderungen als „Bermuda-Prinzipien“ bekannt und dienen bis heute als Richtschnur für jede umfangreichere öffentlich finanzierte Sequenzierung.

Ich war sehr überrascht, als am Ende alle Anwesenden die Hände hoben. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir eine so umfassende Zustimmung erhalten würden. Manche der Delegierten stimmten grundsätzlich zu, hatten jedoch Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung, weil sich ihre Regierungen – im Interesse einer Patentierung von einzelnen Genomsequenzen – der Forderung nach schneller Veröffentlichung widersetzten. „Viele kleinere Länder misstrauten den Vereinigten Staaten“, berichtete Michael Morgan. „Sie dachten, dass die USA nur so tun, als seien sie an einem freien Austausch interessiert, während sie in Wirklichkeit insgeheim schon patentierten.“ Aber es durfte keine Ausnahmen geben, sonst hätte die ganze Idee nicht funktioniert. Offener Zugang und sofortige Veröffentlichung bedeuten, dass jedes Mitglied der weltweiten Biologengemeinde die Daten einsehen und zur Produktion biologischen Wissens und in letzter Instanz auch von neuen, patentierbaren Erfindungen verwenden kann. Aber die Sequenz als solche in ihrer Rohform wird durch die Veröffentlichung unpatentierbar. Und in Bermuda gelang es uns zum ersten Mal, die meisten an der Genomsequenzierung arbeitenden Kollegen davon zu überzeugen, dass dies wünschenswert sei. Es war ein gutes Omen, dass so viele Leute die Vision von der Genomsequenz als gemeinsames „Erbe der Menschheit“ teilten, wie es in Artikel 1 der von der Generalversammlung der Unesco 1997 verabschiedeten „Universal Declaration on Human Rights and the Human Genome“ heißt.

Im letzten Jahrhundert sind die Natur- und die Kulturwissenschaften stärker auseinander getreten als je zuvor. Für viele ist die Naturwissenschaft nicht Bestandteil der „Kultur“. Diese Einstellung geht meines Erachtens zu einem guten Teil auf die zunehmende Gleichsetzung von Naturwissenschaft und Technik zurück, die mancherorts schon so weit geht, dass man die technische Entwicklung als einzigen Zweck naturwissenschaftlicher Erkenntnis ansieht. Für die Finanzierung hat dies zur Folge, dass Forscher heute dazu angehalten werden, ihre Entdeckungen ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen Konsequenzen kommerziell zu verwerten. Schlimmer noch: Entwicklung und Verwertung stehen unter dem Diktat kurzfristiger Profitmaximierung, sodass Individuen, Firmen und Nationen im verzweifelten Wettlauf um einschlägige Erfolge im nächsten Quartalsbericht liegen.

Die Genomsequenz des Menschen ist eine Entdeckung, keine Erfindung. Sie ist wie ein Berg oder ein Fluss eine natürliche Gegebenheit, die zwar nicht vor uns da war, aber lange bevor wir ihrer Existenz gewahr wurden. Ich gehöre zu denen, die die Erde als gemeinschaftliches Gut ansehen, das niemandem privat gehören sollte, wenngleich fast alle von uns kleine Stücke davon zu unserem privaten Gebrauch eingezäunt haben. Wenn ein Landstrich besonders bedeutsam ist – aufgrund seiner Schönheit oder weil er eine seltene Spezies beherbergt –, kann er als öffentliches Gut ausgewiesen und geschützt werden.

Natürlich lässt sich über das rechte Verhältnis zwischen privatem und öffentlichem Landbesitz und zwischen privater und öffentlicher Nutzung ewig streiten. Das menschliche Genom ist einfach nur ein extremer Fall derselben Sache. Jeder von uns trägt sein persönliches Exemplar mit sich spazieren, und jeder Teil ist einzigartig. Niemand kann behaupten, ein bestimmtes Gen gehöre ihm, denn sonst gehörte ihm auch eines meiner Gene. Und man kann sich auch nicht darauf verständigen, die Gene „unter uns aufzuteilen“, weil jeder von uns alle seine Gene braucht. Ein Patent räumt natürlich nicht den buchstäblichen Besitz an einem Gen ein, aber es verleiht das Recht, anderen die kommerzielle Nutzung dieses Gens zu untersagen.

Das Einzäunen eines Gens sollte meiner Ansicht nach strikt auf die konkrete Anwendung begrenzt werden, an der jemand gerade arbeitet – also auf einen innovativen Schritt. Vielleicht möchte ich oder irgend jemand anderes an alternativen Anwendungen arbeiten, dann brauchen wir natürlich ebenfalls Zugang zu dem Gen. Man kann nicht hingehen und ein menschliches Gen erfinden. Alles was an Genen entdeckt wurde – ihre Sequenz, ihre Funktionen und so weiter – muss dem Wettbewerb vorgeordnet und dem Zugriff von Eigentumsrechten entzogen bleiben. Schließlich soll das Patentsystem ja der Förderung des Wettbewerbs dienen. Die wertvollsten Anwendungen eines Gens kommen oft erst lange nach den ersten, simplen Anwendungen. Der freie Zugang zu den Genen ist also nicht nur eine Frage des Prinzips, vielmehr hätte jede Beschränkung auch äußerst ernste Konsequenzen.

Im März 2000 verkündete Human Genome Sciences, eine 1992 gemeinsam mit TIGR gegründete Firma (zu der TIGR fünf Jahre später jede Verbindung abbrach), dass sie ein Patent auf ein Gen namens CCR5 erhalten habe, das einen Rezeptor auf der Zelloberfläche codiere. Als das Patent beantragt wurde, wusste das Unternehmen noch gar nicht, wozu dieser Rezeptor eigentlich gut ist. Während des Patentierungsverfahrens entdeckte eine Gruppe von öffentlich finanzierten Forschern innerhalb des National Institute of Health, dass Menschen mit einem Defekt auf diesem Gen gegen die Ansteckung mit dem Aids-Virus HIV immun sind. Mit anderen Worten, CCR5 scheint eine der Eintrittspforten zu sein, durch die das Virus in die Zellen dringt.

Kaum hatte Human Genome Sciences von der Entdeckung Wind bekommen, konnten sie die Rolle von CCR5 auch schon experimentell bestätigen und sich das Patent ausstellen lassen. Das Unternehmen beanspruchte damit das alleinige Recht zur Nutzung des Gens, egal zu welchem Zweck. Es hat inzwischen Lizenzverträge mit verschiedenen Pharmafirmen abgeschlossen, die auf der Grundlage dieses Wissens neue Arzneimittel und Impfstoffe entwickeln möchten. Aber wer hat hier eigentlich die innovative Leistung erbracht? Das Unternehmen, das mit einer zufällig ausgewählten Gensonde im Computer einen Glückstreffer erzielte? Oder die mit öffentlichen Geldern bezahlten Forscher, die herausfanden, dass dieses Gen bei Leuten „defekt“ ist, die gegen HIV immun sind?

William Haseltine von Human Genome Sciences behauptet, Patente führten zu größeren Fortschritten in der medizinischen Forschung und das CCR5-Patent werde wahrscheinlich einen neuen Impfstoff gegen HIV ermöglichen. Aber eine Umfrage in den Forschungslabors amerikanischer Universitäten ergab, dass viele Wissenschaftler sich von der Arbeit mit bestimmten Genen abschrecken lassen, weil sie befürchten, enorme Lizenzgebühren an Unternehmen zahlen zu müssen oder verklagt zu werden. Die Richtlinien zur Patentierung von Genen wurden vor kurzem in den Vereinigten Staaten überarbeitet, um die Definition des Nutzens etwas enger zu fassen: Der Nutzen aus der vorgesehenen Verwertung des Gens muss nunmehr „erheblich, spezifisch und glaubhaft“ sein. Damit wurden zwar extrem spekulative Anwendungen ausgeschlossen, aber dennoch ist es nach wie vor möglich, Sequenzen mit der Begründung zu patentieren, sie dienten zur Sondierung eines bekannten Krankheitsgens.

DIE Europäische Patentrichtlinie, die 1998 vom Europäischen Parlament verabschiedet wurde, sieht vor, dass die Sequenz oder Teilsequenz eines Gens als „Zusammensetzung von Materie“ patentiert werden kann, vorausgesetzt sie konnte außerhalb des menschliches Körpers repliziert, also zum Beispiel in ein Bakterium kopiert werden, wie wir es beim Sequenzieren tun. Diese Position habe ich schon immer für absurd gehalten. Das Wesentliche an einem Gen ist die Information – die Sequenz; ob diese in einem anderen Format reproduziert werden kann oder nicht, ist völlig unerheblich. Es ist etwa so, als nähme ich mir die gebundene Ausgabe eines von irgendeinem Autor verfassten Buches, veröffentlichte es als Taschenbuch und behauptete, ich sei der Urheber, weil es einen anderen Einband hat.

Die Anzahl der Patentanträge auf Gene von Menschen und anderen Organismen liegt schon bei über einer halben Million, mehrere tausend Patente sind bereits erteilt worden. Aber das Problem der Genpatentierung bleibt nach wie vor komplex und unübersichtlich. Das „US Patent and Trademark Office“ hält die Entdeckung eines Gens für patentierbar und vergab bis zur jüngsten Novelle sogar Patente auf Genfragmente, deren deklarierter Nutzen einzig und allein in ihrer Eignung als „Gensonde“ bestand. Das Europäische Patentamt hielt sich mit der Patentierung von Genen zurück, bis die EU 1998 ihre Richtlinie verabschiedete, die die Patentierung von Gensequenzen ausdrücklich erlaubt. Mehrere Mitgliedstaaten, insbesondere Frankreich, stehen der Patentierung von Gensequenzen sehr kritisch gegenüber und haben die Richtlinie angefochten, während andere EU-Länder, darunter auch Großbritannien, eine liberalere Linie vertreten, damit ihre Biotech-Industrien nicht gegenüber den US-amerikanischen Unternehmen ins Hintertreffen geraten.

Jeder Versuch, mit Hilfe moralischer oder gar juristischer Argumente eine einvernehmliche Lösung zu erreichen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Verschacherung der Gensequenz an Privatinteressen lässt sich am besten dadurch verhindern, dass man die Gensequenz so weit wie möglich öffentlich zugänglich macht. Diese Daten sind dann nämlich „allgemein bekannte Information“ und können nicht mehr von Partikularinteressen unter Patentschutz gestellt werden. Und ich finde, dass das internationale Sequenzierungskonsortium hinsichtlich der Rohsequenz mit diesem Vorgehen recht erfolgreich war. Durch die Veröffentlichung der kommentierten Sequenz machen wir inzwischen auch Informationen über die Funktionen von Genen allgemein zugänglich, was die Privatisierung weiter erschwert.

Verschiedentlich wurde vorgeschlagen, die Grenze der Patentierbarkeit zwischen lebendiger und nicht lebendiger Materie zu ziehen. Obschon ich die dahinter stehende Sorge verstehe und ebenfalls meine, dass der Wert von Lebewesen nicht ausschließlich kommerziell bemessen werden sollte, halte ich diesen Standpunkt doch für unvertretbar. Die Unterscheidung wird über kurz oder lang hinfällig werden, weil die Kluft, die ehedem zwischen dem Biologischen und dem Chemischen bestanden hat, sich zusehends schließt. Aber kann es denn angehen, dass wir ganze Lebensformen wie transgene Mäuse oder Baumwollpflanzen patentieren? Sicher nicht. Doch das kann man nicht nur damit begründen, dass es sich um Lebewesen handelt: Ein stichhaltigerer Grund wäre, dass wir den Organismus als solchen nicht erfunden haben, sondern lediglich die kleine Änderung, die ihn (im Falle der Mäuse) für Krebs empfänglich oder (im Falle der Baumwolle) gegen Schädlinge resistent macht.

Die Zukunft der Biologie ist aufs Engste mit der Bioinformatik verknüpft, mit dem Forschungsbereich also, der alle Arten von biologischen Daten sammelt und versucht, aus deren Gesamtheit Schlüsse zu ziehen und Prognosen abzuleiten. Diese Tätigkeit setzt voraus, dass die Daten weithin zugänglich sind, und sie ergänzt ihrerseits wiederum die Arbeit der experimentellen Biologen. Dieses Projekt ist nicht nur an sich faszinierend, sondern es wird auch medizinische Fortschritte hervorbringen. Damit es vorankommt, muss jeder über alle Basisdaten verfügen, sie interpretieren, ändern und weitergeben können, wie wir es von Software mit öffentlichem Quellcode her kennen. Die Sache ist zu komplex, als dass man hier schrittchenweise vorgehen und nur begrenzte Datenmengen herausgeben könnte, während irgendein Unternehmen den Schlüssel dazu in der Hand behält.

In den westlichen Gesellschaften hat der Glaube an die Segnungen des Privateigentums auf Kosten des Gemeinwohls derzeit Hochkonjunktur. Aber wir können keine sinnvollen kollektiven Entscheidungen treffen, solange die Verhandlungsregeln ausschließlich durch Profitgier diktiert werden. Diese Profitgier hätte beinahe zur Privatisierung unseres ureigenen kollektiven Codes, des menschlichen Genoms, geführt, und sie stellt immer noch eine echte Bedrohung dar. Der Kampf um das menschliche Genom war notwendig, und die Welt sähe heute anders aus, hätte sich der Gedanke des öffentlichen Zugangs nicht durchgesetzt. Die Genomsequenz ist heute ein wesentlicher Bestandteil eines freien und offenen biologischen Informationssystems. Und dieses System wird zur schnellstmöglichen Erweiterung unserer Erkenntnisse und der daraus erwachsenden Nutzanwendungen führen.

aus dem Englischen von Robin Cackett

* Träger des Nobelpreises für Medizin 2002. Biologe. Gründer des Sanger-Instituts in Cambridge (UK). Autor von „The Common Thread. A Story of Science, Politics, Ethics and the Human Genome“, London (Bantam) 2002.

Le Monde diplomatique vom 13.12.2002, von JOHN SULSTON