Indien – neue Werkbank der Welt?
Mit den am 19. April beginnenden Parlamentswahlen will sich Premier Narendra Modi im Amt bestätigen lassen. Seit zehn Jahren verfolgt er einen zunehmend autoritären Kurs. Der Westen hingegen möchte das Land als geopolitischen und ökonomischen Partner aufbauen.
von Bénédicte Manier
Bangalore ist die Hauptstadt des südindischen Bundesstaats Karnataka. Die drittgrößte Stadt des Subkontinents, mit einer Bevölkerung von 8,5 Millionen, gilt als Zentrum des indischen Silicon Valley.
Am 12. Dezember 2023 machte die Regierung von Karnataka eine Bekanntmachung, die wie eine Bombe einschlug: Das taiwanische Unternehmen Foxconn, Hauptproduzent von Apples iPhone, will die Investitionen in seine Fertigungsanlagen in Bangalore von 1 Milliarde Dollar auf 2,7 Milliarden Dollar aufstocken.1
Schafft es Premierminister Narendra Modi also tatsächlich, sein Land zum neuen „globalen Zentrum für die Produktion elektronischer Systeme“ zu machen, wie er immer wieder tönt?
Zweifellos ist die indische Regierung ein Hauptnutznießer des aktuellen Trends zum Abbau von internationalen wirtschaftlichen Risiken. Diese als De-Risking bezeichnete Strategie soll auf der ökonomischen Ebene die Abhängigkeit der internationalen Unternehmen von China verringern und auf geopolitischer Ebene dessen Zuwachs an Macht abbremsen.
In internationalen Medien ist neuerdings häufig zu lesen, nunmehr seien alle Voraussetzungen für eine grundlegende Neuordnung der Kräfteverhältnisse in Asien gegeben. Nach den Weltbank-Zahlen von 2022 ist Indien – gemessen am kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf – die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, hinter China und den USA, und vor Japan und Deutschland.2 Zudem kann Indien aktuell die höchste Wachstumsrate der Welt melden: Nach 6,7 Prozent im Jahr 2023 prognostiziert der Internationale Währungsfonds (IWF) 6,5 Prozent für 2024 – deutlich mehr als die Prognose von 4,6 Prozent für China.3
Modi wirbt für „Make in India“
Als zeitgemäßes Symbol für den Höhenflug Indiens betrachten viele im Land den erfolgreichen Mondflug einer indischen Rakete im August 2023. Auch international herrscht in Wirtschafts- und Regierungskreisen wie in den Medienredaktionen eine große Begeisterung über den Aufstieg Indiens zur „neuen Werkbank der Welt“. Die tatsächliche Lage des Landes legt jedoch eine vorsichtigere Einschätzung nahe.
Seit 2023 ist Indien mit seinen fast 1,43 Milliarden Einwohner:innen das bevölkerungsreichste Land der Erde und verfügt auch über die größte Erwerbsbevölkerung: Das sind aktuell 970 Millionen Menschen, und bis 2030 sollen es mehr als 1 Milliarde sein. Nach UN-Prognosen wird dieser Zuwachs noch bis mindestens 2050 anhalten.
Indien ist zudem auch ein junges Land: 40 Prozent der Einwohner sind unter 25 Jahre alt, das Medianalter liegt bei 28 Jahren, im Vergleich dazu in China bei 39 Jahren (Zahlen für 2023). Die Differenz zu China wird sich nach UN-Berechnungen bis 2050 noch ausweiten.4 Derzeit drängen Jahr für Jahr mehr als 10 Millionen junge Menschen auf den Arbeitsmarkt, was in den Augen ausländischer Investoren – zumindest auf den ersten Blick – ein gewaltiger Pluspunkt ist.5
Ein großer Teil der indischen Arbeitskräfte ist allerdings nur mangelhaft ausgebildet. Millionen von Schüler:innen, vor allem auf dem Land, gehen ohne Abschluss von der Schule ab; zudem lässt die Qualifikation gerade in technischen Bereichen sehr zu wünschen übrig.6
Obwohl es in Indien weit mehr junge Menschen als in China gibt, erhalten weniger eine Ausbildung in den Bereichen Naturwissenschaften, Technologie, Ingenieurwesen und Mathematik: 2020 waren es in Indien in den entsprechenden Fächern 2,55 Millionen Hochschulabsolventen gegenüber 3,57 Millionen in China.7 Die Zahl dieser technisch qualifizierten Arbeitskräfte lag in China also um 38 Prozent höher (relativ zu den Bevölkerungszahlen von 2020). Noch problematischer ist, dass über 80 Prozent der indischen Ingenieure nicht über die Qualifikationen verfügen, die internationale Unternehmen erwarten.8
Aufschlussreich sind zudem zwei weitere Kennzahlen: Die Analphabetenrate in Indien beträgt nach Angaben der Weltbank 24 Prozent; und 17 Prozent der Gesamtbevölkerung gelten als
unterernährt. Für China liegen diese beiden Zahlen bei jeweils 3 Prozent.
Auch in der Industriepolitik lassen sich große Schwächen feststellen. Die Politik des „Make in India“, die Modi zu Beginn seiner ersten Amtszeit im Mai 2014 propagiert hatte, trug bislang keine Früchte. Modi versprach damals, den Anteil der verarbeitenden Industrie am BIP bis 2022 auf 25 Prozent zu steigern und 100 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen.
Heute stagniert dieser Anteil weiterhin bei dürftigen 15 Prozent, und die Zahl der Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie sank von 2017 bis 2023 sogar von 51 Millionen auf 35,6 Millionen.9 Diese extrem niedrige Zahl geht insbesondere auf die Tatsache zurück, dass 80 Prozent der Beschäftigten im informellen Sektor tätig sind.
Indien bemüht sich intensiv um ausländische Direktinvestitionen und verweist dabei insbesondere auf eine leistungsfähige Infrastruktur und vereinfachte Genehmigungsverfahren bei Investitionen in Sonderwirtschaftszonen (SWZ) und in spezielle Industrieparks, die als Nationale Investitions- und Produktionszonen (NIMZ) bezeichnet werden.
In den Sonderwirtschaftszonen angesiedelte Unternehmen genießen außerdem Steuervorteile für Exporte: vollständige Steuerbefreiung für fünf Jahre und ein halbierter Steuersatz in den folgenden fünf Jahren. Für die NIMZ wiederum hat man die im restlichen Land geltenden Arbeits- und Umweltgesetze gelockert.
Die administrativen Verfahren für private Investitionen wurden vereinfacht. Die Regierung betont, dass sie rund 39 000 Vorschriften abgeschafft hat. Und sie kann damit werben, dass behördliche Prozeduren und Dienstleistungen zügig digitalisiert werden.
Durch den Abbau bürokratischer Hürden will man in- und ausländischen Unternehmen den roten Teppich ausrollen. Auch auf lokaler Ebene wetteifern die Bundesstaaten miteinander in ihren Bemühungen um Investoren, die sie etwa durch zinsgünstige Kredite, Sondertarife für Strom oder auch Zuschüsse für den Erwerb von Grundstücken anlocken wollen.
Die Ergebnisse bleiben jedoch hinter den Erwartungen zurück. Die Inlandsinvestitionen, also Investitionen indischer Wirtschaftsakteure, sind zwar nach wie vor hoch, aber rückläufig. Sie beliefen sich 2012 noch auf 39 Prozent des BIPs, zwischen 2015 und 2020 aber auf durchschnittlich nur noch 31 Prozent, wie Rajiv Kumar, Vizepräsident des staatlichen Wirtschaftsforschungsinstituts NITI Aayog ermittelt hat.10 Die Hälfte der inländischen Investitionen wurden von Unternehmen getätigt, ein Drittel von Privathaushalten, die in Immobilien oder in die Gründung von Klein- und Mittelbetrieben flossen. Vom öffentlichen Sektor finanzierte Projekte machen nur etwa 12 bis 13 Prozent der Inlandsinvestitionen aus.
Die ausländischen Direktinvestitionen hingegen nehmen zu. Indien ist (laut Unctad, der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung) das achtgrößte Zielland für Investoren weltweit.11 Dennoch sind die 49 Milliarden US-Dollar, die 2022 nach Indien flossen, relativ bescheiden im Vergleich zu den Summen, die andere große Volkswirtschaften anziehen konnten: 285 Milliarden US-Dollar gingen in die USA und 189 Milliarden Dollar nach China, also fast viermal so viel wie nach Indien. Selbst Brasilien lag mit 86 Milliarden US-Dollar noch klar vor Indien.
Ende 2021 nannte der Minister für Handel und Industrie, Piyush Goyal, gegenüber dem Parlament in Delhi die Zahl von 12 500 Niederlassungen ausländischer Unternehmen, von denen 10 700 allein im Zeitraum von 2014 bis 2021 nach Indien gekommen seien.12 Doch 2700 hatten das Land bereits wieder verlassen, darunter bedeutende Unternehmen wie Ford, General Motors, Holcim (Zement), Harley Davidson sowie die Einzelhandelskonzerne Carrefour und Metro.
Zwar lässt sich ein Teil der Abwanderung mit der Coronapandemie erklären, doch in vielen Fällen waren andere Gründe ausschlaggebend. Häufig fanden die Unternehmen nicht die erhofften inländischen Absatzmärkte vor, oder sie stießen sich an lästigen Hindernissen wie einer schwerfälligen Bürokratie, ständig abgewandelten Vorschriften und Schwierigkeiten beim Erwerb von Grundstücken. Dazu kamen noch die verbreitete Korruption und vor allem die hohen Zollschranken: Die Importzölle betragen in Indien durchschnittlich 18,1 Prozent, in China dagegen nur 7,5 Prozent.13
Überdies weist die indische Infrastruktur erhebliche Defizite auf. 2020 beklagten selbst die indischen Unternehmer die verglichen mit China oder Thailand hohen Kosten, die auf das schlecht unterhaltene Straßennetz zurückzuführen sind wie auch auf die schlecht funktionierenden Lieferketten und den Mangel an modernen Lagerhäusern.14
Die Regierung versucht diesen Rückstand durch die Schaffung von „Industriekorridoren“ aufzuholen, ebenso durch die Modernisierung der staatlichen Eisenbahn und den Bau von Autobahnen, um bessere Verbindungen zwischen den großen Städten zu schaffen.
Die Infrastruktur leidet jedoch auch unter den heftigen Unwettern, die infolge der globalen Erwärmung immer häufiger auftreten. Im Frühjahr 2023 wurden durch die Wassermassen von zwei aufeinander folgenden Überflutungswellen im Norden des Landes zahlreiche Brücken und Deiche sowie mehrere Autobahnabschnitte und Eisenbahngleise auf einer Länge von mehr als 100 Kilometern zerstört.
Zudem kommt es immer noch häufig zu Stromausfällen, obwohl die Regierung den Bau von Solarkraftwerken fördert und zusätzlich die Kohleförderung für die Versorgung der Kraftwerke angekurbelt hat.
Immerhin kann Indien im Wettstreit mit manchen anderen Ländern Asiens auf niedrigere Arbeitskosten verweisen. Das Jahresgehalt eines Maschinenführers liegt nach Angaben des Reshoring Institute bei etwa 2500 US-Dollar, gegenüber 15 000 Dollar in China, 10 000 Dollar in Thailand und 5000 Dollar in Vietnam.15 Allerdings weist der in Kalifornien ansässige Thinktank in seiner Analyse darauf hin, dass China nach wie vor die weitaus attraktivere Option für internationale Unternehmen darstellt, wenn man alle Kosten – Infrastruktur, Logistik, Zölle, Produktivität und Qualität der Produktion – berücksichtigt.
1 Siehe die indische Tageszeitung The Economic Times (ET), 13. Dezember 2023.
3 „World Economic Outlook Update“, Internationaler Währungsfonds (IWF), Washington, Januar 2024.
4 Zahlen nach statista.com, aufgrund von Daten der UN DESA (Population Division).
5 Zum indischen Arbeitsmarkt siehe Samrat Choudhury, „Brief aus Delhi“, LMd, März 2024.
8 „80 % of Indian engineers not fit for jobs, says survey“, Business Today, 25. März 2019.
11 „Foreign direct investment“, Unctad, 2023.
13 „World Tariff Profiles 2023“, WTO.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Bénédicte Manier ist Journalistin.
Crazy Rich Indian
Die Geschichte von Mukesh Ambani, dem reichsten Mann Asiens, entspricht nicht dem Stereotyp „vom Bäckerjungen zum Milliardär“. Der Unternehmer aus Mumbai hat nie in seinem Leben ein Brot verkauft oder gar gehungert. Als er 2006 aus dem väterlichen Vermögen mehr als 36 Milliarden Euro erbte, hatte er schon 25 Jahre lang als Manager in dem Multiunternehmen Reliance Industries gewirkt, das sein Vater Dhirubhai Ambani gegründet hatte.
Ambani senior stammte aus armen Verhältnissen und hatte sein erstes Geld in Aden (damals britische Kronkolonie) gemacht, wo er der Familienlegende nach zunächst an einer Tankstelle arbeitete. Als Dhirubhai Ambani 1958 nach Indien zurückkehrte, gründete er ein Textilunternehmen, aus dem sich einer der größten indischen Konzerne entwickelte. Das Konglomerat Reliance Industries ist heute in den Bereichen Erdöl, Gesundheit, Bauwesen, Einzelhandel, Medien und Telekommunikation tätig.
Entscheidend für die gigantische Expansion war Ambanis Geschäftssinn; er wusste die Transformation der Wirtschaft nach 1991 smart zu nutzen. Die damals als liberale Modernisierung angepriesenen Wirtschaftsreformen ließen den indischen Börsenkapitalismus aufblühen und ermöglichten die Ausbeutung des nationalen Reichtums durch Unternehmerfiguren wie Dhirubhai Ambani.
Wie das vonstatten ging, schildert der Journalist James Crabtree: „Vermögenswerte im Wert von Milliarden von Dollar in Branchen wie Telekommunikation oder Bergbau wurden praktisch verschenkt – an Personen, die der Regierung nahestanden.“ Die so entstandenen Großkonzerne konnten mittels gigantischer Bestechungssummen „Land erwerben, Umweltbestimmungen umgehen und öffentliche Ausschreibungen gewinnen“. Auch die Unternehmensgeschichte von Reliance Industries ist geprägt von Skandalen, doch Ambani senior wurde nie behelligt. Auch in Indien kosten Wahlkämpfe immer mehr Geld, und die Finanzierung von Parteien und ihren Führern ist für Unternehmer eine bewährte Methode, die politische Klasse von sich abhängig zu machen.
Vor 1991 waren auf der Dollar-Milliardärsliste des US-Magazins Forbes nur zwei Inder verzeichnet. 2002 zählte man schon fünf, der zweitreichste war Dhirubhai Ambani (damals weltweit auf Position 138). Heute gibt es 200 indische Dollar-Milliardäre. Im März 2024 bezifferte Forbes das Vermögen von Ambani junior auf 116 Milliarden Euro.
Mukesh Ambani bewohnt ein Anwesen in Mumbai, dessen Fläche zwei Dritteln der Fläche des Schlosses von Versailles entspricht. Sein Palast hat 27 Stockwerke und soll fast 1 Milliarde Euro gekostet haben. Auf den sechs Parkdecks stehen mehr als 150 Autos, auf dem Dach gibt es drei Hubschrauberlandeplätze. Und das Hauspersonal besteht aus mehreren hundert Leuten.
All dies in einem Land, in dem 60 Prozent der Bevölkerung von weniger als 1100 Euro im Jahr leben. „Warum tut jemand so was; das ist der Stoff, aus dem Revolutionen gemacht werden“, kommentierte der indische Unternehmer Ratan Tata 2011 gegenüber der Londoner Times. Und dann hielt der engagierte Philanthrop Tata seinen Klassenkameraden vor: „Wir unternehmen so wenig gegen die Ungleichheit. Wir lassen sie zu – und sehen einfach weg.“ ⇥R. L.