Umbruch in Zeitlupe
Im März 2024 hat erstmals in der Geschichte Senegals ein Präsidentschaftskandidat der Opposition im ersten Wahlgang gewonnen. Der Sieg von Bassirou Diomaye Faye hat viele begeistert, die einen Neuanfang im Land wollten. Doch der ist alles andere als einfach.
von Rémi Carayol

Am 11. August 2023 wurde Yaya Sagna mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und verhaftet. Auf dem Polizeipräsidium in Dakar sah sich der 38-jährige Rechtsassistent, Mitglied in der damaligen Oppositionspartei Pastef (Partei der afrikanischen Patrioten Senegals für Arbeit, Ethik und Brüderlichkeit), mit zahlreichen Anschuldigungen konfrontiert. Ihm wurde unter anderem die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen, Störung der öffentlichen Ordnung und Terrorismusfinanzierung.
Mit 82 Mitgefangenen, allesamt politische Aktivisten wie er selbst, war Sagna sieben Monate in einer schmutzigen 20-Quadratmeter-Zelle in der Haftanstalt Reubeuss eingesperrt. Am 18. März 2024 kam er frei – dank eines in aller Eile verabschiedeten Amnestiegesetzes. Tausende politische Gefangene haben, wie Sagna, einen hohen Preis für ihr politisches Engagement bezahlt. In den letzten Jahren der Präsidentschaft von Macky Sall (2012–2024) sollen 2000 Personen inhaftiert worden sein.
Sagnas 14-jähriger Neffe Bounama Sylla Sagna wurde am 9. März 2021 bei einer Demonstration in der Region Casamance im Süden des Landes getötet. Bounama war das jüngste von 65 Todesopfern der staatlichen Repression, wie die Bürgerinitiative CartograFreeSenegal zwischen März 2021 und Februar 2024 hauptsächlich in Dakar und der Casamance gezählt hat.1
Nach dem Sieg des Pastef-Kandidaten Bassirou Diomaye Faye bei den Präsidentschaftswahlen am 24. März 2024 konnte Sagna auf Anerkennung als politischer Gefangener und eine Entschädigung aus dem Opferfonds hoffen. Doch daraus wurde nichts. Infolge seiner Inhaftierung hat er seinen Job verloren, aber er zeigt sich weder wütend noch enttäuscht. Er konstatiert lediglich „eine gewisse Langsamkeit. Wir wussten, dass es schwierig werden würde, dass wir den Gürtel enger schnallen müssen und dass es Zeit brauchen würde. Aber wir sind optimistisch. Jeder versteht, dass man Geduld haben muss, wir haben schließlich eine katastrophale Situation geerbt.“
Nach vielen politischen Krisenjahren und Salls Verzögerung der anstehenden Wahlen sorgte die Aussicht auf einen Neuanfang dann für enorme Begeisterung.2 Zum ersten Mal hatte ein Präsidentschaftskandidat der Opposition im ersten Wahlgang gewonnen, noch dazu aus einer Partei, die als systemkritisch gilt. Faye bekam 54,3 Prozent der Stimmen – ein klarer Sieg, der im Lager des scheidenden Präsidenten auch umgehend anerkannt wurde.
Dabei verdankte Faye, der bis wenige Monate vor der Wahl einer breiten Öffentlichkeit gar nicht bekannt war, seine Kandidatur nur dem Umstand, dass der populäre Parteichef Ousmane Sonko wegen verschiedener strafrechtlicher Verurteilungen nicht zur Wahl antreten durfte. Er wurde aber zum Premierminister ernannt.
Im Januar 2025 hielt er eine Rede, in der er das existierende politische, wirtschaftliche und soziale System als „kaputt“ bezeichnete und seinen Willen zum „Umbruch“ bekräftigte – 17 Mal wiederholte er diesen Begriff. Unter seiner Regierung werde sich Senegal von einem „kolonialen Wirtschaftsmodell“ emanzipieren, das von Rohstoffexporten mit geringem Mehrwert und vom Import von Fertigprodukten gekennzeichnet sei.
In der Tat ist die senegalesische Wirtschaft stark vom Ausland abhängig und schafft keinen Wohlstand – trotz eines anhaltenden Wachstums von jährlich 4 bis 7 Prozent. 80 Prozent der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft, die jedoch nur 17 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) beisteuert. Die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen beträgt 35 Prozent. Viele junge Leute versuchen daher, illegal über die Kanarischen Inseln oder durch die Sahara nach Europa zu gelangen.3
In der Hauptstadt Dakar stellen die Lebenshaltungskosten (bei Inflationsraten von 9 Prozent 2022 und 6 Prozent 2023) eine tägliche Herausforderung dar. Auf dem Human Development Index des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) steht Senegal auf Platz 169 von 193. Nach Zahlen der Weltbank liegt die Armutsquote bei 37 Prozent, das heißt: Dieser Teil der Bevölkerung hat täglich nicht mehr als 3,65 US-Dollar zur Verfügung. Eine Verbesserung ist nicht in Sicht.
„Es ist nicht so, wie wir es uns erhofft haben“, meint ein Dozent an der Cheikh-Anta-Diop-Universität in Dakar, der anonym bleiben möchte. Er steht politisch links und erkennt durchaus „ermutigende“ Leistungen der neuen Regierung an, insbesondere bei der historischen Aufarbeitung.
Mehrere Straßen in Dakar sollen nach Nationalhelden umbenannt werden. Und am 1. Dezember 2024 fand eine Gedenkveranstaltung zu dem Massaker statt, das die französische Armee vor 80 Jahren an afrikanischen Soldaten in Thiaroye, einem Vorort von Dakar, verübte. Paris hatte lange von nur 35 Todesopfern gesprochen, bis Präsident François Hollande im November 2014 zugab, es seien wohl mindestens doppelt so viele gewesen. Historiker:innen gehen heute von 300 bis 400 aus.3
Als Zeichen eines „sanften Bruchs“ mit der ehemaligen Kolonialmacht, der sich „zuweilen in Zeitlupe“ vollziehe, wie es ein Regierungsbeobachter ausdrückte, beschloss eine französisch-senegalesische Kommission, dass fünf französische Militärstützpunkte an Senegal übergeben werden. Anfang März wurden die ersten beiden inklusive Wohneinheiten restituiert.4
Von einem gewaltsamen Bruch wie in Burkina Faso, Mali und Niger, die ebenfalls das französische Militär aus ihren Ländern haben wollten, kann keine Rede sein.
Es gibt mehrere Beispiele für diesen „sanften Bruch“. Seit seinem Amtsantritt hat das Führungsduo Faye/Sonko den Kampf gegen die Finanzkriminalität zur Priorität erhoben. Die modernen Raubritter wurden allerdings noch nicht zur Rechenschaft gezogen. Immerhin wurde mehreren Führungskräften des alten Regimes die Ausreise untersagt, und es finden häufigere Steuerprüfungen großer Unternehmen statt, auch bei multinationalen Konzernen wie den Bauunternehmen Eiffage aus Frankreich und Summa aus der Türkei oder dem australischen Energiekonzern Woodside.
Zudem wurden die Bauarbeiten an der Uferpromenade von Dakar bis zur Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit gestoppt. Die dortige Stadtentwicklung – Luxushotels auf öffentlichem Grund – ist ein sichtbares Symbol für den Amtsmissbrauch unter Macky Sall. Zu größeren Gerichtsverfahren ist es aber bisher noch nicht gekommen. Im Januar meldete die neue Spezialeinheit für Wirtschaftskriminalität die Beschlagnahmung von 15 Milliarden CFA-Francs (22,8 Millionen Euro), 250 Festnahmen sowie die Übergabe dutzender Fälle an die Ermittlungsbehörden.

Trotzkisten und Unternehmer in einer Partei
Angesichts der Summen, die unter dem alten Regime veruntreut worden sind, ist das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Der einzige größere Fall, der es in die Schlagzeilen schaffte, betraf Farba Ngom, einen Abgeordneten von Salls Partei Alliance pour la République (APR). Ihm wird die Veruntreuung von 125 Milliarden CFA-Francs (190 Millionen Euro) vorgeworfen.
Sall hatte auch die Justiz instrumentalisiert. Deshalb engagierte die neue Regierung ab Mai 2024 Berater für eine Justizreform. Von den rund 30 Empfehlungen – die Einsetzung von Haftrichtern, zeitliche Begrenzung der Untersuchungshaft und Überarbeitung des Strafgesetzbuchs – wurde jedoch bislang keine einzige umgesetzt, obwohl die Regierungspartei seit den Parlamentswahlen im vergangenen November über 130 Sitze von 165 verfügt.
„Es ist kein verlorenes Jahr, wie manche behaupten, es ist ein Jahr des Übergangs“, verteidigt sich der Generalsekretär der Partei, Ayib Daffé. „Wir haben eine Verfahrensweise festgelegt. Die Rahmenbedingungen wurden geschaffen, die Prioritäten gesetzt. Wir mussten erst einmal eine Bestandsaufnahme machen und eine Mehrheit in der Nationalversammlung erlangen, bevor wir Reformen einleiten konnten.“ Daffé warnt vor immer neuen Ankündigungen oder überhasteten Maßnahmen: „Denn damit kommen wir nicht weit.“
Zumindest äußerlich hat sich Senegal in Macky Salls beiden Amtszeiten stark verändert: Es gibt einen neuen Flughafen, ein neues Fußballstadion, eine neue Autobahn und sogar eine neue Stadt: Diamniadio in der Metropolregion Dakar. Doch diese Projekte kamen nur wenigen zugute. Eine räuberische Elite eignete sich Grund und Immobilien an und verkaufte sie teuer an in- und ausländische Investoren.
Im Februar 2025 deckte der Rechnungshof in einem Bericht die abenteuerlichen Bilanzen der Vorgängerregierung auf: Die Auslandsverschuldung belief sich demnach am 31. Dezember 2023 auf umgerechnet 28 Milliarden Euro und nicht, wie zuvor behauptet, auf 70 Prozent des BIPs, sondern auf 99,7 Prozent. Auch das Haushaltsdefizit lag nicht bei 4,9 Prozent des BIPs wie gemeldet, sondern bei 12,3 Prozent.
Der Bericht enthält eine lange Liste von „Versäumnissen“, „Fehlern“ und „Unregelmäßigkeiten“, insbesondere im Zusammenhang mit zweifelhaften Verkäufen von Gebäuden aus Staatsbesitz. Kurz nach der Veröffentlichung des Rechnungshofberichts stufte die Ratingagentur Moody’s Senegals Bonität ein weiteres Mal herab, von B1 im Oktober auf B3. Damit gelten senegalesische Anleihen als „spekulativ“ und mit einem „hohen Kreditrisiko“ behaftet.
Wie aber lässt sich eine Volkswirtschaft umgestalten, wenn die Staatskassen leer sind? Auf den Ruf nach einem Bruch mit dem Status quo, etwa mit den Auflagen des IWF oder der Währungsgemeinschaft CFA-Franc, aus der Sonko einst austreten wollte, antwortet Parteichef Daffé stets, dass Veränderungen nur auf einer soliden Basis stattfinden können.
Die Regierungsagenda „Senegal 2050“ formuliert in ihrem Dreistufenprogramm sanieren – ankurbeln – beschleunigen nicht wenige große Ziele wie die Verdreifachung des Pro-Kopf-BIPs und die Senkung der Armutsquote auf ein Viertel. Am originellsten ist das Projekt von acht über das Land verteilten Industrieparks, um die Produktion zu dezentralisieren.
Außerdem setzt die Regierung auf Patriotismus. Die Senegales:innen im Ausland, deren Stimmen für Fayes Wahlsieg entscheidend waren, sollen zum Kauf von sogenannten Diaspora-Anleihen bewegt werden. Ihre Rücküberweisungen in die Heimat beliefen sich 2023 auf 2,4 Milliarden Euro; das entspricht 10 Prozent des BIPs und ist doppelt so viel, wie der Staat für Entwicklung ausgibt. Die Bevölkerung im Inland wiederum werde „Opfer bringen müssen“, warnt Daffé.
Um welche Art von Sparmaßnahmen wird es sich handeln? Um drastische Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben – wie die vom IWF in den 1980er Jahren verlangten sogenannten Strukturanpassungen? Oder eher um gezielte Maßnahmen, wie sie der Präsident von Burkina Faso, Thomas Sankara (1983–1987) praktiziert hat, der bei einem Staatsstreich ermordet wurde? Sankara sparte beispielsweise bei der Besoldung der Beamten, die in vielen Staaten Afrikas als privilegiert gelten, weil sie jeden Monat ihr Gehalt bekommen, während es in der vorherrschenden informellen Ökonomie wenig regelmäßige Einkünfte gibt.
Tatsächlich bestätigte auch die gegenwärtige senegalesische Regierung inzwischen eine Kürzung der Bezüge im gehobenen Dienst und kündigte Einsparungen in den Ministerien etwa beim Kauf von Fahrzeugen und Treibstoff an.
Für die Pastef, die einen linken Panafrikanismus5 vertritt, ist Sankara eine wichtige Figur, neben zwei einheimischen Persönlichkeiten: dem Historiker, Ethnologen und Physiker Cheikh Anta Diop (1923–1986) und dem Politiker Mamadou Dia (1910–2009). Diop propagierte eine antiwestliche Kulturrevolution und gründete mehrere Parteien, die von Präsident Leopold Senghor verboten wurden; Dia, der erste Premierminister des unabhängigen Senegal, setzte auf Beziehungen zur Sowjetunion und staatliche Wirtschaftsplanung. Nach einem Machtkampf mit Senghor verlor er 1963 sein Amt und kam in Haft.
In Burkina Faso hatte sich Sankara die Gewerkschaften zum Feind gemacht, als er die Privilegien der Staatsbediensteten beschneiden wollte. Im heutigen Senegal drohte im Februar bereits ein Generalstreik, was zuletzt 1999 vorgekommen ist. „Die Regierung verlangt von uns einen zweijährigen Burgfrieden, um das Land zu sanieren und die Staatsfinanzen zu konsolidieren“, sagt Pape Birama Diallo vom Gewerkschaftsbund Unsas. „Wir sind dazu bereit, aber nur unter bestimmten Bedingungen. Die Preise müssen stabil sein, dann müssen diverse branchenspezifische Fragen geklärt werden, und vor allem sollen sie die Entlassungen im öffentlichen Dienst stoppen.“
Laut Diallo wurden bereits mehr als 5000 Angestellte entlassen, etwa am Flughafen, im Hafen von Dakar oder bei der Nationallotterie. Die Regierung erklärt, es handle sich um quasi fiktive Arbeitsplätze, die durch Klientelismus geschaffen wurden. Die Gewerkschaften kritisieren dagegen die Entlassungen als blinden Aktionismus.
Unpopulär, aber für die Regierung vital sind auch alle Maßnahmen, die mehr Steuereinnahmen generieren. Zunächst gehe es ohnehin nur darum, überhaupt welche einzunehmen, merkt eine diplomatische Quelle an. Laut einer offiziellen Schätzung zahlten 2020 nur 10 Prozent der Senegales:innen Steuern. Leute, die in Dakar ein Haus besitzen, waren sehr überrascht, als sie erstmals einen Steuerbescheid erhielten.
Einige zahlten bereitwillig, für manche aber war die Steuer ein harter Schlag, wie für Aminata Ndiaye. Sie hat von ihren Eltern ein Haus in Yoff geerbt, einem Stadtteil am Meer. Nun soll sie eine Grundsteuer von 130 000 CFA-Francs (200 Euro) bezahlen, die sie aber nicht hat: „Ich habe doch nicht für Diomaye gestimmt, damit er kommt und mir das bisschen, was ich habe, wegnimmt!“
Der Ökonom Ndongo Samba Sylla, bekannt für seine Kritik an der westafrikanischen Gemeinschaftswährung CFA-Franc6 , ist skeptisch gegenüber der Fiskalpolitik der Regierung. „Die Parteispitze der Pastef besteht aus Steuerbeamten und Liegenschaftsverwaltern, das macht sich deutlich bemerkbar“, meint er.
In der Tat kommen Sonko und Faye, aber auch der Präsident der Nationalversammlung Malick Ndiaye aus der Finanzverwaltung. Sie begannen ihre gemeinsame politische Karriere Mitte der 2000er Jahre mit der Gründung einer Gewerkschaft – der ersten in diesem Bereich der Verwaltung –, um die in ihrem Arbeitsumfeld grassierende Korruption zu bekämpfen. Erst 2014 gründeten sie eine politische Partei.
Laut einem ihrer Berater „sind sie darauf geeicht, Steuern zu erheben“, und sehen die Geschäftswelt oft als „Feind, der nur auf Betrug aus ist“. Sylla glaubt, die Regierung, denke „immer noch in dem von der Kolonialisierung hinterlassenen makroökonomischen Rahmen, denn in den Kolonien wurde alles durch Steuern und Abgaben finanziert. Es gibt aber auch andere Hebel.“ Der Wirtschaftswissenschaftler registriert einerseits einen echten Willen zur Veränderung, wirft den neuen Führungskräften aber andererseits vor, „dem herkömmlichen neoklassischen Denkschema verhaftet“ zu sein.
Er wundert sich zudem über einige Personalentscheidungen der Regierung und fragt sich, wie mit diesen Politikern ein wirklicher Bruch vollzogen werden kann: Cheikh Diba, ein ehemaliger IWF-Mitarbeiter, war unter Sall Direktor für Haushaltsplanung und ist nun Minister für Haushalt und Finanzen; Abdourahmane Sarr, der früher ebenfalls beim IWF gearbeitet hat, ist Minister für Wirtschaft, Planung und Zusammenarbeit; und Ahmadou Al Aminou Lô, der ein leidenschaftlicher Verfechter des CFA-Francs ist und früher Direktor der senegalesischen Niederlassung der Zentralbank der westafrikanischen Staaten (BCEAO) war, wurde zum Generalsekretär der Regierung gemacht.
Sylla befürchtet ein Szenario „à la Syriza“, in Anspielung auf die linke griechische Partei, die 2015 in Athen an die Regierung kam und dann schnell unpopulär wurde, weil sie ihr Wahlversprechen nicht einhalten konnte, die von der Troika aufgezwungene Sparpolitik zu beenden.
Das senegalesische Regierungsduo rechtfertigt sich mit dem Verweis, dass Staat und Partei nicht dasselbe seien. Sonko räumt ein, dass Fehler gemacht wurden, und Daffé gibt zu, dass die Pastef mit ihren vielen jungen und unerfahrenen Aktivisten nicht auf eine so schnelle Machtübernahme vorbereitet gewesen sei. Es gebe so viele Strömungen in der Partei, daher müsse man erst einmal eine gemeinsame Basis herstellen.
Eigentlich weiß niemand so recht, welche politische Linie die Pastef verfolgt. Die Partei ist souveränistisch und panafrikanisch, sie tritt für eine politische Ethik und soziale Gerechtigkeit ein. Aber was bedeutet das konkret? „Alles muss erst neu erfunden werden“, räumt ein enger Vertrauter des Premierministers ein. Er erinnert an Sonkos früher oft wiederholte Behauptung, weder rechts noch links zu sein: „In manchem ist er sehr progressiv, in anderen Dingen ziemlich konservativ.“
Der Premierminister zum Beispiel ist ebenso wie der Präsident, der zwei Ehefrauen hat, bekennender Polygamist – und betont bei jeder Gelegenheit, dass die Förderung der Rechte von Homosexuellen in seinem Land wie „in vielen Teilen der Welt“ eine „antiwestliche Stimmung“ schüren würde.
Die Pastef sei tatsächlich sehr heterogen, erklärt ein anderer Regierungsberater. Es gebe unter ihren Mitgliedern Linksextreme, Liberale und auch Islamisten, wobei Letztere allerdings nur wenig Gewicht hätten. Die Linken sind zweifellos die sichtbarsten und aktivsten Mitglieder. Aber sind sie deshalb auch die einflussreichsten? Sie kommen aus dem Maoismus, dem Trotzkismus, dem Diaoismus (in Anlehnung an Mamadou Dia) oder sind Anhänger:innen von Cheikh Anta Diop.
Unter den Linken in der Pastef ist man sich durchaus darüber im Klaren, dass man früher zu dogmatisch war und damit die Bevölkerung abgeschreckt hat. Nun scheinen hier einige von ihnen ihre zweite Jugend zu erleben, für die sie allerdings manche Ideale über Bord werfen mussten.
Madièye Mbodj, einer der stellvertretenden Parteivorsitzenden, der früher in der maoistischen Partei And-Jëf („zusammen handeln“ auf Wolof) aktiv war, hat daraus eine mehrteilige Theorie abgeleitet: „Mit Pastef ist es uns gelungen, die fünf großen Hürden zu überwinden, über die die radikale Linke jahrelang gestolpert ist. Erstens die Unkenntnis unserer eigenen Geschichte. Zweitens die fehlende Verbindung zur Basis, vor allem auf dem Land und in der Diaspora. Drittens der Mangel an Mitteln. Pastef hat es geschafft, bei ihren Anhängern Geld zu beschaffen. Die vierte Hürde war die Kommunikation: Wir haben nur Französisch und in viel zu akademischen Begriffen gesprochen, die Jugendlichen von heute aber sprechen die Landessprachen. Und die fünfte, die wir genommen haben, war der Zugang zu Spiritualität. Nicht Religion! Spiritualität. Sonko steht zu seiner Zugehörigkeit zum Islam – etwas, was wir viel zu lange vernachlässigt haben.“
Der unbeugsamste unter den Altlinken ist zweifellos Dialo Diop, Bruder des legendären Omar Blondin Diop, der 1973 unter Senghor im Gefängnis starb. Der Maoist hatte sich der Partei von Cheikh Anta Diop angeschlossen, dem Rassemblement National Démocratique (RND). Die Partei, die 2021 nur noch eine kleine Anhängerschaft hatte, ging in die Pastef ein und Diop wurde einer der stellvertretenden Vorsitzenden.
Heute ist er als Berater des Präsidenten tätig, zuständig für Erinnerungskultur und Aufarbeitung. Man müsse endlich „aufhören, in Begriffen zu denken, die von außen kommen“, fordert er, und sich anstelle dessen wieder auf den „afrikanischen Egalitarismus“ besinnen. Das bedeutet, sich nicht länger nach den herkömmlichen Schemata links – rechts, kapitalistisch – antikapitalistisch zu definieren, sondern die von Cheikh Anta Diop propagierte Kulturrevolution in Angriff zu nehmen.
Der emeritierte Professor für Anthropologie und frühere And-Jëf-Aktivist Youssou Mbargane Guissé meint, dass mit der Pastef eine spezifisch afrikanische Ideologie aufgetaucht beziehungsweise wiederauferstanden sei. Insofern sei sie eine „Erneuerungsbewegung“ im wahrsten Sinne revolutionär, ein allumfassendes, „totales Phänomen“ sei sie, der Beginn einer neuen Ära. „Wir sprechen nicht mehr von Klassenkonflikten, sondern von Konflikten zwischen Gesellschaft und Staat.“
Die „Alten“ legen heute den Realismus an den Tag, den sie in der Vergangenheit immer bekämpft haben. Mbodj formuliert es so: „Man muss eben die Kräfteverhältnisse berücksichtigen.“ Diese Realos finden zum Beispiel, dass man zumindest vorübergehend mit dem IWF und der Weltbank Kompromisse eingehen sollte und dass der Ausstieg aus dem CFA-Franc in geordneten Bahnen verlaufen muss.
Offensichtlich will die Pastef nicht mit der liberalen Weltordnung brechen und mit dem Kapitalismus gleich gar nicht, obwohl dieser doch „die Grundlage der Unterentwicklung ist, die Europa Afrika aufgezwungen hat“, wie Dialo Diop anmerkt. Es gehe vielmehr darum, sich in die bestehende Ordnung einzufügen, ihre Vorteile zu nutzen und gleichzeitig eine gerechtere Verteilung des Wohlstands anzustreben. Deshalb unterstützt er auch die offiziell im Januar 2021 gegründete Afrikanische Kontinentale Freihandelszone (AfCFTA). Sie wird als „panafrikanistisches“ Projekt angepriesen, obwohl sie in einen neoliberalen Rahmen eingebettet ist.
Überhaupt gewinnen Neoliberale zunehmend an Einfluss in der Pastef – wie etwa der bekannte Architekt Pierre Goudiaby Atepa, der mit Immobiliengeschäften ein Vermögen gemacht und ausnahmslos jedes Regime, das in Senegal an der Macht war, unterstützt hat. In seinem Bürohaus an der Strandpromenade von Dakar denkt sich der 78-Jährige, der sich selbst als „reuiges Raubtier“ bezeichnet, wahrhaft pharaonische Projekte aus.
Er bezeichnet die Ausbeutung von Rohstoffen als Chance, die man sich auf keinen Fall entgehen lassen dürfe. Aber was hat ihn dazu gebracht, Sonko zu unterstützen? „Seine Ehrlichkeit, seine ehrgeizigen Pläne für Senegal und seine Antikorruptionsagenda“, lautet die Antwort. Für ihn wie auch für andere ist Korruption schließlich ein Geschäftshindernis.
Nur einen Steinwurf entfernt hegt Birome Holo Ba eine ähnliche Vision, die auf Großprojekte und öffentlich-private Partnerschaften setzt. Der 37-Jährige, der seine Karriere in Frankreich begann, folgte wie viele Exilanten dem Aufruf der Pastef zur Rückkehr in sein Land. Er könnte in einer New Yorker Unternehmensberatung arbeiten, leitet aber stattdessen in Dakar das Büro für die Koordination und Überwachung von Projekten und Programmen (Bocs), das direkt dem Premierminister unterstellt ist.
„Wir arbeiten nach dem „Delivery-Unit-Modell von Tony Blair“, erklärt er. 2001 gründete der damalige britische „New Labour“-Premier die sogenannte Prime Minister Delivery Unit zum Bürokratieabbau in Großbritanniens öffentlicher Verwaltung. Ba zählt die zahlreichen Projekte auf, die er mit seinem 50-köpfigen Team in Landwirtschaft, Infrastruktur und Finanzen begleiten will. Dabei müsse „jede Aktion angemessen und durchdacht sein“. Darin stimmt er dem Pastef-Vorsitzenden Daffé zu.
Was die Zusammenarbeit mit den verschiedenen Fraktionen in der Partei betrifft, ist er durchaus optimistisch: „Der Kampf hat uns zusammengebracht. Gemeinsam haben wir viele Hindernisse überwunden, das verbindet. Und wir wissen, dass wir uns keine Fehler erlauben können.“
1 Siehe CartograFreeSenegal auf lamaisondesreporters.sn.
2 Francis Laloupo, „Senegal: Demokratie gerettet“, LMd, April 2024.
5 Rémi Carayol, „Panafrikanismus“, LMd, September 2024.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Rémi Carayol ist Journalist und Autor von „Mirage sahélien. La France en guerre en Afrique. Serval, Barkhane et après“, Paris (La Découverte) 2023.