10.04.2025

Algerien – Stillstand nach dem Ende der Bewegung

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Algerien – Stillstand nach dem Ende der Bewegung

Das sklerotische Regime agiert immer autoritärer

von Lahouari Addi

Amtseinführung einer Marionette: Präsident Tebboune und Armeechef Gaïd Salah im Dezember 2019 LOUIZA AMMI/abaca/picture alliance
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Am 22. Februar 2019 gingen die Al­ge­rie­r:in­nen zum ersten Mal in Massen auf die Straße, um gegen Präsident Abdelaziz Bouteflika zu demonstrieren. Ein paar Tage zuvor hatte er verkündet, er strebe eine fünfte Amtszeit an und wolle bei den nächsten Wahlen im April wieder antreten. In den kommenden Wochen wurden die friedlichen Protestmärsche des „Hirak“ (Bewegung) immer größer. Die Militärs gerieten dadurch dermaßen in die Defensive, dass sie sich schließlich genötigt sahen, Bouteflika fallen zu lassen. Am 2. April 2019 trat er zurück.1

Die Parolen der Demonstrierenden wurden immer radikaler. Sie riefen „Ziviler Staat, kein Militärstaat!“ und „Generäle auf den Müll!“ Die Armee begann die Reihen zu schließen, sah aber auch ein, dass man nicht umhinkam, Zugeständnisse zu machen: In den ersten Protestwochen wurden etwa 30 hohe Offiziere wegen Korruption inhaftiert. „Die Armee hört das Volk“, verkündete der damalige Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah.

Er hatte nicht nur Bouteflikas Rücktritt gefordert; er ordnete auch an, die ganze „Issaba“ (Bande) auszuschalten, die sich an den Staatsfinanzen vergriffen habe. Der einflussreiche Bruder und Berater des Präsidenten, Saïd Bouteflika, zwei ehemalige Premierminister, 18 Minister sowie zahlreiche Abgeordnete und Geschäftsleute wurden verhaftet und wegen Veruntreuung und Korruption verurteilt.

Zu keinem Zeitpunkt griff das Regime in seinen offiziellen Verlautbarungen den Hirak an. Im Gegenteil: Die Machthaber gaben vor, die Protestbewegung vor Islamisten und radikalen Berbern zu schützen, die sie angeblich zu infiltrieren versuchten. Das Bild, das vermittelt werden sollte, war dies: Angetrieben durch den „gesegneten Hirak“ – ein beliebter Ausdruck der zivilen und militärischen Führung –, vollziehe das Regime einen Prozess der Selbstreinigung.

Durch ein Präsidialdekret vom 19. Februar 2020 wurde der 22. Februar zum „Nationalen Tag der Brüderlichkeit zwischen Volk und Armee für die Demokratie“ erklärt. Im ersten Artikel des Dekrets heißt es, der Tag erinnere „an die historische Gelegenheit, bei der das Volk am 22. Februar 2019 in Solidarität mit der Armee seine Bestrebungen zum Aufbau eines neuen Algeriens zum Ausdruck gebracht hat“.

Blickt man auf die Geschichte Algeriens seit der Unabhängigkeit von 1962 zurück, löste der Hirak ein politisches Erdbeben aus. Er hat die zivile Fassade des Regimes zum Einsturz gebracht. Allerdings vermochte er nicht, den Staat von der Kontrolle durch die Armee zu befreien. Die Armee und nicht die Wählerschaft ist nach wie vor die eigentliche Quelle der Macht im Land.

Dennoch sah sich der Militärapparat durch die Proteste in seiner Vorherrschaft infrage gestellt. Es ging die Furcht um, dass die Zeit naht, in der die Verantwortlichen in der Armee für ihre massiven Übergriffe gegen islamistische Aufständische in den 1990er Jahren zur Rechenschaft gezogen werden könnten.2

Daher bemühten sich die Machthaber im Militär vor allem darum, eine Spaltung innerhalb der Sicherheitskräfte zu vermeiden. Der Generalstab entschied sich unter anderem dafür, mehrere Generäle wieder einzustellen, die nach dem Überfall auf die Gasanlage Tiguentourine im Januar 2013 entlassen worden waren. Bei dem Angriff islamistischer Terroristen waren 38 ausländische Geiseln getötet worden. Danach wurde der mächtige Geheimdienst (Département du Ren­seigne­ment et de la Sécurité, DRS) in drei autonome Dienste aufgeteilt – mit der Folge, dass die Überwachung der Opposition komplizierter und beschwerlicher wurde.

Nach Beginn des Hirak musste die Militärhierarchie erkennen, dass sie ohne eine schlagkräftige politische Polizei Gefahr lief, die Kontrolle zu verlieren. Im Sommer 2019 begann General Gaïd Salah dazu aufzurufen, die Protestmärsche zu beenden; die Demonstrierenden seien ja erhört worden.3 Außerdem versprach er freie Präsidentschaftswahlen. Diese waren für den 4. Juli 2019 geplant, mussten aber aufgrund des anhaltenden massiven Widerstands verschoben werden.

Daraufhin beschloss das Militär, die Spannungen zwischen Islamisten und Säkularen wie auch zwischen arabisch- und berbersprachigen Bevölkerungsgruppen anzuheizen. In den folgenden Wochen wurden die Protestmärsche immer kleiner. Schließlich wurde erneut eine Präsidentschaftswahl für Dezember 2019 angesetzt. Dafür brauchte die Armee allerdings einen geeigneten Kandidaten, der nicht versuchen würde, den Hirak zu nutzen, um sich gegen das Militär zu stellen.

Den fanden sie in dem damals 74-jährigen unscheinbaren Politiker Abdelmadjid Tebboune. In den 1980er Jahren war Tebboune in verschiedenen Provinzen Wali (Gouverneur) gewesen, später war er unter anderem Minister für Wohnungsbau und Stadtplanung und 2017 kurzzeitig Premierminister. Er würde die Militärhierarchie nicht infrage stellen.

Tebboune gewann die Wahl im Dezember 2019 im ersten Wahlgang, allerdings mit einem im Vergleich zu früheren Präsidentschaftswahlen eher schwachen Ergebnis. Kaum gewählt, setzte er sich das Ziel, die Forderungen des Hirak – ein Ende der Korrup­tion und mehr Meinungsfreiheit – umzusetzen. In seinen ersten Reden kritisierte er sogar die Bouteflika-Ära, als wäre er selbst nie Teil von dessen Regierung gewesen.

In Tebbounes Windschatten konnten die Militärs ihre repressiven Maßnahmen gegen die aktivsten Mitglieder der Proteste durchziehen. Schon kurz nach der Wahl nahm das Regime den harten Kern des Hirak ins Visier: So wurde der innerhalb der Bewegung sehr engagierte Verein SOS Bab El Oued aufgelöst. Das Strafgesetzbuch wurde geändert, um die Opposition kriminalisieren zu können. Seitdem kann nur die Forderung nach einer Transforma­tion des Systems schon als terroristische Subversion verfolgt werden.

Das Regime versucht sich gegen jede Art von Veränderung zu immunisieren; selbst wenn dementsprechende Vorschläge von pensionierten Militärs wie General Ali Ghediri stammen. Nachdem er angekündigt hatte, bei der Präsidentschaftswahl 2019 kandidieren zu wollen, und durch regimekritische Reden auffiel, wurde er verhaftet und im Juni 2020 wegen „Schädigung der Moral der Armee“ zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.

Im Frühjahr 2020 hörten die Protestmärsche auf, auch wegen der Pandemie. Seitdem hat sich das Regime weiter verhärtet. Mit der relativen Unabhängigkeit der Presse ist es vorbei und der Handlungsspielraum der legalen Opposition ist massiv eingeschränkt. Deren Rolle besteht nun vor allem darin, das Regime durch ihre bloße Existenz zu legitimieren.

Die islamistischen Parteien wurden durch Repressionen oder Kooptation kaltgestellt. Selbst die 1963 gegründete säkulare Oppositionspartei Front des Forces Socialistes (FFS) musste zum Leidwesen ihrer Basis seit dem Tod ihres Gründers Hocine Aït Ahmed (1926–2015) klein beigeben. Zugleich überwacht die wiedererstarkte politische Polizei die sozialen Netzwerke; Dutzende Personen, die gegen die Beschneidung von Freiheitsrechten aufbegehrten, wurden verhaftet.

In Algeriens Gefängnissen sollen mittlerweile fast 300 politische Gefangene sitzen. Im Vergleich zu Ägypten, wo zehntausende Menschen aus politischen Gründen inhaftiert sind, ist diese Zahl immer noch gering. Das Regime setzt die Repressionen dosiert und vor allem zur Abschreckung ein, vorwiegend gegen prominente Kritiker, die Nachahmer finden könnten – wie die kabylische Hochschullehrerin Mira Mok­nache, die Hirak-Aktivisten Karim Tab­bou und Brahim Lalami, den Oppositionspolitiker Fethi Gherras, den Menschenrechtler Kaddour Chouicha und den Journalisten Saïd Boudour.

Sie sitzen entweder im Gefängnis oder werden regelmäßig schikaniert und bedroht. Der junge Hirak-Aktivist und Dichter Mohamed Tadjadit wurde mehrfach verhaftet und erst kürzlich wieder zu fünf Jahren Haft verurteilt. Algerischen Oppositionellen, die im Ausland leben, droht bei einem Besuch in ihrer Heimat ein Ausreiseverbot.

Bei offiziellen Anlässen, die eigentlich nichts mit der Armee zu tun haben, tritt Präsident Tebboune häufig gemeinsam mit Generalstabschef Saïd Chengriha auf, dem Nachfolger von Ahmed Gaïd Salah, der am 23. Dezember 2019 an einem Herzinfarkt starb. Die Entscheider im Militär haben die Kontrolle über den Haushalt und bestimmen die Grundzüge der Außenpolitik. Zivilisten in politischen Ämtern dienen als Absicherung ihrer Macht: Man kann sie absetzen, falls die Bevölkerung aufbegehrt.

Viele Hirak-Aktivisten wurden verhaftet

Die Machthaber des Militärs sind sich der wirtschaftlichen und diplomatischen Misserfolge Algeriens durchaus bewusst – wie der französisch-marokkanischen Annäherung in der Westsahara oder der zunehmenden Feindseligkeit der Sahel-Staaten. Doch die Verantwortung für diese Fehlentwicklungen schieben die Generäle regelmäßig auf die „unfähigen Zivilisten“.

Das Regime besitzt zwei Trümpfe: den Korpsgeist der Offiziere und die Einkünfte aus Öl- und Gasexporten. Obwohl offiziell ständig von der Zeit „nach dem Öl“ die Rede ist, ist es mehreren aufeinanderfolgenden Regierungen nicht gelungen, die finanzielle Abhängigkeit von diesen Einkünften zu verringern. Was damit zu tun hat, dass das Regime die Gesellschaft über die Verteilung der Ölrente kontrolliert.4

Das Regime wird langsam sklerotisch. Es verfügt weder über eine Partei, in der wirtschafts- und sozialpolitische Konzepte erarbeitet werden könnten, noch über akademische Thinktanks, die bei strategischen Entscheidungen helfen könnten; von einer freien Presse, über die sich die Bevölkerung zu Wort melden könnte, ganz zu schweigen. So ist die militärische Elite weitgehend unempfänglich für die gesellschaftlichen und geopolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Man hält an einem in den 1960er Jahren entwickelten Modell fest, ganz so, als wäre das Dritte-Welt-Konzept aus der Zeit des Kalten Krieges immer noch relevant zum Verständnis internationaler Beziehungen.

In Ermangelung einer sozialen Basis und weil es keine aus freien Wahlen hervorgegangenen Mittlerinstitutionen gibt, hat sich das Regime eine Klientel herangezogen, die ihm als Verbindung zur Gesellschaft dient. Den Wahlen ist dabei jedwede politische Bedeutung entzogen. In der Praxis handelt es sich bei den „Gewählten“ um durch das Regime ernannte Amtsträger, die vor allem der Verteilung der Ölrente nicht im Weg stehen sollen. Einer von ihnen ist der Präsident.

Im September 2024 wurde Abdelmadjid Tebboune mit einem offiziellen Ergebnis von 94,65 Prozent für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Dem Präsidenten gelingt es jedoch nicht, Kontakt zur Bevölkerung herzustellen. Während seiner ersten Amtszeit besuchte er gerade einmal 5 der insgesamt 58 algerischen Wilayas (Gou­verne­ments).

Die wirtschaftliche Lage ist nach wie vor besorgniserregend. Die Kaufkraft erodiert wegen der steigenden Preise für Fleisch, Obst und Gemüse. Die Jugendarbeitslosigkeit ist genauso hoch wie vor zehn Jahren, und immer mehr Menschen kommen bei dem Versuch ums Leben, das Mittelmeer zu überqueren.

Die „Harraga“, die arabische Bezeichnung für Leute, die ihre Papiere verbrennen, zahlen 5000 Euro – in Algerien ein Vermögen – für einen Platz in einem Boot, das jederzeit auf hoher See kentern kann. Nach Angaben der Organisation Caminando Fronteras sind im vergangenen Jahr mehr als 500 junge Algerier vor der spanischen Küste ertrunken.5

Trotz dieser in jeder Hinsicht deprimierenden Verhältnisse hält Präsident Tebboune schöne Reden und lobt die guten Zustände im Land. Im Dezember 2024 verbreitete sich der Hashtag #ManichRadi (Ich bin nicht zufrieden) in den sozialen Netzwerken. Die Aktivisten, die ihn gepostet hatten, wurden wegen Störung der öffentlichen Ordnung festgenommen. Obwohl es sich dabei um einen rein virtuellen Protest handelte, bekam man es an der Staatsspitze sogleich mit der Angst zu tun. Tebboune beeilte sich zu betonen, Algerien könne „nicht von einem Hashtag aufgefressen werden“6 ; in den Medien wurde der Hashtag als marokkanische Kampagne diskreditiert.

Aber der Protest ist auch heute nicht nur virtuell. Im Januar gingen tausende Schüler in den großen Städten auf die Straße, um gegen die viel zu vollen Lehrpläne zu protestieren. Dabei skandierten sie auch regimekritische Parolen. Unterstützung bekamen sie von den Lehrerinnen und Lehrern, die in einen landesweiten Streik für Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen traten.

Auch in den Krankenhäusern und an den medizinischen Fakultäten wird schon seit Längerem protestiert. Doch sobald die Aktivisten versuchen, ihre Forderungen auf die Straße zu tragen, werden die Demonstrationen von einem großen Polizeiaufgebot gewaltsam niedergeschlagen. Die Behörden fürchten sich insbesondere vor Arbeitskämpfen, weil Terrorbekämpfung hier als Rechtfertigung für Repressionen nicht greift und sie sich zudem schnell zu umfassenden politischen Protesten ausweiten können.

Schon lange fehlt dem Regime ein gemeinschaftsstiftendes ideologisches Narrativ. Deswegen setzt man auf eine plumpe nationalistische Überhöhung, die jedoch nur eine Worthülse bleibt – genauso wie die wiederkehrenden di­plo­ma­ti­schen Krisen mit Frankreich (siehe den untenstehenden Artikel). Dieses abgenutzte System ist nicht in der Lage, sich an die neuen inneren und äußeren Realitäten anzupassen. Mit dem Hirak, der zu einem friedlichen demokratischen Übergang aufgerufen hat, verpasste es eine historische Chance, den Staat wieder mit der Gesellschaft zu verbinden und Algerien wieder seinen Platz in der Welt zu verschaffen.

1 Siehe Arezki Metref, „Sie sind viele, und sie sind laut“, LMd, Dezember 2019.

2 Siehe „Die Spirale der Gewalt“, LMd, Oktober 1995.

3 Siehe Akram Belkaïd, „Les louanges et la matraque“, Horizons arabes, les blogs du Diplo, 30. September 2020.

4 Samir Bellal, „La Crise du régime rentier. Essai sur une Algérie qui stagne“, Boumerdès (Éditions Frantz Fanon) 2017; und Mourad Ouchichi, „Les Fondements politiques de l’économie rentière en Algérie“, Béjaïa (Déclic) 2014.

5 „Sur la route migratoire entre l’Algérie et l’Espagne, une hausse effrayante des naufrages“, 31. Dezember 2024, www.infomigrants.net.

6 Makhlouf Mehenni, „Tebboune: ‚L’Algérie ne peut être dévorée par un hashtag‘“, 24. Dezember 2024, africainside.net.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Lahouari Addi ist Autor und Soziologe an der École Normale Supérieure de Lyon und außerordentlicher Professor an der University of Maryland, Baltimore. Zuletzt erschien: „La Crise du discours religieux musulman. Le nécessaire passage de Platon à Kant“, Louvain-la-Neuve (Presses universitaires de Louvain) 2022.

Le Monde diplomatique vom 10.04.2025, von Lahouari Addi