13.02.2025

Brief aus Warschau

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Brief aus Warschau

von Marta Sapała

Brücke über die Weichsel JAAP ARRIENS/picture alliance/nurphoto
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In Warschau gibt es über 5000 Straßen. Die, in der ich wohne, hat nichts Besonderes an sich, auch nichts Bedenkliches. Selbst an ihrem Namen gibt es wenig auszusetzen. Er bezieht sich nicht auf eine Person, sondern auf eine Stadt 240 Kilometer südöstlich von Warschau, die mit meiner Straße allenfalls gemeinsam hat, dass sie nichts Besonderes ist.

Meine Straße besteht aus 980 Metern abgenutztem Asphalt und verläuft auf einer Trasse, die im 19. Jahrhundert vom sogenannten Königsweg in Richtung der Äcker, Wiesen und Sümpfe des linken Weichselufers abzweigte. Sie war also schon immer eine Zufahrts- wie auch Verbindungsstraße zwischen zwei Hauptverkehrsadern.

Als in den letzten zwei Jahren der Verkehr wegen des Baus einer neuen Straßenbahnlinie umgeleitet wurde, kroch ein endloser Strom erschöpfter Autos durch meine Straße, und nachts reichte die Kette schleichender Lichter bis zum Horizont.

Da dachte ich an die Menschen, denen vor hundert Jahren die Schmalspurbahn mit ihrem Rauch den Atem raubte. Auch jetzt, als der Verkehr plötzlich zunahm, begann die Straße schon frühmorgens zu „husten“. Dieser Husten plagt sie noch heute, denn obwohl die Straßenbahnlinie inzwischen in Betrieb ist, hat der Stau im Berufsverkehr kaum abgenommen. Selbst am Samstagabend meldet Google Maps „heavy traffic in area“.

Es wird alles dichter. Die Luft in meiner Straße ist manchmal so dicht, dass man sie schneiden, anbraten und auf einem Teller servieren könnte, um Grillhähnchen oder Kebab mit dem klassischen mitteleuropäischen Aerosol aromatisch abzurunden. In Warschau ist das eine Mixtur aus erhitztem ­Asphalt, Feinstaub und Emissionen fossiler Brennstoffe, vornehmlich aus Kohleheizungen und Verbrennermotoren.

Wenn man jedoch meine Straße mit den Augen statt durch die Nase wahrnimmt, wirkt sie merkwürdigerweise gar nicht so dicht: eine Schule mit Sportplatz, eine Kirche mit großem Garten, ein psychiatrisches Zentrum, umgeben von Rasen. Nach 1945 wurden in ihr verschiedene Institutionen angesiedelt; es wurden Filme gedreht, Vergrößerungsgeräte gebaut, Medikamente entwickelt.

Die ganze Gegend wurde locker bebaut. In diesem Jahrtausend mit einer gated community, in den 1970er Jahren mit Punkthochhäusern, in den Nachkriegsjahren mit – heute denkmalgeschützten – Ziegelhäusern für das Personal des Sicherheitsministeriums. Aus der Zeit vor 1939 gibt es noch etliche Mietsblöcke, der älteste steht leer, die Fenster sind zugemauert, der Lebensmittelladen im Erdgeschoss ist verschwunden, wie alle kleinen Geschäfte und Kioske dieses Viertels. Dafür gibt es jetzt ein Dutzend Paketstationen, Blechschränke, die man nur dann riecht, wenn sie sich in der Sonne aufheizen.

Im Polnischen ist die Straße weiblich: Ulica. Meine Ulica ist allerdings nicht besonders frauenfreundlich, schon gar nicht für Mütter mit Kinderwagen und Einkäufen oder mit Kind auf dem Arm oder an der Hand, damit es nicht von einem vermummten Fahrradkurier überfahren wird. Das löchrige Pflaster des Bürgersteigs ist eine Falle für Blindenstöcke, Rollatoren, Rollkoffer, Einkaufswagen. Und noch immer gibt es weniger Bäume als Parkplätze.

Ich bin gern zu Fuß unterwegs, schlage mich auf den letzten begehbaren Pfaden über Hinterhöfe, kleine Plätze und ehemals gepflasterte Wege, die jetzt überwuchert oder im Matsch versunken sind. Doch auch diese Möglichkeiten schrumpfen, da Durchgänge versperrt und Grundstücke überbaut werden. An eine Mauer auf meiner alternativen Route hat jemand geschrieben: „Ihr, Kinder aus Bullerbü, wir, Kinder vom Bahnhof Zoo“. Das klingt irgendwie gut, bedeutet aber nichts weiter, als dass meine Straße zwischen diesen beiden Welten liegt und zu keiner von ihnen gehört.

Jetzt haben wir Januar. Ja, wir hatten mal kurz Schnee, aber ansonsten hält sich die Temperatur deutlich über null. Die Sedum-Pflanzen entlang der Straßenbahngleise färben sich schon zinnoberrot, auch die Sträucher, die man auf den entpflasterten Flächen angepflanzt hat, beginnen auszutreiben. Wahrscheinlich könnte ich, mit dem Ohr an der Erde, das Knospen der Tulpenzwiebeln hören.

Der Klimawandel bewirkt, dass sich die Wachstumszyklen nicht mehr runden. Die letzte noch nicht gefällte Robinie hat ihr Laub seit Jahren nicht mehr abgeworfen. Im Frühling sprießen zwischen den trockenen Blättern neue Triebe. Im Frühsommer verbreitet sich, wenn auch nur kurz, der Duft von blühenden Mirabellen, von Flieder, Linden und Akazien. Später im Sommer riecht es nach zertrampelten Maulbeeren und im Herbst nach verrottendem Laub.

Auch das ändert sich. Die Linden beginnen sich schon im Juli zu verfärben, vertrocknen, sterben ab. Ab und zu höre ich das Kreischen von Motorsägen und es riecht nach Holzspänen. Die Maulbeerbäume halten sich besser, aber auch von ihnen wurden die meisten in den letzten zehn Jahren abgeholzt. Von den neu gepflanzten Bäumen sind die meisten Herzblättrige ­Erlen, die sehr widerstandsfähig sind, wie ich lese. Wie sie duften, weiß ich noch nicht.

Etwas abseits in einer Seitengasse befindet sich die letzte Bäckerei meiner Gegend. Sie ist weder ein bloßer Laden noch eine handwerkliche Backstube mit überteuerter Ware, wie es inzwischen viele in Warschau gibt. In meiner Bäckerei duftet es noch nach Krapfen und frischem Brot. Der Besitzer erzählte mir neulich, er habe die Hoffnung aufgegeben, dass auf dem umzäunten Gelände in der Nähe jemals die 10 000 Wohnungen entstehen, von denen hier seit 20 Jahren geredet wird.

Das Gelände ist eine 5 Hektar große Brachfläche, die sich die vierte Natur erobert hat: ein unkontrolliertes Territo­rium, teils Müllhalde, teils Auslauf für die Hunde. Früher befanden sich hier ein Betriebshof der städtischen Busse und Trolleys, ein Bürogebäude und eine Tankstelle; später kam der erste Warschauer Supermarkt hinzu.

Als die Stadt das Grundstück 2006 zum Verkauf ausschrieb, bewarben sich zwei Investoren, am Ende ging es an ein spanisches Immobilienunternehmen. Die Stadt brüstete sich mit einem Rekorderlös, und der Investor zog seine Siegesfahnen über dem Grundstück auf. Er ließ alles abreißen, was abzureißen war, und kündigte ein Bauprojekt an, das meiner Straße den Atem verschlug: 1000 Wohnungen, dazu Bürotürme, alles dicht an dicht, dunkel und hoch.

Dann verblassten die Fahnen, und irgendwann blieben nur noch Fetzen übrig. Das Gelände wurde zur Brachfläche, die sich Jahr für Jahr neu begrünte, trotz vielfacher Versuche, sie zu disziplinieren.

An meiner Straße gibt es mehrere solcher Brachen. Denn obwohl die Gegend – wie die ganze Stadt – in wachsendem Tempo überbaut wird, gibt es hier Grundstücke, auf denen die Bautätigkeit eingestellt wurde oder gar nicht erst begonnen hat. Ich mag diese Orte, weil sie in einem Schwebezustand verharren, der Freiräume schafft für das nichtmenschliche Leben.

Manchmal denke ich, dass alles, was über meine Straße zu wissen wichtig ist, im Boden lagert. Das gilt für die ganze Stadt, die ihren eigenen Negativabdruck im Boden hinterlässt: ein vielschichtiges Abbild von allem, was zerfallen, verstummt und verwittert ist und worin Ideen, Misserfolge und Möglichkeiten aufbewahrt sind. Was von den Karten verschwindet, wird vom Erdboden verschluckt. Irgendwann wird es – vielleicht – wieder an die Oberfläche kommen.

Die Schichten der Stadt lassen sich nicht vollständig ausradieren, weder buchstäblich noch symbolisch, lassen sich nicht abtragen und entsorgen wie die Erde von Grundstücken mit Altlasten. Deshalb sind unter meiner Straße die Sicherungskopien aller Ideen für dieses Quartier vergraben. Wieder ausgebuddelt würden sie die wechselhaften historischen Epochen Warschaus abbilden, wie eine Sequenz von Goo­gle-Maps-Fotos aus vergangenen Zeiten.

Hier stehen neue Wohnblöcke mit ihren Tiefgaragen auf Bruchstücken von Fundamenten längst verschwundener Häuser. Hier stößt man auf ein Netz teils geisterhafter Installationen. Der Bau der erwähnten neuen Straßenbahnlinie nach Wilanów zog sich auch deshalb so lange hin, weil das Bauunternehmen die Arbeiten ohne vollständige Pläne von dem, was unter der Erde liegt, begonnen hatte.

Zu solchen Überresten gehört auch der Schutt – Scherben einer Stadt, die im Zweiten Weltkrieg zerbrochen wurde. Im Nachkriegswarschau galt der Kriegsschutt als wertvoller Rohstoff, aus dem Stahl und Ziegel gewonnen wurden. Zermahlen und zu Backsteinen gepresst, findet er sich in den Mauern der wiederaufgebauten Häuser. Aber auch unter unseren Füßen: in Straßen und Bahndämmen, in den Böschungen, die entlang des linken Weichselufers aufgeschüttet wurden.

Im Boden finden sich auch Substanzen, die erschauern lassen. Sie sind in den Untersuchungen über historische Bodenkontaminationen verzeichnet, dargestellt auf Karten der General­direktion für Umweltschutz. Sie finden sich auch in meiner Straße: Benzo(ghi)perylen, Chrysen, Naphthalin, Arsen, Kupfer. Man muss nur etwas kräftiger an der Erdoberfläche kratzen, und die Vergangenheit steigt einem in die Nase.

Vor zwei Jahren waberte ein bitumenartiger Geruch auch durch meine Straße, schien sogar durch die Fensterscheiben zu dringen. Ein Bagger grub aus der Erde des ehemaligen Betriebshofs alles aus, was sie absorbiert hatte – stoffliche Rückstände des Warschauer Nahverkehrs, die über Jahrzehnte eingesickert waren.

In Warschau, wo es immer weniger freies Bauland gibt, giert die Immobilienbranche nach den „Brownfields“. Doch bis heute gibt es kein Verfahren zum Schutz der künftigen Nutzer und Nachbarn solcher kontaminierter Industriebrachen. Abgesehen davon mangelt es in Polen weniger an Wohnungen als an Wohnungspolitik. Auf die Luxusapartments, die auf dem Gelände des ehemaligen Betriebshofs entstehen sollen, lauern vor allem diejenigen, die an ihnen verdienen möchten – nicht die Wohnungssuchenden.

In letzter Zeit nehme ich, wenn ich von der neuen Straßenbahnhaltestelle nach Hause gehe, nicht die ruhige Nebenstraße, sondern die Hauptverkehrsstraße ein Stück weiter, wo die Autos auf vier Spuren in jede Richtung rasen und die darüber hinweg schwingende Fußgängerbrücke erbeben lassen.

Auf halber Strecke liegt hinter einem verrosteten Zaun ein weiteres Gelände, das bald unter die Erde entschwinden wird. Noch stehen die grauen Backsteinhallen der ehemaligen Warschauer Maschinenwerke, noch stehen die hohen Pappeln, die ebenfalls langsam aus der Stadt verschwinden. Aber auch dieses Grundstück wird irgendwann mit teuren Wohnobjekten überbaut sein, die sich niemand mehr wird leisten können. Doch vorerst bleibt es ein Gelände, das sich auf der Kontaminationskarte der Umweltschutzdirektion hält.

Eigentlich wollte ich über die Stadt schreiben, aber es ist mir nicht gelungen, meine Straße zu verlassen.

Aus dem Polnischen von Xymena Bukowska

Marta Sapała ist Journalistin und Autorin.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.02.2025, von Marta Sapała