08.08.2024

Aushungern

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Aushungern

Kriegsstrategie von Sudan bis Gaza

von Alex de Waal

Februar 2024: Suppenküche in Omdurman (Sudan) MOHAMED KHIDIR/picture alliance/xinhua
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Noch vor einigen Jahren schien es weltweit und quer durch das politische Spektrum einen Konsens darüber zu geben, dass es absolut unzulässig ist, Hunger als Waffe einzusetzen. Darin war sich die US-Regierung unter Donald Trump nicht nur mit dem liberalen Europa einig, sondern auch mit Russland, China und den meisten arabischen und afrikanischen Ländern.

Am 24. Mai 2018 stimmten alle 15 Mitglieder des UN-Sicherheitsrats in seltener Einstimmigkeit für die Resolution 2417, die „den Einsatz von Aushungern der Zivilbevölkerung als Methode der Kriegsführung“ entschieden verurteilt.

Sechs Jahre später herrscht bei allen Beteiligten offensichtlich eine stillschweigende Einigkeit darüber, dass das Ganze nicht wirklich gewollt war. Doch weil sie sich scheuen, die verabschiedeten Prinzipien zu verwerfen, ziehen sie es vor, die Fakten zu leugnen oder Normen und Fakten zum Einsatz von Hunger als Waffe auf eine nachgiebigere Lesart hin umzudeuten. Dabei argumentieren demokratische und autokratische Regierungen zwar unterschiedlich, kommen aber zu demselben Schluss: dass Hunger als Kriegsfolge hinzunehmen sei.

Die Hungersnöte unserer Zeit sind von Menschen verursacht. Diese schlichte Tatsache muss man immer und immer wieder betonen. Seit 2011 hat das Famine Review Committee (FRC) im Auftrag der UN in 20 Fällen eine „Integrierte Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphasen“ (Integrated Food Security Phase Classification, IPC) vorgenommen. Die IPC ist quasi die „Richterskala“ des Hungers und dient der Klärung, ob im jeweiligen Fall die Kriterien für eine „Hungersnot“ (f­amine) erfüllt sind.

In 19 der 20 IPC-Verfahren ging es um einen Ernährungsnotstand, der maßgeblich durch einen Krieg verursacht war. Die einzige Ausnahme war 2021 die Hungersnot in Madagaskar, die nach mehreren klimabedingten Dürrejahren im Süden der Insel entstanden war.

Dennoch hat sich in unseren Köpfen die Vorstellung eingebrannt, eine Hungersnot sei in aller Regel eine Naturkatastrophe. Damit verschaffen wir den Militärs und Politikern, die ihre eigenen Völker aushungern, ein willkommenes Alibi – und uns die bequeme Ausrede, es müssten nur mehr Nahrungsmittel produziert und nicht etwa die Kriegsverbrecher gestoppt werden.

Ein schlagendes Beispiel ist der Sudan. Hier führen seit April 2023 zwei korrupte Generäle einen Plünde­rungs- und Aushungerungskrieg, der die Menschen ihrer elementaren Nahrungsmittel beraubt. Dabei haben bei­de Kriegsparteien ihre arabischen Schutzpatrone.

Russland hält Verbindungen zu beiden Seiten: Moskau verhandelt mit der von der UNO anerkannten Regierung und deren Armee über einen Hafen am Roten Meer; zugleich kooperieren russische Söldner der in Africa Corps umbenannten Wagner-Gruppe mit der anderen Seite, den Rapid Support Forces (RSF). Vor diesem Hintergrund erklärte

die stellvertretende russische UN-Botschafterin Anna Evstigneeva am 13. Juni 2024 in der Debatte über die Belagerung der sudanesischen Stadt al-Fashir im UN-Sicherheitsrat: „Wir sind nicht bereit, das Hungerproblem im Sudan übermäßig zu dramatisieren.“ Stattdessen empfahl sie mehr Investitionen in die Landwirtschaft.

Die nackten Zahlen zeigen, dass im Sudan heute der weltweit schlimmste Nahrungsmittelnotstand herrscht. Laut dem IPC-Report vom 27. Juni 2024 ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung – 25 von 48 Millionen Menschen – auf humanitäre Hilfe angewiesen. Davon sind etwa 8 Millionen Menschen in akuter Not (emergency), was bedeutet, dass die Familien auf Mahlzeiten verzichten und ihre letzten Besitztümer verkaufen und dass die Kindersterblichkeit steigt. 755 000 Menschen sind bereits akut vom Hungertod bedroht.

Die Hungerkatastrophe im Sudan ist das Produkt mehrerer sich überlagernder Krisen. Die Nahrungsmittelproduktion ist unzureichend. Während industrielle Betriebe vor allem Hirse anbauen (großenteils für den Export), muss Weizen importiert werden. Hinzu kommt, dass die Regierungen in Khartum seit Jahrzehnten Aufstandsbewegungen in entfernteren Regionen mit militärischen Mitteln bekämpft haben. Im Zuge dieser Aktionen wurden Mil­lio­nen Menschen vertrieben, die in der Folge auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen waren.

Vor acht Jahren ging dem Sudan dann auch noch das Geld aus, und er konnte seine Weizenimporte nicht mehr bezahlen. Schon damals, also lange vor Ausbruch des aktuellen Bürgerkriegs, musste das Land bei den UN einen neuen Höchstbedarf an Nahrungsmittelhilfen beantragen.

Der Krieg verschärfte die Krise zur Katastrophe. Die Kämpfe begannen mit Rivalitäten zwischen den beiden Generälen, die an der Spitze der seit April 2019 herrschenden Militärjunta standen.1 Am 15. April 2023 unternahm General Mohammed Hamdan Daglo, der Kommandeur der paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF), einen Putschversuch gegen seinen Rivalen General Abdel Fattah al-Burhan, den Oberbefehlshaber der regulären Armee Sudanese Armed Forces (SAF).

Der Putsch scheiterte. Seitdem haben die Truppen beider Seiten die Hauptstadt Khartum zerstört und sich im ganzen Land erbitterte Kämpfe geliefert. Die RSF-Milizen plündern überall, wo sie hinkommen, Städte und Krankenhäuser, Märkte und landwirtschaftliche Betriebe. Die SAF bombardiert lebenswichtige Infrastrukturen und unterbindet Hilfslieferungen für Gebiete, die von der RSF kontrolliert werden, etwa für große Teile von Darfur, wo die Hungersnot am schlimmsten wütet.

Die Männer, die den Hunger im Sudan verursacht haben, sind natürlich nicht bereit, ihre Schuld einzugestehen. Stanley Cohen untersucht in seinem Buch „States of Denial“ die verschiedenen Techniken des Leugnens von Gräueltaten, mit denen sich die Täter und deren Verteidiger exkulpieren wollen.2 Auch im Fall von Hungerverbrechen beginnt es mit der schlichten Leugnung von Fakten.

Als der IPC-Report veröffentlicht wurde, bestand die erste Reaktion des sudanesischen UN-Botschafters Al-Harith Idriss al-Harith Mohamed darin, die angeführten Beweise nicht anzuerkennen. Und der Vertreter der sudanesischen Regierung, der in dem Komitee sitzt, das die IPC-Zahlen absegnet, erhebt regelmäßig Einspruch gegen Informationen von Hilfsorganisationen, die ohne die Genehmigung von Khartum tätig sind. Meist operieren diese NGOs in Gebieten, in denen die RSF die Kontrolle ausüben.

Die UN beugten sich dem Einspruch, weil SAF-Chef al-Burhan rechtlich noch immer die staatliche Souveränität repräsentiert – auch wenn er den Regierungssitz vorläufig von Khartum nach Port Sudan am Roten Meer verlegt hat und sich die Regierungspräsenz in der Hälfte des sudanesischen Territoriums auf den Abwurf von Bomben beschränkt.

Eine zweite Art des Leugnens nennt Cohen das „interpretierende Abstreiten“: Man erkennt die Fakten an, behauptet aber, dass sie nicht das sind, als was sie erscheinen. Die im IPC-Report dokumentierte Zahl der von Hunger bedrohten Menschen im Sudan ist eine der höchsten, die je registriert wurden, und sie steigt weiter an. Doch der sudanesische UN-Botschafter erklärte öffentlich, 755 000 Personen ­seien nur „unbedeutende“ 2 Prozent der Bevölkerung, und mit einer guten Ernte werde die Zahl zurückgehen. Im Übrigen schob er die Verantwortung für den Hunger und die Plünderungen auf den Kriegsgegner RSF: Es gebe genügend Nahrungsmittel im Land, doch wenn die Bauernfamilien ihre Ernte einbringen, würde sie ihnen immer von der RSF abgenommen.

Die gängige Behauptung, dass „die anderen“ schuld sind, verweist auf die dritte Art des Leugnens, die Cohen als „implicatory“, als insinuierend bezeichnet. Um die eigenen Gräueltaten zu rechtfertigen, legt man in die Fakten eine andere, verborgene Bedeutung hinein. Im Fall Sudan ist dies die Behauptung, der Vorwurf einer „Hungersnot“ diene lediglich als Vorwand für eine Intervention oder Machtübernahme von außen, womit dann das eigene extreme Handeln als bloße Reaktion gerechtfertigt wird.

Als Al-Harith Idriss vor der Presse den IPC-Befund kommentierte, erhob er wüste Beschuldigungen gegen die RSF: Die Rivalen würden auf „niederträchtige Weise“ mit „gewissen internationalen Kreisen“ zusammenarbeiten, welche die These verbreiten, dass die Hungersnot „von oben angeordnet“ sei. Damit liefere man diesen „bösen“ Kräften „einen Vorwand, im Sudan zu intervenieren“, was einen Krieg von der Dimension eines „biblischen Arma­ged­don“ bedeuten würde.

Wer diese ausländischen Verschwörer sein sollen, sagte der sudanesische UN-Botschafter nicht. Aber der sudanesische Außenminister zeigt inzwischen mit dem Finger auf die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und deren westliche Verbündete, etwa die USA und Großbritannien. Die logische Folgerung lautet: Um den Sudan gegen eine solche existenzielle Bedrohung zu verteidigen, ist jedes Mittel legitim.

Diese Position entspricht dem, was Achille Mbembe als „Neosouveränismus“ bezeichnet. Damit meint der kamerunische Theoretiker des Postkolonialismus ein letztes verzweifeltes Beharren auf einer „nationalen Souveränität“, die als Deckmantel dient, unter dem die Herrschenden die Demokratie abschaffen und Menschenrechte verletzen.

Varianten der von Cohen beschriebenen Techniken des Leugnens kennen wir auch aus Syrien und Jemen. In beiden Krisenländern fanden Gegner wie Verbündete des Westens alle möglichen Erklärungen dafür, dass es sich um keine Hungersnot handele und dass die ganze Frage unerheblich sei.

Ein jüngeres Beispiel ist Äthiopien, wo im November 2020 die Regierung in Addis Abeba einen Krieg gegen die Region Tigray begann. Wie es dazu kam, ist bis heute umstritten. Unbestreitbar ist jedoch die systematische Zerstörung von Farmen und agrarischen Erträgen, von Krankenhäusern und Wasseranlagen, gefolgt von einer totalen Blockade der Nahrungsmittellieferungen.

Aufgrund dieser Blockade starben in der Region Tigray 375 000 Menschen. Im Juli 2021 warnte das Famine Review Committee (FRC) in einem IPC-Report, dass eine Hungersnot bevorstehe. Der nächste Schritt, die offizielle Feststellung einer Hungersnot, hätte die Aushungerungsstrategie der Regierung in Addis Abeba ans Licht gebracht, weshalb diese dem FRC die Sammlung weiterer humanitärer Daten jeglicher Art untersagte. UN-Mitarbeiter:innen, die sich nicht daran hielten, wurden des Landes verwiesen.

Im Fall Tigray erwies sich der Hunger als eine billige und wirkungsvolle Waffe: Er schwächte den Widerstand der Bevölkerung und zwang deren Führung, sich auf die Friedensbedingungen der Zentralregierung einzulassen. Aber auch die UN haben sich dem politischen Druck gebeugt und ihre humanitären Prinzipien geopfert. So lautete auch das Urteil des humanitären UN-Koordinierungsgremiums Inter-Agency Standing Commitee (IASC) in seinem Bericht vom 15. Mai 2024. Selten hat eine UN-Instanz ein derart vernichtendes Urteil über das moralische Versagen einer UN-Mission gefällt.3

Der jüngste und meistdiskutierte Fall von massenhaftem Hunger als Waffe ist der israelische Gaza-Feldzug im Gefolge des Hamas-Angriffs vom 7. Oktober 2023. Allerdings hatte die israelische Regierung bereits lange vor dem brutalen Massaker an israelischen Zi­vi­lis­t:in­nen die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens explizit „auf Diät“ gesetzt.4

Nachdem die Hamas 2006 in Gaza an die Macht gekommen war, hatte die „Koordinierungsstelle des israelischen Verteidigungsministeriums für die besetzten Gebiete“ (Coordination of Government Activities in the Territories/Cogat) die Warenlieferungen in den Küstenstreifen extrem eingeschränkt. In einem Dokument mit dem Titel „Food Consumption in the Gaza Strip – Red Lines“ wurde der tägliche Kalorienbedarf berechnet, um Unter­ernährung zu vermeiden, aber die Versorgungslage dauerhaft prekär zu halten.5

Seit dem 8. Oktober 2023 hat das israelische Militär systematisch Einrichtungen zerstört, die für die Zivilbevölkerung „lebensnotwendig“ sind. Damit ist das zentrale Kriterium für das Kriegsverbrechen des Aushungerns erfüllt.6 Als weiterer Tatbestand kommt die „vorsätzliche Behinderung von Hilfslieferungen“ hinzu, die von Israel über Wochen praktiziert wurde.

Schon die IPC-Zahlen vom Dezember 2023 lieferten Belege für einen ex­tremen Ernährungsnotstand. Nie zuvor haben die Ex­per­t:in­nen eine derart rapide Krisenentwicklung dokumentiert. Ihr Bericht vom 18. März 2024, der vor einer „unmittelbar bevorstehenden Hungerkatastrophe“ warnte, veranlasste den Internationalen Gerichtshof (IGH) zu einem Beschluss: Das Gericht in Den Haag wies die israelische Regierung an, „alle notwendigen und wirksamen Maßnahmen zu ergreifen, um unverzüglich und in voller Kooperation mit den Vereinten Nationen die ungehinderte Bereitstellung von dringend benötigten Dienstleistungen und humanitären Hilfsgütern für die palästinensische Bevölkerung in ganz Gaza sicherzustellen“. Konkret genannt wurden „Nahrungsmittel, Wasser, elektrischer Strom, Treibstoff, Kleidung und Hygieneartikel wie auch Medikamente und medizinische Versorgung“.7

Die Anweisung des Gerichts erfolgte einstimmig, also auch mit der Stimme von Aharon Barak, den Israel als zusätzlichen Richter im Klageverfahren „Südafrika vs. Israel“ an den IGH entsenden durfte.8 Barak widersprach zwar entschieden dem Vorwurf des Genozids, räumte aber ein, dass Israel seinen Verpflichtungen nach dem Humanitären Völkerrecht nicht nachgekommen ist.

Auch gewichtige Stimmen in den USA – unter ihnen Samantha Power, die Direktorin der Entwicklungshilfeagentur USAID und ehemalige UN-Botschafterin – sprachen von einer Hungersnot im Norden des Gazastreifens. Das veranlasste die israelische Regierung offenbar, mehr Lebensmittel über die Grenze zu lassen und damit das Abgleiten in die schiere Hungerkatastrophe zu bremsen.

Was die israelische Armee jedoch nicht von ihrem Angriff auf Rafah im Süden des Gazastreifens abgehalten hat, wodurch die Hauptroute für die humanitären Hilfslieferungen blockiert wurde. Die Verteilung von Nahrungsmitteln und Medikamenten kam zum Erliegen und zehntausende bereits entwurzelte Menschen sahen sich dazu gezwungen, erneut nach einer anderen Zuflucht zu suchen.

Die Fakten werden schlicht geleugnet

Ein deutlicher Beleg für die rücksichtslose Härte der israelischen Armee im Gazastreifen ist die Anzahl der humanitären Helfer:innen, die in Ausübung ihrer Arbeit getötet wurden. Mehr als 160 von ihnen wurden zwischen Oktober und Dezember 2023 getötet (im Rest der Welt wurden 2023 insgesamt 112 Hel­fe­r:in­nen getötet). Das setzte sich im Jahr 2024 fort: Bis Anfang Juli wurden in den besetzten palästinensischen Gebieten 97 Mitglieder humanitärer Organisationen getötet.

Auf die Anschuldigung, für den Hunger in Gaza verantwortlich zu sein, reagierten die Israelis zunächst mit dem Leugnen der Fakten. Dabei ergaben sich allerdings zwei Probleme: erstens die weltweite Aufmerksamkeit für die Situation in Gaza; und zweitens die extremen und unbedachten Äußerungen hochrangiger Regierungsvertreter, die ganz offen vom Aushungern des Gazastreifens gesprochen hatten.

„Ich habe eine komplette Belagerung des Gazastreifens angeordnet“, erklärte Verteidigungsminister Joav Galant am 9. Oktober 2023 in Beer Scheva. „Es wird keinen Strom geben, keine Nahrungsmittel, kein Benzin, alles ist abgeriegelt.“ Und dann kam der infame Satz: „Wir kämpfen gegen Tiere in Menschengestalt, und wir agieren entsprechend.“

Selten hat jemand die Absicht, eine Bevölkerung auszuhungern, derart offen ausgesprochen. Nichtsdestotrotz haben die israelische Regierung und deren Verbündete in den USA ein Gespür für die rechtliche Problematik, weshalb später vor dem IGH in Den Haag ein israelischer Vertreter Galants Sätze als Gefühlsausbruch verharmlost hat, der nicht die offizielle Politik repräsentiere.

Auch im Fall Gaza erkennen wir die drei Techniken des Leugnens, die Stanley Cohen unterscheidet. Besonders leicht zu durchschauen ist das schlichte Abstreiten von Fakten. So präsentierte die Cogat am 6. März 2024 eine Liste der Lkw-Ladungen, die über die Grenzübergänge in den Gazastreifen gelangt seien.9 Angeblich waren damit die Zahlen des IPC-Reports widerlegt.

Die Angaben über die Ladung lassen sich allerdings nicht überprüfen; zudem wurde die angewandte Methode – die simple Addierung der Kalo­rien­mengen – von Ex­per­t:in­nen längst aufgegeben. Doch selbst wenn die Zahl der angekommenen Mehlsäcke korrekt wäre, beantwortet das nicht die entscheidenden Fragen: Wie erreicht das Mehl die Menschen, die es am dringendsten benötigen? Werden die Hungernden mit anderen wichtigen Nahrungsmitteln versorgt? Was geschieht, um den Grundbedarf an Wasser, sanitärer Versorgung und spezieller Krankenkost zu decken? Können die Ärmsten die auf den Märkten angebotenen Lebensmittel kaufen?

Die zweite Technik, das „interpretierende Leugnen“, fußt auf folgender Argumentation: Da der IPC-Report vom März eine Hungerkatastrophe vorausgesagt hatte, der Bericht vom 25. Juni 2024 aber ein anderes Bild zeichnete, sei die frühere Darstellung eine böswillige Erfindung gewesen. Tatsächlich aber dokumentierte der Juni-Report die Zunahme der Hilfslieferungen im April und im Mai – zum Teil in Reaktion auf den IPC-Report vom März –, durch die das Schlimmste verhindert wurde.

Die dritte, die „insinuierende“ Technik des Leugnens arbeitet mit der Unterstellung, wer von einer Hungersnot in Gaza spreche, tue dies nur aus Sympathie für die Hamas. Diese Technik benutzte Netanjahu zuletzt in seiner Rede vor dem US-Kongress am 25. Juli. Doch diese Argumentation ist für die israelische Seite schon deshalb problematisch, weil das von der US-Regierung aufgebaute Frühwarnsystem Fews Net (Famine Early Warning Systems Network) noch viel alarmierendere Töne angeschlagen hatte: Im März 2024 kam Fews Net zu dem Schluss, dass die Hungersnot in Gaza wahrscheinlich schon in vollem Gange ist.

Alles Abstreiten läuft letztlich darauf hinaus, die Dinge so zu verdrehen, dass das israelische Handeln völkerrechtlich zulässig und nur das tragische Resultat eines aufgezwungenen Kriegs sei. Das grundlegende Argument lautet demnach, dass Israel angesichts einer existenziellen Gefahr für sein nationales Überleben lediglich sein Recht auf Selbstverteidigung ausübe. Ganz so, wie auch afrikanische und arabische Autokraten auf ihre „Souveränität“ pochen.

Wie definiert man vorsätzlich?

Für die israelische Regierung war es von höchster Bedeutung, ob sie mit ihrer Position in Washington durchkommt. Im Gesetz über US-Auslandshilfen (Foreign Assistance Act) gibt es eine Klausel, wonach Waffenlieferungen an ein Land, das US-Hilfslieferungen blockiert, einzustellen seien. Das Vorgehen der Israelis in Gaza stellte Washington vor die Frage, ob man weiterhin Rüstungsgüter an Israel liefern kann.

Zu dieser Frage musste die Regierung dem Kongress ein Memorandum vorlegen. Ihre Ex­per­t:in­nen für humanitäre Hilfe zweifelten nicht daran, dass Israel Hilfslieferungen blockiert, und das schrieben sie auch so auf. Doch die Endfassung, an der sie nicht mehr mitwirkten, plädierte für weitere Waffenlieferungen an Israel. Eine langjährige Beraterin des State Departments, die an der ersten Fassung des Berichts beteiligt war, trat daraufhin zurück.10

Allerdings begannen die Juristen der US-Administration ihre Meinung zu überdenken, nachdem der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gegen Israels Regierungschef Netanjahu und dessen Verteidigungsminister Galant Haftbefehle beantragt hatte – unter anderem weil es Grund zur Annahme gebe, dass sie für das Kriegsverbrechen des Aushungerns verantwortlich sind.

Das IStGH-Statut verbietet in Artikel 8 (2b) Abs. (xxv) „das vorsätzliche Aushungern als Methode der Kriegsführung durch das Vorenthalten der für sie lebensnotwendigen Gegenstände, einschließlich der vorsätzlichen Behinderung von Hilfslieferungen, wie sie nach den Genfer Abkommen vorgesehen sind“.

Die entscheidende Frage lautet, wie man „vorsätzlich“ definiert. Die vorherrschende juristische Meinung geht dahin, dass die verbotene Handlung absichtsvoll geschieht und das Verhungern von Zivilpersonen eine vorhersehbare Folge dieser Handlung ist.11 Eine engere Definition besagt dagegen, dass eine sowohl spezifische als auch vorrangige Absicht des Aushungerns vorliegen muss.

Das US-Militär interpretiert das Verbot des Aushungerns so, dass ein „incidental“ – nicht primär intendiertes – Verhungern von Menschen während einer militärischen Belagerung zulässig ist. Das wäre faktisch eine „Lizenz“ für die Methode, den Feind zur Kapitu­la­tion zu zwingen, indem man die Zivilbevölkerung aushungert, wie sie zum Beispiel vom Assad-Regime im syrischen Bürgerkrieg praktiziert wurde.

Die Pentagon-Juristen machen zudem geltend, dass sie an das Humanitäre Völkerrecht (International Human Law, IHL) und nicht an das Römische Statut des IStGH gebunden seien. Diese Unterscheidung ist deshalb relevant, weil Verstöße gegen das IHL in der Regel nur zu Verfahren vor einem Militärgericht, aber nicht vor einem unabhängigen Gericht führen.

Diese militärische Lesart impliziert, dass ein Kommandeur der Armee selbst nach der offiziellen Warnung vor einer Hungersnot die Menschen weiter in den Hunger treiben kann. Eine derart enge Definition für das Kriegsverbrechen des Aushungerns bedeutet schlicht, dass alle aktuellen Fälle, in denen Hunger als Waffe eingesetzt wird, nicht strafbar wären.

Im Fall Gaza wird die Schwelle für den Begriff „Aushungern“ so hoch angesetzt, dass die israelischen Praktiken als legitim erscheinen. Statt das Verhalten der Netanjahu-Regierung an höheren völkerrechtlichen Standards zu messen, wird die nachsichtige Behandlung derartiger Verbrechen zum universellen Maßstab erhoben. Es sollte uns nicht überraschen, wenn Hungerkatastrophen in Zukunft noch häufiger und noch verheerender werden.

1 Siehe Alex de Waal, „Sudan’s Manmade Famine“, Foreign Affairs,17. Juni 2024; siehe auch Gérard Prunier, „Sudan – Vom Krieg zerrissen“, LMd, März 2024.

2 Stanley Cohen, „States of Denial: Knowing about atrocities and suffering“, Cambridge (Polity Press) 2001.

3 „Inter-Agency Humanitarian Evaluation of the Response to the Crisis in Northern Ethopia“, Inter-Agency Humanitarian Evaluation Steering Group, 15. Mai 2024.

4 Siehe „Putting Palestinians ‚On a Diet‘: Israel’s ­Siege & Blockade of Gaza“, Institute for Middle East Understanding (IMEU), 14. August 2014.

5 2012 veröffentlichte die israelische NGO Gisha eine englische Fassung des Dokuments.

6 Vgl. „Wenn Hunger zur Kriegswaffe wird“, Welternährung, Mai 2020.

7 „Application of the Convention on the prevention and punishment of the Crime of Genocide in the Gaza Strip (South Africa v. Israel)“, IGH, 28. März 2024.

8 In einem IGH-Verfahren können der klagende wie der beklagte Staat einen zusätzlichen Richter stellen, wenn sie nicht schon im IGH-Kollegium vertreten sind.

9 „Food and Security in the Gaza Strip: Response to IPC report“, Cogat, 6. März 2024; eine ähnliche Liste wurde Anfang Juni von israelischen Ernährungswissenschaftlern vorgelegt.

10 Julian Borger, „US state department falsified report absolving Israel on Gaza aid – ex-official“, The Guar­dian, 31. Mai 2024.

11 Siehe Tom Dannenbaum, „Nuts & Bolts of Int’l Cri­minal Court Arrest Warrant Applications for Senior Israeli ­Officials and Hamas Leaders“, Just Security, 20. Mai 2024.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Alex de Waal ist Geschäftsführer der World Peace Foundation an der Fletcher School of Law and Diplomacy (Tufts University) und u. a. Autor von „Mass Star­va­tion. The History and Future of Famine“, Hoboken (Wiley & Sons) 2018.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.08.2024, von Alex de Waal