11.04.2024

Gaza ist in uns, wir sind in Gaza

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Gaza ist in uns, wir sind in Gaza

Über das israelische Selbstbild nach dem 7. Oktober

von Ofra Rudner

Zerstörte Häuser im Kibbuz Kfar Azza, 29. Januar 2024 LEO CORREA/picture alliance/ap
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Vor Kurzem kam mir wieder der dystopische Roman „O Destino Turistico“ (2008) des portugiesischen Schriftstellers Rui Zink in den Sinn. Der Titel bezieht sich auf ein „Reiseziel“, das ein reales, von brutalen Milizen kon­trol­lier­tes Kriegsgebiet ist und zugleich als Ziel für „Erlebnisreisen“ westlicher Touristen vermarktet wird.

Tatsache ist, dass es im Westen – in dieser abgeschotteten Spaßgesellschaft – mehr denn je das Bedürfnis gibt, etwas „Reales“ zu erleben, mit etwas Authentischem in Berührung zu kommen. Das ist der Grund, warum ein derartiger Kriegstourismus inzwischen tatsächlich existiert.

Im Grunde ist diese Art Tourismus die logische Weiterentwicklung der – in reichen Ländern – seit Langem boomenden Sparte „Abenteuerreise in eine unterentwickelte Weltgegend“. Unter dem Motto „mit wenig zurechtkommen“ kann man dort die Erfahrung machen, wie es sich mit primitiven sanitären Anlagen oder dem Risiko von Erdrutschen lebt.

Warum nicht noch weitergehen? So gesehen ist Kriegstourismus zugleich die nächste Entwicklungsstufe von Escape Rooms, die „Horror als Vergnügung“ anbieten. Jenseits des kolo­nia­lis­ti­schen Elendstourismus kann er sich auch in unterschiedlichen Arten von Binnentourismus entfalten.

Für uns in Israel gibt es solche touristisc hen Angebote schon seit geraumer Zeit – im Westjordanland. Die Regionalverwaltung von Schomron (Samaria), die für die israelischen Siedlungen im Norden der besetzten Gebiete zuständig ist, bietet auf ihrer Website diverse Trips an: „Weintouren“ zu verschiedenen Weingütern; einen Ausflug zum Berg Garizim, mit „Aussicht auf die Stadt Sichem“, also auf Nablus, zu einer Tahina-Fabrik oder zum Samaritaner-Museum, wo „gutes Essen und guter Wein“ geboten werden.

Solche Tagestouren nach „Samaria“, in den Norden des Westjordanlands, sind für israelische wie für ausländische Touristengruppen gedacht. Wenn man die entsprechenden Angebote googelt, hat man den Eindruck, der Besuch dieser Orte sei etwas Stinknormales. Letzten Sommer warb die rechte Wochenzeitung Makor Rishon für Familienausflüge ins Westjordanland unter der Überschrift: „Firing Zone – eine Reise zu den traumhaften Quellen und Bächen des samaritischen Berglandes“.1

Doch das krasseste und aktuellste Beispiel ist der Tourismus zu den ausgebrannten Häusern der Kibbuzim, der sich in den letzten Monaten im Süden Israels entwickelt hat. Dieser Geschäftszweig floriert derzeit prächtig und verspricht weit mehr als ein flott geschossenes Selfie vor den verkohlten Ruinen eines Hauses von Hamas-Geiseln. In einem Interview erläuterte ein Reiseleiter das Angebot für eine Gruppenreise: für 1500 Schekel (etwa 370 Euro) geht es auf einer „geführten Tour“ zu den Schauplätzen der Massaker vom 7. Oktober; genannt werden „die Polizeistation in Sderot, das Gelände des Supernova-Festivals und einer der Kibbuzim“.

Gebucht werde dieses Programm von jüdischen Persönlichkeiten aus dem Ausland, aber auch von normalen Israelis aus dem Zentrum des Landes, das nur eine Autostunde vom Schauplatz der Katastrophe entfernt liegt. Fassungslose Kibbuz-Bewohner:innen, die den 7. Oktober überlebt haben und zurückgekehrt sind, um ihre Häuser wieder aufzubauen, klagten im Januar gegenüber der Zeitung Haaretz, sie würden sich vorkommen wie Tiere im Zoo.

Diese neue Facette unserer Tourismusindustrie ist eine überaus passende Metapher für den Schwebezustand zwischen Erster und Dritter Welt, in dem Israel verfangen ist. Der Krieg ist zu einem attraktiven Reiseziel geworden, während wir gleichzeitig von seinem Räderwerk geschreddert und verschlungen werden.

Für die Erste Welt ist der „Krieg im Nahen Osten“ entweder eine Art Film mit schwer erträglichen Bildern oder ein Thema für heftige politische Debatten – ein Programm zur Unterhaltung oder eine Gelegenheit, ein paar modische Slogans zu zünden (wie wir es auf dem Campus westlicher Elite­unis erlebt haben). Israel ist das Tor des Westens zum Nahen Osten mit seinen zahlreichen Konfliktzonen. Und als solches steht es zwischen den Welten: dem Reich der Unterhaltung und der elenden Wüste der Realität. Doch diese Realität hat den Grenzzaun zwischen beiden Welten am 7. Oktober auf brutale Weise durchbrochen.

Die Israelis hatten ein fast mystisches Vertrauen in den Puffer zwischen ihrer selbsternannten „Start-up-Na­tion“2 und dem hoffnungslosen Chaos des Gazastreifens. Wir haben gelebt, als hätten die Zustände in Gaza nichts mit uns zu tun. Als wären wir lediglich Touristen aus der Zukunft und die Menschen auf der anderen Seite des Zauns mit ihren Brandballons nur lustige Figuren, die man nicht ernst zu nehmen braucht.

Tatsächlich beruht die repressive Politik der Netanjahu-Ära auf der Verweigerung einzusehen, dass wir nicht die arglosen Touristen sind, sondern im Gegenteil das Reiseziel selbst: eine dicht bevölkerte, vom Zerfall bedrohte Bananenrepublik, in der bewaffnete Milizen immer mehr Einfluss gewinnen und die sich rasch der touristischen Klassifizierung „Reiseland für Mutige“ annähert: ein Land, das der Dritten Welt zugehörig, aber zugleich völlig vom Westen abhängig ist.

Seit etlichen Jahren hat Netanjahu diese geistige Verwirrung der Israelis befeuert. In der Sprache der Psychologie handelt es sich dabei um eine „narzisstische Persönlichkeitsstörung“, die in grotesker Zuspitzung durch die Person Netanjahu selbst verkörpert wird: ein Fall von Größenwahn, kombiniert mit dem Selbstmitleid des ewigen Opfers; ein Machtpolitiker, der sich wenn nötig als Bürger zweiter Klasse gibt.

Netanjahu appelliert an das Gefühl jüdischer Überlegenheit, stachelt aber gleichzeitig den israelischen Minderwertigkeitskomplex an. So erscheint Israel als eine kleine und abgelegene Provinz des Westens, die davon träumt, ein Empire zu sein, das sogar eine kleine eigene Kolonie unterhält; die zugleich aber extrem verwundbar ist und deshalb auf bedingungslose Unterstützung pocht und sofort beleidigt ist, wenn aus dem Westen ein Wort der Kritik an ihrer schändlichen Politik in den besetzten Gebieten kommt.

Vor dem 7. Oktober wurde diese Illusion mehrmals angeknackst, aber nie zerbrochen. Es waren perfekte Bedingungen, unter denen eine faschistische Rechte gedeihen konnte, während die liberale Mehrheit der Israelis sich mit einem Anschein von Normalität selbst beschwichtigte. Wie hielten uns an der Illusion fest, und solange die nicht in die Brüche ging, konnten wir hier auf Messers Schneide leben – und uns drauf konzentrieren, den nächsten Billigflug zu buchen.

Genau dies war Netanjahus Versprechen an die liberale Öffentlichkeit. Und diese beschwichtigende Atmosphäre pflegten auch die Medien, die ihre Rolle als Instanz der Berichterstattung fast völlig aufgaben und auf keinen Fall riskieren wollten, als kritisch, und noch schlimmer: als „links“ bezeichnet zu werden.

Nachdem die Illusion am 7. Oktober zerschmettert wurde, hofften einige von uns, dass man in Israel beginnen würde, der Realität ins Auge zu sehen. Doch stattdessen haben die Illusion und das falsche Bewusstsein nur eine andere Form angenommen, die militanter und gefährlicher ist: die Fantasie vom „absoluten Sieg“.3 Und so werden wir zu Touristen, die einen Krieg, der uns zerstört, zum Anlass für Freizeitvergnügungen machen.

Als der Gazakrieg ausbrach, priesen Israel-Unterstützer auf der ganzen Welt in den sozialen Medien unsere gute Moral. „Die Israelis haben nicht eine Spur von Angst“, war da zu lesen, „sie sind happy, sie wissen, dass sie gewinnen werden.“ Und tatsächlich: Von außen betrachtet sind wir in den letzten Monaten eine Nation gewesen, die den Krieg feiert, als handle es sich um ein New-Age-Festival, mit ehrenamtlich organisiertem Catering für die Soldaten und den stets gleichen spirituellen Parolen für die Massen.

In unseren Medien, in den sozialen Netzwerken, auf Plakatwänden und in den Kriegssongs israelischer Rapper werden Krokodilstränen für die Geiseln und die toten Soldaten vergossen, zugleich aber der Krieg unablässig gefeiert, mit fröhlichen Slogans wie „Gemeinsam werden wir siegen!“

Nichts ist heiliger als der „absolute Sieg“, nicht einmal das Leben der Geiseln, deren Freilassung davon abhängt, ob der Krieg beendet werden kann. Umfragen zufolge ist eine Mehrheit der Israelis bereit, für die Rückkehr der Geiseln einen hohen Preis zu zahlen. Doch obwohl das Schicksal der Entführten uns bis zum Wahnsinnigwerden schmerzt, scheut sich das is­rae­li­sche Ego, den Krieg zu beenden.

In Wahrheit weiß das israelische Ego nicht, wie man mit den Entführten umgehen soll. Denn die sind zwar ein Teil von uns, aber gefangen an jenem anderen Ort, in jener anderen Welt, die dem Brutkasten unseres falschen Bewusstseins so unendlich fern liegt.

Das könnte der Grund für die unbarmherzigen Attacken sein, die seit Monaten von der extremen Rechten gegen die Familien der Geiseln gefahren werden. Und auch die Erklärung für die unerträgliche Leichtigkeit, mit der es die extreme Rechte geschafft hat, dass die Stimmen, die nach der Freilassung der Geiseln rufen, im Nichts verklingen. Dieser extremen Rechten – in der Regierung wie auf der Straße – ist es offenbar gelungen, viele Israelis davon zu überzeugen, dass „die Demonstra­tio­nen nur die Verhandlungen über die Freilassung der Entführten gefährden“ und dass es besser sei, die Entführten „für den absoluten Sieg zu opfern“.

Und vielleicht hatte die extreme Rechte damit so leichtes Spiel, weil das Thema Geiseln die Israelis zwingen könnte, innezuhalten und die bittere Wahrheit zu schmecken. Was bedeuten würde, nicht nur das Trugbild vom absoluten Sieg aufzugeben, sondern endlich auch die Realität zur Kenntnis zu nehmen – so wie sie ist und nicht, wie sie Reisegruppen dargeboten wird; ohne Staffagen, ohne gastronomische Verpflegung und ohne fröhliche Slogans.

Israel muss sich der Tatsache stellen, dass Gaza nicht „dort drüben“ ist, sondern „hier“. Gaza ist in uns, und wir sind in Gaza. Es ist das Monstrum, das wir geschaffen haben. Und das uns geschaffen hat. Der lebende Beweis dafür sind die Geiseln, gefangen im Irgendwo zwischen den beiden Welten.

Die Erinnerung an den 7. Oktober und die durchbrochene Grenze wird niemals verheilen. Aber auch die Illusion wird niemals wieder heil sein.

1 „Firing Zones“ sind von der israelischen Armee deklarierte militärische Sperrzonen im besetzten Westjor­dan­land (etwa 18 Prozent des Territoriums).

2 So der Titel des Bestsellers von Dan Senor und Paul Singer über das „israelische Wirtschaftswunder“, New York (Twelve) 2009.

3 So das offizielle Kriegsziel der Netanjahu-Regierung.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Ofra Rudner ist Journalistin für Haaretz. Dieser Text ist eine aktualisierte Fassung ihres Artikels „Tourism to Atrocity Sites Exposes the Lie Israelis Tell Themselves“, Haaretz, 17. Februar 2024.

© Ofra Rudner/Haaretz; für die deutsche Über­setzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.04.2024, von Ofra Rudner