08.02.2024

Wiedersehen mit Julian

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Wiedersehen mit Julian

Mein Besuch beim Wikileaks-Gründer im Belmarsh Prison

von Charles Glass

September 2023: Fahrraddemo für Assange JEFF GILBERT/alamy
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Mittwoch, 13. Dezember 2023, 14.30 Uhr. Julian Assange betritt den Besucherbereich. Mit seinen knapp 1,90 Meter, dem wallenden weißen Haar und kurz getrimmten Bart sticht er aus der Gruppe der 23 Häftlinge hervor. Er kneift die Augen zusammen, sucht nach einem vertrauten Gesicht zwischen den Partnerinnen, Schwestern, Söhnen und Vätern seiner Mitgefangenen.

Ich warte, wie mir angewiesen wurde, an Tisch D-3, einem von 40 kleinen Couchtischen mit jeweils drei gepolsterten Stühlen – ein roter und zwei blaue. Die Möbel sind am Boden festgeschraubt. Unsere Blicke treffen sich, wir kommen aufeinander zu und umarmen uns. Ich sehe ihn das erste Mal seit sechs Jahren. „Du bist blass“, platzt es aus mir heraus. „Das nennt man Gefängnisblässe“, scherzt er.

Seit Julian Assange im Juni 2012 in der ecuadorianischen Botschaft in London Zuflucht suchte, ist er nicht mehr an der frischen Luft gewesen – abgesehen von der Minute, als er von der Polizei in einen Transporter gezerrt wurde. Durch die hohen Fenster der Botschaft konnte er zumindest den Himmel sehen. Am 11. April 2019 kam er in das Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh im Südosten Londons. Seitdem hat er kein einziges Mal die Sonne gesehen. 23 Stunden am Tag ist er in seiner Zelle eingeschlossen. Die eine Stunde Freizeit verbringt er ebenfalls in einem geschlossenen Raum, unter Aufsicht. Seine Blässe lässt sich am besten als Totenblässe beschreiben.

Ich war anderthalb Stunden vor dem Termin eingetroffen, um keine Zeit bei der Anmeldung und der Sicherheitskontrolle zu verlieren. Die Prozedur begann im Besucherzentrum, das Innere so trostlos wie ein 50er-Jahre-Speisesaal auf einem Gemälde von Edward Hopper: billige Tische, klapprige Stühle, schummriges Licht und verglaste Schließfächer. Eine freundliche Angestellte, kaum jünger als ich mit meinen 72 Jahren, sagte, ich sei aber früh dran, und empfahl mir, noch einen Kaffee zu trinken. Ich bekam einen Becher heißes Wasser mit Instantpulver.

Zwanzig Minuten später, um 13.15 Uhr, öffnet sich eine Tür und die Be­su­che­r:in­nen bilden eine Schlange vor dem Schalter für die Passierscheine. Als ich dran bin, fragt eine der drei uniformierten Frauen: „Sie sind wegen Mister Assange hier?“ Geradezu höflich nimmt sie von meinen Zeigefingern jeweils einen Abdruck und bittet mich, in eine oberhalb des Schalters befestigte Kamera zu schauen, die ein Foto von mir macht.

Ich zeige ihr die drei mitgebrachten Bücher für Assange. Mein eigenes „Soldiers Don’t Go Mad“ über die Geschichte einer Nervenheilanstalt, in der nach dem Ersten Weltkrieg traumatisierte Soldaten behandelt wurden; Sebas­tian Faulks neuen Roman „The Seventh Son“ und „Die Akte Pegasus“, den Investigativbericht über die Spy-Software von Laurent Richard und Sandrine Rigaud. Als ihre Kollegin mein Autogramm auf dem Cover sieht, verbietet sie mir, es ihm zu geben. Ich stelle die Frage, die man im Gefängnis nicht zu stellen hat: Warum? In Bücher für Insassen dürfe nichts hineingeschrieben werden. Ich sage, es sei doch nur meine Signatur. Egal. So sind die Regeln. Ich solle nebenan warten, während sie prüft, ob ich die beiden anderen Bücher mit hineinnehmen darf.

Ich trinke den lauwarmen Nescafé und lese Zeitung. Weitere Be­su­che­r:in­nen treffen ein, meist Frauen, und reihen sich in die Schlange ein. Manche haben kleine Kinder oder Babys dabei. Eine kommt mit ihrem vielleicht zwölfjährigen Sohn. Eine andere erinnert mich mit ihren knallrot geschminkten Lippen an die Filmdiva Diana Dors. Eine ältere südostasiatisch aussehende Frau humpelt auf einen Stock gestützt an mir vorbei. Eine jüngere Frau trägt Hidschab. Es gibt auch ein paar ältere Männer, die wahrscheinlich ihre Söhne besuchen. Die meisten von ihnen scheinen nicht das erste Mal hier zu sein.

Zurück am Schalter erklärt mir die Angestellte, dass Assange überhaupt keine Bücher mehr bekommen dürfe. Warum nicht? Er müsse zuerst Bücher aussortieren, bevor er neue bekommen kann. Wieder frage ich: Warum? Ohne die Miene zu verziehen, antwortet sie: „Brandschutz“. Ich muss an Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ denken, traue mich aber nicht zu sagen: „Manuskripte brennen nicht.“

Ich verstaue die Bücher und alles andere, was ich dabeihabe, in einem Schließfach – Telefon, Stift, Laptop, Zeitungen. Und stecke mir nur die erlaubten 25 Pfund in bar für einen eventuellen Gefängnissnack ein. Die Frauen händigen mir einen Papierschein und einen Ausweis aus, den ich um den Hals tragen soll: „H[is]. M[ajesty’s]. Prison Belmarsh – Social Visitor 2199“. Zusammen mit der Gruppe gehe ich über den Hof zum Besuchereingang. Dort werden unsere Fingerabdrücke überprüft, wir werden von einem Bodyscanner durchleuchtet und ein hübscher Golden Retriever beschnüffelt uns auf der Suche nach Drogen. Schließlich betreten wir den Besucherraum, um auf die Gefangenen zu warten.

Julian und ich setzen uns einander gegenüber, ich auf den roten Stuhl, er auf einen der blauen. Über unseren Köpfen hängen Kugeln. Sie verbergen Kameras, die die Interaktionen zwischen Insassen und Besuchern aufzeichnen. Ich weiß nicht, wie ich das Gespräch beginnen soll, und frage ihn, ob ich ihm an der Snackbar etwas kaufen kann. Er bittet um zwei heiße Schokoladen, ein Käse-Gurken-Sandwich und ein Snickers. Ich frage ihn, ob er mich nicht begleiten wolle. Nicht erlaubt, sagt er. Also stelle ich mich allein an der Theke an, die von den ­Bexley-&-Dartford-Samaritern betrieben wird. Als ich an die Reihe komme, sind die Sandwiches schon aus. Es gibt nur noch Junk Food: Chips, Schokoriegel, Cola, zuckrige Muffins.

Ich gehe zurück zu Julian, der inzwischen auf einem anderen Stuhl sitzt. Ein Wärter hat ihn angewiesen, sich umzusetzen. Häftlinge gehören auf den roten, Besucher auf den blauen Stuhl. Ich stelle das Tablett mit seinen heißen Schokoladen, dem Snickers und ein paar Muffins auf den Tisch. Ich frage, warum es nur ungesundes Essen gebe. Er lächelt und sagt, ich sollte erst sehen, was sie drinnen essen, bei einem Budget von 2 Pfund pro Insasse und Tag. Porridge zum Frühstück, eine dünne Suppe zum Mittag und nicht viel mehr zum Abendessen.

Julian hatte gedacht, im Gefängnis würde es gemeinsame Mahlzeiten an langen Tischen geben, wie im Kino. Doch in Belmarsh schieben die Wärter das Essen in die Zelle und die Gefangenen essen allein. Das macht es schwer, Freunde zu finden. Julian ist seit viereinhalb Jahren hier, länger als alle anderen Insassen seines Blocks, mit Ausnahme eines alten Herrn, der schon seit sieben Jahren einsitzt. Immer mal wieder bringt sich jemand um, erzählt Julian, so auch vergangene Nacht.

Ich entschuldige mich, dass ich ihm keine Bücher mitgebracht habe, und erkläre, dass man mir gesagt hätte, sein Limit sei erschöpft. Er lächelt wieder. In den ersten Monaten waren ihm nur knapp ein Dutzend Bücher erlaubt. Später wurde das Limit auf 15 angehoben. Er forderte mehr. Wie viele es jetzt seien? „232.“ Jetzt bin ich es, der lächelt.

Ich frage ihn, ob er noch das Radio habe, das er sich im ersten Jahr so mühsam erkämpft hatte. Ja, aber es funktioniere nicht mehr, weil der Stecker kaputt sei. Alle anderen dürfen sich im Gefängnisshop ein Radio kaufen. Ihm wurde dieses Recht verweigert. Als ich davon hörte, schickte ich ihm ein Radio. Es kam zurück. Dann schickte ich ihm ein Buch, in dem beschrieben wird, wie man sich ein Radio selbst baut. Auch das kam zurück.

Monate vergingen, ich kontaktierte eine in Großbritannien bekannte ehemalige Geisel, die in den 1980er Jahren von der Hisbollah im Libanon entführt worden war, und bat um Hilfe. Ich wusste, dass die Entführer ihm damals ein Radio gegeben hatten und dass der BBC World Service ihn davor bewahrt hat, den Verstand zu verlieren. Auf meine Bitte hin schrieb er der Gefängnisleitung. Hätten die Medien berichtet, dass Belmarsh Assange ein Grundrecht verweigert, das selbst die Hisbollah ihren Geiseln gewährt, hätte das einen ordentlichen Imageschaden bedeutet. Julian bekam sein Radio. Ob ich ihm helfen solle, die Leitung dazu zu bewegen, den kaputten Stecker auszutauschen? Nein, das würde ihm nur unnötigen Ärger einbringen.

Wie hält er sich als Nachrichten-Nerd auf dem Laufenden? Das Gefängnis erlaubt ihm, ausgedruckte Zeitungsartikel zu lesen, und er kriegt Post von Freunden. Ich sage, wie wichtig es doch gerade jetzt sei, angesichts der Kriege in der Ukraine und in Gaza, dass Whistleblower Dokumente an Wiki­leaks schicken. Er ist betrübt, dass Wiki­leaks heute nicht mehr in der Lage ist, Kriegsverbrechen und Korruption aufzudecken. Seine Inhaftierung, die Überwachung durch die US-Regierung und die erschwerte Finanzierung von Wiki­leaks schrecken potenzielle Whistle­blower ab. Er befürchtet, dass andere Medien das entstandene Vakuum nicht füllen.

In Belmarsh gibt es keine Fortbildungsangebote, kein Gefängnisorchester, keine Sportgruppen, keine Gefängniszeitung, für die man schreiben könnte, wie es in vielen anderen Haftanstalten üblich ist. Die rund 700 Insassen in Belmarsh sind Gefangene der Kategorie A: „die größte Gefahr für die Öffentlichkeit, die Polizei oder die na­tio­na­le Sicherheit“. Sie wurden entweder bereits verurteilt – wegen Terrorismus, Mord oder Sexualdelikten – oder warten auf ihr Verfahren.

Die Besuchszeit endet. Wir stehen auf und umarmen uns. Ich sehe ihn an, unfähig, Goodbye zu sagen. Stumm umarmen wir uns noch einmal.

Die Be­su­che­r:in­nen strömen zum Ausgang; die Gefangenen bleiben sitzen und müssen gleich zurück in ihre Zellen. Abgesehen von den gelegentlichen Besuchstagen sehen Julians Tage alle gleich aus: die Enge, die Einsamkeit, die Bücher, die Erinnerungen, die Hoffnung, dass seine Anwälte mit ihrer Berufung gegen die Auslieferung in die USA erfolgreich sind. Die Anhörung findet am 20. und 21. Februar vor dem High Court in London statt.

Als ich durch die automatischen Türen wieder die Außenwelt betrete, kommen mir die letzten Worte aus Alexander Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ in den Sinn: „Solcher Tage waren es in seiner Haftzeit vom Wecken bis zum Zapfenstreich dreitausendsechshundertdreiundfünfzig. Drei Tage zusätzlich – wegen der Schaltjahre …“

Aus dem Englischen von Anna Lerch

Charles Glass ist Autor und Journalist. Zuletzt erschien von ihm: „Soldiers Don’t Go Mad: A Story of Brotherhood, Poetry, and Mental Illness During the First World War“, New York (Penguin Press) 2023. Dieser Text erschien zuerst bei The Nation, 2. Januar 2024.

Le Monde diplomatique vom 08.02.2024, von Charles Glass