09.11.2023

Die Gaza-Falle

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Die Gaza-Falle

Abschotten und einhegen – der Masterplan und die Wirklichkeit

von Eyal Weizman

Der Kibbuz Nahal Oz in den 1950er Jahren Meitar Collection/The Pritzker Family National Photography Collection/The National Library of Israel
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Es geschah am 28. April 1956, acht Jahre nach der Nakba (Katastrophe), als eine Truppe palästinensischer Fedajin den aufgerissenen Graben passierte, der damals die Grenze zwischen dem Gazastreifen und dem Staat Israel bildete.

Auf der einen Seite des Grabens lebten etwa 300 000 Palästinenser, zwei Drittel von ihnen waren aus dem umliegenden Territorium vertrieben worden. Auf der anderen Seite befand sich eine Handvoll neu errichteter israelischer Siedlungen. Die Fedajin versuchten in den Kibbuz Nahal Oz einzudringen. Dabei töteten sie den Sicherheitsoffizier Roi Rotberg. Sie verschleppten seinen Leichnam nach Gaza, gaben ihn aber nach einer Intervention durch die UNO wieder zurück.

Zufällig weilte damals der israelische Generalstabschef Mosche Dajan anlässlich einer Hochzeit in Nahal Oz, und so bat man ihn, beim Begräbnis von Rotberg die Gedenkrede zu halten. Dajan sprach auch über die Männer, die Rotberg umgebracht hatten: „Warum sollten wir uns beklagen, dass sie uns hassen? Seit acht Jahren saßen sie in den Flüchtlingslagern von Gaza und sahen zu, wie wir vor ihren Augen das Land und die Dörfer, in denen sie und ihre Vorfahren früher gelebt hatten, in unsere Heimstatt verwandelt haben.“

So direkt auszusprechen und anzuerkennen, was die Palästinenser verloren haben, kann sich in Israel heute kein Politiker mehr leisten. Allerdings plädierte Dajan keineswegs für das Recht auf Rückkehr. Am Ende seiner Rede erklärte er, die Israelis müssten sich auf einen permanenten und bitteren Krieg vorbereiten, in dem die „Grenzsiedlungen“ eine bedeutsame Rolle spielen würden.

Anstelle des Grabens entstand mit der Zeit ein komplexes System von Befestigungsanlagen: eine 300 Meter breite Pufferzone (in der 2018 und 2019 mehr als 200 palästinensische Demonstrierende erschossen und Tausende verwundet wurden); eine ganze Staffel von Stacheldrahtzäunen; tief im Boden verankerte Betonmauern; ferngesteuerte Maschinengewehr-Stellungen; dazu komplexe Überwachungsanlagen: Wachtürme, Videokameras, Bewegungsmelder und Beobachtungsballone.

Jenseits dieser Zone gibt es eine Reihe von Militärbasen, einige von ihnen in der Nähe oder innerhalb der zivilen Siedlungen, die den sogenannten Gaza envelope bilden. In diesem 10 Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze zwischen Israel und Gaza liegen 58 Ortschaften, in denen insgesamt 70 000 Menschen leben.

Am 7. Oktober 2023 hat die Hamas alle Elemente dieses verzahnten Systems angegriffen. Eines der zentralen Ziele der Attacke war erneut der Kibbuz Nahal Oz, der am nächsten zum Gaza-Grenzzaun liegt.

Das Wort Nahal erinnert an die gleichnamige Militäreinheit, die nach 1948 solche Grenzsiedlungen gegründet hat. Diese waren ursprünglich als militärische Stützpunkte angelegt und verwandelten sich mit der Zeit in zivile Dörfer, in der Regel in Kibbuzim. Aber dieser Prozess wurde nie ganz abgeschlossen; einige der Bewohner haben immer noch die zusätzliche Aufgabe, die Ortschaften im Falle eines Angriffs zu verteidigen.

„Verlassenes Land“ war die Bezeichnung für die Tabula rasa, auf der die israelischen Raumplaner nach den Vertreibungen von 1948 die zionistischen Siedlungsprojekte entwarfen. Ihr Chefarchitekt war Arieh Sharon, der am Bauhaus in Dessau bei Walter Gropius und Hannes Meyer studiert hatte, bevor er 1931 nach Palästina ausgewandert ist. Dort baute er zunächst Wohnsiedlungen, Gemeinschaftswerkstätten, Krankenhäuser und Kinos, bevor ihn David Ben-Gurion nach der Staatsgründung zum Chef der israelischen Planungsbehörde machte.

Der Architekturhistoriker Zvi Efrat hat beschrieben, wie Sharons Masterplan, der auf den Grundprinzipien des Modernismus beruhte, zugleich mehrere andere Ziele verfolgte: Er sollte Wohnraum für die vielen Immigranten schaffen, die nach 1945 angekommen waren; er sollte Teile der jüdischen Bevölkerung vom Zentrum an die Peripherie verlagern; und er sollte die Grenzen sichern und Land in Beschlag nehmen, um palästinensischen Flüchtlingen die Rückkehr zu erschweren.1

In den sogenannten Grenzzonen, die rund 40 Prozent des israelischen Territoriums ausmachten, entstanden auf der Basis dieses Masterplans und nachfolgender Pläne zwischen 1950 und 1970 Entwicklungsstädte, die als regionale Zentren für die umliegenden landwirtschaftlichen Ortschaften gedacht waren.

Diese Entwicklungsstädte waren vor allem für die sephardischen Einwanderer aus dem Maghreb gedacht, die man zur Fabrikarbeit schickte, während die Pioniere der Arbeiterbewegung aus Osteuropa in die Kibbuzim2 und Genossenschaftsdörfer (Moschawim) zogen.

Die Entwicklungsstädte Sderot und Ofakim wie auch die Kibbuzim Re’im, Mefalsim, Kissufim und Erez wurden auf Land errichtet, das zu den palästinensischen Dörfern Deir Sunayd, Simsim, Nadschd, Hudsch, al-Huhrraqa, al-Zurai’y, Abu Sitta und Wuhaidat gehörte oder von den beiden größten Beduinenstämmen der Negev genutzt wurde. Beide Städte wie auch die Kibbuzim wurden am 7. Oktober zum Ziel der Hamas-Überfälle.

Vom Grenzgraben zum ersten Zaun

Als Israel im Zuge des Sechstagekriegs 1967 den Gazastreifen besetzte, ließ die Regierung strategische Siedlungen zwischen den wichtigsten palästinensischen Bevölkerungszentren errichten. Die größte war Gusch Katif in der Nähe von Rafah an der Grenze zu Ägypten.

Diese israelischen Kolonien belegten insgesamt 20 Prozent des Gazastreifens. In den frühen 1980er Jahren siedelten sich in und um Gaza auch viele Israelis an, die nach dem Friedensschluss mit Ägypten (März 1979) aus der seit 1973 israelisch besetzten Sinai-Halbinsel evakuiert worden waren.

Zwischen 1994 und 1996 wurde der erste Zaun um den Gazastreifen errichtet. Es war die Zeit der Oslo-Abkommen, in der die Hoffnungen auf einen Friedensprozess am größten waren. Seitdem ist das winzige, dicht besiedelte Territorium vom Rest der Welt abgeschnitten.

2005 hat Israel, in Reaktion auf den palästinensischen Widerstand, seine Kolonien in Gaza aufgegeben. Einige der evakuierten Anwohner ließen sich in Dörfern und Städten nahe der Grenze nieder, die nach dem israelischen Rückzug aus Gaza sogleich durch ein zweites, raffinierteres Zaunsystem verstärkt wurde.

Die fast vollständige Abschnürung des Gazastreifens begann 2007, nachdem die Hamas die Macht übernommen hatte. Die Lieferungen von lebensnotwendigen Gütern wie Nahrungs- und Arzneimitteln, Strom und Benzin wurden kon­trol­liert; die israelische Armee drückte die Versorgung der Bevölkerung auf ein Niveau, das ein normales Leben nahezu unmöglich machte.

Nach Angaben der UN hat diese Isolierung des Gazastreifens, zusammen mit wiederholten Bombardierungen, zwischen 2008 bis zum September 2023 insgesamt 3500 palästinensische Todesopfer gefordert. Das Resultat war eine humanitäre Katastrophe: öffentliche Einrichtungen und Krankenhäuser, die Wasserversorgung und das Abwassersystem nahezu außer Funktion, Stromversorgung nur noch etwa für den halben Tag, fast die Hälfte der Bevölkerung des Gaza­strei­fens arbeitslos, mehr als 80 Prozent auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Die israelische Regierung gewährt den Bewohnern und Bewohnerinnen der Städte und Dörfer entlang der Grenze zu Gaza großzügige Steuererleichterungen – etwa einen um 20 Prozent reduzierten Einkommensteuersatz. Viele dieser Ortschaften liegen entlang einer Straße, die in einem Abstand von wenigen Kilometern parallel zum Grenzzaun verläuft.

In den 17 Jahren, seit die Hamas in Gaza die Macht übernommen hat, beschossen ihre Kämpfer das Grenzgebiet wiederholt mit Raketen und Granaten, während israelische Bomben nur wenige Kilometer entfernt im Gaza­strei­fen einschlugen. Dennoch ist die Bevölkerungszahl im „Gaza envelope“ kontinuierlich gestiegen. Die hohen Haus- und Grundstückspreise im Großraum Tel Aviv und die attraktive Hügellandschaft – von Immobilienhändlern als „Toskana der nördlichen Negev“ angepriesen – führten zu einem Zustrom von Familien der städtischen Mittelklasse.

Die Entwicklung der Grenzregion ist ein zentraler Bestandteil der äußeren Einhegung des Gazastreifens, aber die Zugewanderten im nördlichen Negev haben mit den religiösen Siedlergruppen im Westjordanland wenig gemeinsam; etliche von ihnen engagieren sich in der israelischen Friedensbewegung.

Bei ihrem Anschlag vom 7. Oktober durchbrachen die Hamas-Angreifer das komplette System der netzartig verknüpften israelischen Grenzanlagen. Sie zerschossen die Kameras, die das Sperrgebiet überwachten. Sie zerstörten die Telekommunikationsmasten mit Handgranaten, während das israelische Radarsystem durch das Dauerfeuer von Raketen überlastet war. Sie überwanden den Grenzzaun oberirdisch, statt ihn – wie erwartet – durch ein Tunnelsystem zu unterqueren.

Die israelischen Wachposten haben sie entweder nicht gesehen, oder sie konnten nicht schnell genug weitergeben, was sie sahen. Die Angreifer sprengten oder schnitten ein paar Dutzend Löcher in den Zaun, die anschließend von Bulldozern zu Breschen ausgeweitet wurden. Einige überflogen die Grenze mit motorisierten Gleitschirmen. Mehr als 1000 Mann stürmten die israelischen Militärbasen.

Die israelischen Sol­da­t:in­nen konnten sich, blind und stumm, kein klares Bild von der Kampfzone verschaffen. Die Verstärkungen trafen erst Stunden später ein. Im Internet kursierten unfassbare Bilder: Palästinensische Teenager stoben auf Motorrädern oder Pferden durch die Breschen in ein Land, von dem sie womöglich von ihren Großeltern gehört hatten, das sich aber bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte.

Dabei hätte es bleiben können. Aber es kam anders: Nach dem Sturm auf die Militärbasen folgten der Angriff auf israelische Ortschaften – und die schrecklichen Massaker, bei denen die Angreifer von Haus zu Haus zogen, und die Ermordung von Teenagern auf einer Rave-Party. Familien wurden in ihren Häusern verbrannt oder erschossen, Zivilisten, darunter Kinder und ältere Menschen, wurden als Geiseln genommen. Die Hamas-Kämpfer töteten über 1300 Zivilisten und Soldaten; mehr als 200 Menschen wurden nach Gaza verschleppt. Keine Vorgeschichte von Gewalt und Unterdrückung macht solche Taten unvermeidlich oder rechtfertigt sie.

Seit Jahrzehnten hat Israel die Trennlinie zwischen den zivilen und den militärischen Funktionen der grenznahen Ansiedlungen verwischt; aber jetzt verschwamm diese Linie auf eine Art, die der israelischen Regierung nie in den Sinn gekommen war. Von den beiden Welten bekam die Zivilbevölkerung, die man zu einem Teil der lebendigen Mauer des „Gaza envelope“ gemacht hatte, nur das jeweils Schlechteste ab: Sie konnte sich nicht selbst verteidigen wie das Militär, man hat sie aber auch nicht geschützt wie Zivilisten.

Die Bilder von den verwüsteten Kibbuzim bescherten der israelischen Armee einen Freibrief der internationalen Gemeinschaft und beseitigten jegliche Hemmungen, die sie bei den früheren Konfliktrunden noch empfunden haben mochte. Die politische Führung rief nach Rache, und das in unmissverständlicher Vernichtungsterminologie. Man hörte Kommentare, wonach Gaza „vom Antlitz der Erde getilgt“ werden solle; dass es „Zeit für eine Nakba 2“ sei. Der Likud-Parlamentarier Revital Gottlieb twitterte: „Räumt Gebäude ab! Bombardiert alles ohne Unterschied! Schluss mit dieser Impotenz. Ihr habt die Fähigkeiten. Es gibt eine weltweite Legitimierung! Macht Gaza dem Erdboden gleich. Keine Gnade!“

Die zivilen Geiseln, die als Bewohner der Ortschaften im „Gaza envelope“ zuvor Teil einer lebendigen Mauer waren, sind nun zu menschlichen Schutzschilden und Verhandlungsobjekten für die Hamas geworden. Aber egal wie der Konflikt endet, egal ob die Hamas noch an der Macht sein wird oder nicht, die israelische Regierung wird nicht darum herumkommen, über den Austausch von Gefangenen zu verhandeln. Für die Hamas wird es zunächst um die rund 6000 Palästinenserinnen und Palästinenser gehen, die derzeit in israelischen Gefängnissen sitzen, viele von ihnen ohne Gerichtsverfahren. In den 75 Jahren seit Beginn des Konflikts war ein zentrales Ziel des palästinensischen Kampfs stets die Ergreifung israelischer Geiseln. Dadurch wollten die PLO und andere Gruppierungen von Israel die implizite Anerkennung der palästinensischen Eigenstaatlichkeit erzwingen.

In den 1960er Jahren vertrat Israel die Position, dass es so etwas wie ein palästinensisches Volk gar nicht gibt. Weshalb es logisch unmöglich war, die PLO als dessen legitime Vertretung anzuerkennen. Diese Verweigerungshaltung bedeutete zugleich, dass man die palästinensischen Kämpfer nicht als legitime, durch das Völkerrecht anerkannte Kombattanten betrachten musste, sodass ihnen auch nicht der Status von Kriegsgefangenen im Sinne der Genfer Konventionen zustand. Palästinensische Gefangene befanden sich also in einem ähnlichen rechtlichen Schwebezustand wie die „ungesetzlichen Kombattanten“, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in Guantánamo landeten.

Als die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) im Juli 1968 eine El-Al-Maschine nach Algerien entführte, begann damit eine Serie von Geiselnahmen, deren ausdrückliches Ziel die Freilassung palästinensischer Gefangener war. Die Algerien-Aktion führte zum Austausch von 22 israelischen Geiseln gegen 16 Palästinenser, obwohl die israelische Regierung damals jeglichen Deal dementierte.

Die Austauschquote von 16 gegen 22 hatte aber nicht lange Bestand. Im Zuge der israelischen Invasion im Libanon nahm die PFLP-GC von Ahmad Dschibril (einer Abspaltung der ursprünglichen PFLP) im September 1982 drei israelische Soldaten gefangen; drei Jahre später vereinbarten die Gruppe und Israel den Austausch der drei Soldaten gegen 1150 palästinensische Gefangene. 2011 folgte der Austausch des is­rae­li­schen Soldaten Gilad Schalit, den die Hamas 2006 gefangen genommen hatte, wobei die Austauschquote für die palästinensische Seite sogar noch günstiger war: 1027 Gefangene gegen einen einzigen Israeli.

Israel musste davon ausgehen, dass sie in Zukunft zu weiteren solcher Deals gezwungen sein würde. Daher begann man noch mehr Palästinenser, darunter auch Jugendliche, willkürlich zu verhaften, um sie gegen israelische Gefangene austauschen zu können. Zu demselben Zweck hielt man auch die Leichen palästinensischer Kämpfer zurück. All das verstärkte die Wahrnehmung, dass das Leben eines Israeli tausendmal mehr wert sei als ein palästinensisches Leben.

Staaten gehen mit Geiselnahmen von Soldaten und Zivilisten unterschiedlich um. Die europäischen Länder und Japan haben Gefangenenaustausche oder Lösegeldvereinbarungen normalerweise in Geheimverhandlungen geregelt. Die USA und Großbritannien behaupten öffentlich, sie würden mit Entführern weder verhandeln noch auf deren Forderungen eingehen. Zwar halten sie sich nicht immer an dieses Prinzip, aber wenn eine Rettungsoperation unmöglich ­erscheint, ziehen sie Schweigen und Nichtstun vor.

Politik mit Geiseln und Gefangenen

Diese Taktik halten sie für das „kleinere Übel“, auch im Hinblick auf das, was militärische Spieltheoretiker „Wiederholungsspiel“ nennen. Demnach ist jede Aktion anhand ihren möglichen langfristigen Folgen zu bewerten. Dabei gilt es, die Vorteile eines vollzogenen Gefangenenaustauschs gegen die Möglichkeit abzuwägen, dass als Folge des Austauschs der Gegner künftig noch mehr Soldaten oder Zivilisten gefangen nimmt.

Wenn Israelis in Gefangenschaft geraten, gehen ihre Freunde und Unterstützer auf die Straße, um sich für die Freilassung einzusetzen. In den meisten Fällen willigt die Regierung ein und es kommt zu einem Deal. Allerdings rät die israelische Armee der Regierung normalerweise von einem Gefangenenaustausch ab. Die Militärs verweisen auf das Sicherheitsrisiko, das freigelassene Gefangene darstellen – vor allem wenn es sich um höhere Ränge handelt –, und auf die Wahrscheinlichkeit, dass die palästinensische Seite zu weiteren Geiselnahmen ermutigt wird. So kam etwa Jahia Sinwar, der heutige Chef der Hamas im Gazastreifen, 2011 im Zuge des Schalit-Deals wieder frei.

Für Gusch Emunim, die Bewegung der religiösen Siedler, sind die Gefangenenaustausche nichts als ein Ausdruck von Schwäche und Anfälligkeit der „säkular-liberalen“ israelischen Gesellschaft; deshalb machte sie mit einer riesigen Kampagne dagegen mobil.

Im Gefolge des Dschibril-Deals erließ die Armee 1986 die umstrittene „Hannibal-Direktive“. Diese geheime Anordnung sollte für den Fall gelten, dass ein Soldat von irregulären Kämpfern gefangen genommen wird. Von israelischen Soldaten wurde die Direktive so verstanden, dass sie das Töten eines Kameraden erlaubte, um dessen Gefangennahme zuvorzukommen.3 Die militärische Führung hat diese Interpretation zurückgewiesen, doch 1999 erklärte der damalige Generalstabschef Scha’ul Mofaz: „So schmerzlich es ist, dies auszusprechen, aber ein entführter Soldat ist, im Gegensatz zu einem getöteten Soldaten, ein nationales Problem.“

Das israelische Militär behauptet, dass die Bezeichnung „Hannibal-Direktive“ auf die Zufallsauswahl eines Computerprogramms zurückgeht. Der karthagische Heerführer Hannibal Barkas beging im Jahr 181 v. Chr. Selbstmord, um nicht in die Hände der Römer zu fallen. Die hatten 35 Jahre zuvor ähnlich unnachgiebig gehandelt, als Hannibal für römische Soldaten, die die Karthager in der Schlacht von Cannae gefangen genommen hatten, ein Lösegeld erpressen wollte. Damals lehnte der Senat in Rom den Deal ab. Die Gefangenen wurden exekutiert.

Am 1. August 2014 kam die „Hannibal-Direktive“ zur Anwendung. Während der Offensive im Gazastreifen (Codename „Operation Protective Edge“) hatten palästinensische Kämpfer einen israelischen Soldaten ergriffen. Daraufhin bombardierte die is­rae­li­sche Luftwaffe das Tunnelsystem, in dem der Soldat gefangen gehalten wurde. Mit ihm wurden 135 palästinensische Zivilisten getötet, darunter ganze Familien. Danach hat die israelische Armee die Direktive wieder außer Kraft gesetzt. Doch mit den jüngsten Bombenangriffen auf den Gaza­streifen, von denen ein großer Teil auf das Tunnelsystem abzielt, in dem sich die Hamas-Führung und die Geiseln befinden, kehrt die israelische Regierung offenbar zu dem Prinzip zurück, wonach tote Gefangene besser sind als ein Deal mit dem Feind.

Israels Finanzminister Bezalel Smotrich hat „gnadenlose“ Schläge gegen die Hamas gefordert, „ohne große Rücksicht auf die Geiselfrage zu nehmen“. Und der israelische UN-Botschafter Gilad Erdan versicherte, die Geiseln „halten uns nicht davon ab, das zu tun, was getan werden muss“. Was solche Stimmen nicht bedenken: In diesem Krieg ist das Schicksal der Zivilbevölkerung von Gaza und das der gefangenen Israelis genauso eng verknüpft wie das Schicksal beider Völker.

1 Siehe Zvi Efrat, „The Object of Zionism: The Architecture of Israel“, Leipzig (Spector) 2019.

2 Zur Geschichte der Kibbuzim siehe Amnon Kapeliuk, „Abschied von einem Mythos“, LMd, August 1995.

3 Siehe auch: Uri Avnery, „Hannibals Prozedur“, AG Friedensforschung, 25. Mai 2003.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Eyal Weizman ist Architekt und Direktor am Centre for Research Archi­tecture an der Goldsmiths University in London. 2011 gründete er die Rechercheagentur Forensic Architecture (FA). Auf Deutsch erschien von ihm: „Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung“, Hamburg (Edition Nautilus) 2009.

© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.11.2023, von Eyal Weizman