Beute des Militärs
In Pakistan hat die Armee freien Zugriff auf alles, vom Wasser bis zur Zentralbank
von Laurent Gayer
Es dämmerte schon, als die Protestierenden, darunter auffällig viele Frauen, am 9. Mai 2023 in kleinen Gruppen zur Shahrah-e-Faisal Road zogen. Der 18 Kilometer lange Boulevard ist die Hauptverkehrsader der pakistanischen Finanz- und Wirtschaftsmetropole Karatschi. Manche hatten sich mit Bambusstangen gegen die Ordnungskräfte bewaffnet, andere waren mit Kind und Kegel erschienen.
Wenige Stunden zuvor war ihr politisches Idol, Ex-Premier Imran Khan, in Islamabad wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet worden. Rasch schlugen die spontanen Proteste in den Großstädten in Gewalt um.
In Karatschi sagten Khans Unterstützer, das Ganze sei ein Komplott. Und dass Khan, der vom Parlament schon im April 2022 per Misstrauensvotum gestürzt worden war, der einzige Politiker sei, der das Land wieder nach vorn bringen und von der Korruption befreien könne. „Die wahren Terroristen verstecken sich hinter ihrer Uniform!“, riefen die Anhänger der Khan-Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit, PTI) in einem immer dichter werdenden Nebel aus Tränengas. Besonders Entschlossene attackierten Armeeposten, wurden aber von der Polizei aufgehalten.
In der Garnisonsstadt Rawalpindi stürmten PTI-Anhänger das Hauptquartier der Armee, und in Lahore verwüsteten sie das „Jinnah House“, den offiziellen Wohnsitz des Armeekommandanten, und steckten es in Brand. Die Bilder von den Ausschreitungen, bei denen mindestens neun Menschen starben und mehrere hundert verletzt wurden, durften auf Geheiß der Zensurbehörden nicht im Fernsehen gezeigt werden. Sie kursierten aber in den sozialen Netzwerken, bis der Zugang zu den Accounts gesperrt wurde.
Dass die Armee so direkt angegriffen wird, ist in der bewegten Geschichte Pakistans ein Novum. In den folgenden Tagen ging die Angst vor einer weiteren Eskalation der Gewalt um. Da Imran Khan noch immer viele Unterstützer in Militärkreisen haben soll, gab es schon bald Gerüchte von Meutereien. Sogar von einem drohenden Bürgerkrieg war die Rede. Pakistan, die einzige muslimische Atommacht, schien am Abgrund.
Die Mai-Krise brachte die mächtigste Institution des Landes ins Wanken, aber am Ende war die autoritäre Herrschaft des Militärs wiederhergestellt. In den Folgemonaten gab es vermehrt Polizeirazzien gegen PTI-Führer. Wer sich weigerte, Khan abzuschwören, wurde inhaftiert. Nachdem der Ex-Premier am 12. Mai vorübergehend auf Kaution freigekommen war, wurde er am 5. August erneut verhaftet und für schuldig befunden, sich durch den Verkauf von Staatsgeschenken persönlich bereichert zu haben. Der nach wie vor beliebteste Politiker Pakistans wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und bekam fünf Jahre Politikverbot.
Anfang August, kurz vor dem Ablauf der fünfjährigen Legislaturperiode des Parlaments, bat Premierminister Shehbaz Sharif, der seit Khans Sturz an der Macht war, Präsident Arif Alvi um die Auflösung der Nationalversammlung und die Installierung einer technokratischen Übergangsregierung, was am 17. August auch geschah. Durch diesen Trick konnte der Wahltermin um 30 Tage auf November verschoben werden, was Sharif mehr Zeit für seinen Wahlkampf verschaffte.
Hinzu kam dann aber noch, dass nach der letzten Volkszählung im März – in Pakistan leben inzwischen mehr als 240 Millionen Menschen – hunderte Wahlkreise neu zugeschnitten werden mussten. Auch das nahm willkommene Zeit in Anspruch. Nun sollen die Wahlen Ende Januar 2024 stattfinden.
Derweil verhandelte die Armee mit den Gegnern von Khans PTI über einen Ausweg aus der Krise. Dabei dürfte auch die Rückkehr des 73-jährigen Nawaz Sharif, dem älteren Bruder von Shehbaz, eine Rolle spielen. Der Gründer der Pakistanischen Muslimliga (PML-N), der stets ein angespanntes Verhältnis zur Armee hatte, ist am 21. Oktober nach vier Jahren im Londoner Exil zurückgekehrt – und verkündete vor tausenden Anhängern in Lahore, dass er als Spitzenkandidat ins Rennen gehen will.1 Das Politikverbot gegen ihn – seine korrupten Geschäfte wurden 2017 durch die Panama Papers enthüllt und brachten ihn kurzzeitig ins Gefängnis – hatte sein Bruder als Premier aufgehoben.
Die Neuordnung der politischen Landschaft in Pakistan hat etwas von einem Déjà-vu. Seit Zulfikar Ali Bhutto, Gründer der Pakistanischen Volkspartei (PPP), 1977 von General Muhammad Zia-ul-Haq entmachtet wurde, haben schon einige starke politische Persönlichkeiten versucht, sich gegen die Armee durchzusetzen – von Zulfikars Tochter Benazir Bhutto (1988–1990, 1993–1996) über Nawaz Sharif (1990–1993, 1997–1999, 2013–2017) bis zuletzt Imran Khan (2018–2022).
Überzeugt, dass die Bevölkerung hinter ihnen stand, wagten sie die Kraftprobe – nicht nur mit der Armee und dem einflussreichen Militärgeheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence), sondern auch mit der Richterschaft. Ein ums andere Mal zogen sie den Kürzeren, endeten hinter Gittern oder im Exil und bekamen Politikverbot.
Der Konflikt entzündete sich jedes Mal an der Besetzung der Chefposten in Armee und Geheimdienst. Khans Sturz wurde beispielsweise durch seine wiederholten Versuche beschleunigt, ihm nahestehende Offiziere an der Spitze des ISI und später auch der Armee zu installieren. Danach – und auch das gehört zum gewohnten Ablauf – schmiedete Pakistans „Deep State“ neue Allianzen mit loyalen Akteuren. Für die Pakistanische Muslimliga (PML-N), die 1993 von General Zias Schützlingen, vorneweg Nawaz Sharif, gegründet wurde, sind solche Arrangements mit den Militärs normal – wobei auch deren Parteiführer den Zorn der Generäle zu spüren bekamen, wenn sie sich zu Alleingängen hinreißen ließen.
Auf den Opportunismus der tonangebenden Parteien, der dem mächtigen Militär in die Hände spielt, war auch in der Mai-Krise wieder Verlass. Statt den Moment der Schwäche zu nutzen, gab die von der Muslimliga angeführte Regierungskoalition der Armee bei ihrem Rachefeldzug volle Rückendeckung. So billigte Premier Sharif, dass sich rund 100 an den Ausschreitungen beteiligte Zivilisten vor Militärtribunalen verantworten mussten.
Staatschefs haben keine Chance gegen die Generäle
Noch in seinen letzten Regierungstagen ließ Sharif eine Reihe von Gesetzen verabschieden, die die Befugnisse der Geheimdienste stärken und alles, was die Strukturen oder auch nur das Ansehen der Armee beeinträchtigen könnte, als Straftatbestand einstufen.
Nach den aktuellen Änderungen am „Pakistan Army Act“ von 1952, die der Senat am 27. Juli absegnete, kann die Verbreitung von Informationen, die den Interessen Pakistans und seiner Streitkräfte schaden könnten, mit fünf Jahren Haft geahndet werden. Mit dieser Maßnahme sollen vor allem potenzielle Whistleblower eingeschüchtert werden, die Missstände wie die Korruption in der Armee aufdecken könnten.
Das „hybride Regime“, in dem die Armee bislang als Strippenzieher hinter den Kulissen wirkte, gehört damit der Vergangenheit an. Generalstabschef Asim Munir macht unmissverständlich klar, wer Herr im Haus ist, in politischen wie in wirtschaftlichen Belangen. So greift er in die Geldpolitik ein, kommandiert den Kampf gegen Spekulation, Schmuggel und Stromdiebstahl, umwirbt Unternehmer und verspricht, 100 Milliarden Dollar an ausländischen Direktinvestitionen einzuwerben – vor allem aus den Golfstaaten.
Wirtschafts- und finanzpolitisch steht das Land mittlerweile komplett unter militärischer Kuratel: Alle wichtigen Entscheidungen müssen durch eine von der Armee kontrollierte Instanz namens „Special Investment Facilitation Council“ bestätigt werden. Dieses Steuerungsorgan übernimmt quasi die Funktion von Bundesministerien und Provinzbehörden und stellt damit den Dezentralisierungsprozess von 2010 auf den Kopf. Den Raubtierpraktiken der Militärs öffnen sich dadurch Tür und Tor; sie haben ungehinderten Zugriff auf Ressourcen wie Wasser und andere Rohstoffe, auf die Energiewirtschaft und KI.
Außerdem dirigiert die Armee ein stetig wachsendes Finanzimperium. Angeblich um verdiente Offiziere zu belohnen, hat sie sich Agrarflächen und städtische Grundstücke unter den Nagel gerissen und erzielt durch die Bewirtschaftung oder durch das Management von luxuriösen Immobilienprojekten erhebliche Einnahmen. Stiftungen wie die Fauji Foundation und der Army Welfare Trust, die offiziell dazu da sind, pensionierte Soldaten und deren Familien zu unterstützen, zählen inzwischen zu den größten Industriekonglomeraten des Landes und kontrollieren Vermögen von mehreren Milliarden Dollar.2
Der Armee geht es aber nicht nur um die Absicherung ihrer eigenen Interessen. Sie versucht auch strategisch wichtige Industriezweige zu schützen – allen voran die Textilindustrie, die mehr als 60 Prozent der Devisen erwirtschaftet.3 Auch die finanzielle Abhängigkeit von externen Kapitalgebern will sie taktisch steuern und deren Ansprüche um jeden Preis befriedigen. Seit den späten 1950er Jahren haben die Militärs sich zu wahren Verhandlungskünstlern in diversen Gegengeschäften entwickelt.
Kürzlich enthüllte The Intercept, gestützt auf pakistanische und US-amerikanische Quellen, dass die USA im Juni 2023 dafür gesorgt hätten, dass Pakistan im Gegenzug für den Verkauf militärischer Ausrüstung an die Ukraine einen frischen Kredit vom Internationalen Währungsfonds (IWF) erhält.4 Pakistan, das im Ukrainekrieg offiziell neutral ist, hat das entschieden dementiert; doch es würde zur Strategie des Militärregimes passen, außenpolitische Konflikte – wie den Konflikt mit Afghanistan5 – für seine Herrschaftssicherung nach innen zu nutzen.
Unbestritten ist, dass die Finanzspritze von umgerechnet 2,8 Milliarden Euro den Militärs eine Atempause verschafft hat, die sie dazu nutzen, die PTI zurückzudrängen und ihre Macht auf brutalste Weise zurückzuerobern – während die USA und Europa schweigend wegsehen.
Der neue finanzielle Rettungsplan spült frisches Geld in die Staatskasse, das Land leidet unter einer Inflation von 30 Prozent (September 2023) und abflauender Konjunktur. Innerhalb eines Jahres fiel das Bruttoinlandsprodukt von 6,1 auf 0,3 Prozent und der Wert der Rupie um 30 Prozent, wodurch die Importkosten (vor allem für Erdöl) enorm gestiegen sind. In der Industrie, aber auch im Dienstleistungssektor kam es zu Massenentlassungen, besonders in der Textilbranche.
Der extreme Anstieg der Gas- und Strompreise könnte das Fass vollends zum Überlaufen bringen und Gewerbetreibende wie Verbraucher:innen auf die Barrikaden treiben. Die Erhöhung der Energiepreise war eine der mit dem IWF ausgehandelten Bedingungen für den neuen Kredit: Die Regierung von Shehbaz Sharif verpflichtete sich, den Gaspreis um 50 Prozent anzuheben. Der Strompreis ist bereits binnen eines Jahres um 76 Prozent gestiegen, wobei der Strom manchmal bis zu 16 Stunden am Tag ausfällt und viele sich mit Notstromaggregaten behelfen.
Seit Anfang September macht sich der Volkszorn zuweilen auch gewaltsam Luft. Im teilautonomen Gebiet Asad Kaschmir, inzwischen auch in den Metropolen Lahore, Rawalpindi, Karatschi, Quetta und Peschawar wird die Zahlung von Stromrechnungen verweigert, Unternehmer und Privatleute verbrennen öffentlich ihre Rechnungen und blockieren Hauptverkehrsadern.
Im ersten Halbjahr 2023 haben mehr als 800 000 Menschen Pakistan verlassen. Fast 300 pakistanische Auswanderer ertranken bei dem schweren Bootsunglück im Mittelmeer am 14. Juni 2023 vor der griechischen Küste.6
1 Siehe Sven Hansen, „Nawaz Sharif hat noch nicht genug“, taz, 23. Oktober 2023.
2 Ayesha Siddiqa, „Military Inc. – Inside Pakistan’s Military Economy“, London (Pluto Press) 2016.
3 Laurent Gayer und Fawad Hasan, „Unsere Jeans aus Karatschi“, LMd, Dezember 2022.
5 Siehe unter anderem Jean-Luc Racine, „Pokern um Afghanistan“, LMd, Dezember 2021.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Laurent Gayer ist Forschungsdirektor am Centre de recherches internationales (Ceri) der Sciences Po sowie Autor von „Le Capitalisme à main armée. Défendre l’ordre patronal dans un atelier du monde“, Paris (CNRS Éditions) 2023.
Massenausweisung von Afghanen
Zehntausende Menschen sind in den letzten Tagen von Pakistan aus in ihre offizielle afghanische Heimat zurückgekehrt, auch wenn viele dort noch nie gelebt haben. Pakistans Regierung ordnete zum 1. November die Ausweisung von 1,7 Millionen afghanischen Flüchtlingen ohne Aufenthaltspapiere an. Wer nicht vorher „freiwillig“ ausreiste, wird jetzt festgenommen und abgeschoben, manchmal trotz gültiger Papiere.
4,4 Millionen Afghan:innen leben insgesamt in Pakistan, manche seit Jahrzehnten. Sie flohen in den letzten 40 Jahren vor sowjetischen Invasoren, rivalisierenden Mudschaheddin, Taliban oder Nato-Truppen. 600 000 weitere kamen nach der erneuten Machtübernahme der Taliban im August 2021. Islamabad begründet seine international kritisierten Maßnahmen damit, dass an 14 der 24 von pakistanischen Taliban (TTP) begangenen Selbstmordanschläge „illegale“ afghanische Flüchtlinge beteiligt gewesen seien. Mit den Ausweisungen sollen die Taliban in Afghanistan unter Druck gesetzt werden, dort gegen die TTP vorzugehen.
Bis 31. Oktober sind 200 000 Afghanen „freiwillig“ ausgereist, seitdem folgen täglich tausende. In Afghanistan, wo zwei Drittel der Bevölkerung humanitäre Hilfe benötigen, stehen die Rückkehrer vor dem Nichts. Sven Hansen