09.03.2023

Tschüss Meta, hallo Mastodon!

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Tschüss Meta, hallo Mastodon!

von Felix Stalder

Janaa Caspary, reflective exchange, 2020, 154 × 100 × 75 cm
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Das Wachstum der großen So­cial-Media-Plattformen verlief so rasant, dass sie heute kaum mehr aus unserem Alltag wegzudenken sind. Dabei ist Facebook mit 2,9 Milliarden Nut­ze­r:in­nen noch keine 20 Jahre alt. Twitter, das von 330 Millionen Menschen genutzt wird, entstand 2006, und das von 1,2 Milliarden Menschen genutzte Instagram, das heute zum Facebook-Mutterkonzern Meta gehört, gar erst 2010. Ihr spektakulärer Aufstieg lässt jedoch leicht vergessen, dass die Praxis der digitalen Vergemeinschaftung viel weiter zurückreicht. Der Wunsch, mit gleichgesinnten Personen in Kontakt zu sein, egal ob sie im selben Stadtviertel oder auf einem anderen Kontinent leben, war von Anfang an einer der Motoren bei der zivilgesellschaftlichen Entwicklung des Internets.

Bereits vor der Entstehung des World Wide Web in den frühen 1990er Jahren gab es mit Mailinglisten, Usenet Groups (thematische Diskussionsforen) und Bulletin-Board-Systemen (lokale Rechner, in die man sich direkt per Modem einwählen konnte) eine Vielzahl von Plattformen, die es technisch versierten Nut­ze­r:in­nen ermöglichten, sich auszutauschen und zu vernetzen. Die kommerziellen Dienstleister aus dem Silicon Valley haben diese Praxis lediglich zum gesellschaftlichen Mainstream gemacht, indem sie userfreundliche Angebote schufen, die für die Ka­pi­tal­ge­be­r:in­nen enorm profitabel waren.

Doch jetzt ist das Geschäftsmodell ins Stocken geraten. Face­books Mutterkonzern Meta hat in den letzten anderthalb Jahren mehr als 50 Prozent seines Börsenwerts eingebüßt, denn die Nut­zerzahlen, wenn auch noch immer sehr hoch, gehen zurück. Werbeerlöse, die 2022 noch 97,5 Prozent der Einnahmen ausmachten, sinken. Die neue Idee, die frischen Schub verleihen soll, die Virtual-Reality-Plattform Metaverse, verschlingt in der Entwicklung Unsummen, findet in der Anwendung aber kaum Nut­ze­r:in­nen.

Die Gründe für die Krise sind vielfältig und verstärken sich gegenseitig. Nach einer Reihe von Skandalen haben die Plattformen ihr freundliches Image eingebüßt und werden zunehmend kritisch betrachtet. 2018 enthüllte der Whistleblower Christopher Wylie, wie das Datenanalyse-Unternehmen Cambridge Analytica auf Basis von Social-Media-Daten versuchte, Wahlen in demokratischen Staaten zu manipulieren. Donald Trumps Wahlerfolg und sprunghafter Politikstil, bei dem Wahrheit und Lüge bewusst vermischt werden, sind eng mit der Funktionsweise von Twitter verbunden.

Die undurchschaubaren algorithmischen Filter führen dazu, dass von unterschiedlichsten Seiten immer wieder laut „Zensur“ geschrien wird – ein Vorwurf, der sich weder überzeugend beweisen noch widerlegen lässt. In einem solchen Klima gedeihen Verschwörungstheorien. In den letzten Jahren sind ganze Industrien zur Überwachung und Desinformation in den sozialen Medien entstanden; und die chinesische Regierung stellt laufend unter Beweis, dass von der Utopie des Internets als Mittel der Informationsfreiheit kaum etwas übrig ist.

Die negative Wahrnehmung wird verstärkt durch den stetig wachsenden Druck, möglichst viele Aspekte zu monetarisieren und immer mehr Werbung zu schalten, um trotz der abflachenden Wachstumskurve Profite zu generieren. Das wirkt sich wiederum negativ auf die Benutzerfreundlichkeit aus. Es macht immer weniger Spaß, durch die Time­line zu scrollen, wenn man mit Werbung oder „gesponserten“ Inhalten überhäuft wird; damit wurde uns auch schon das Privatfernsehen unerträglich gemacht.

Rauer geworden ist auch das Umfeld, in dem die Firmen agieren, und zwar deutlich. Nicht nur werden die Werbeetats gegenüber den Zeiten der Niedrigzinspolitik gekürzt, auch der Zugriff auf die Kundendaten wird zunehmend eingeschränkt. Allein der verbesserte Schutz der Privatsphäre auf Apples iPhone durch ATT (App-Tracking-Transparenz) verringert die Einnahmen von Facebook um geschätzte 10 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Erschwerend für das datenhungrige Geschäftsmodell kommt hinzu, dass in der EU langsam auch die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) greift. Im Januar 2023 wurde Meta auf deren Grundlage zu einer Strafe von 390 Millionen Euro verurteilt, im November 2022 musste der Konzern bereits 265 Millionen Euro Bußgeld zahlen.

Und neue Ideen? Fehlen komplett. Mark Zuckerberg hat sich mit seiner Version von Virtual Reality in eine Sackgasse manövriert. Ihn dort herauszuholen wird schwierig, denn er verfügt über die Mehrheit der Stimmrechte im Konzern. Dieselben strukturellen Schwierigkeiten zeigen sich bei Twitter, nur noch extremer. Die Werbeeinnahmen sind dramatisch eingebrochen, Nut­ze­r:in­nen verlassen die Plattform oder schränken ihre Aktivitäten ein.

Die im Zuge der Übernahme durch Elon Musk angehäuften Schulden haben den finanziellen Druck enorm gesteigert, und der neue Alleineigentümer agiert erratisch, egomanisch, offen für rechtsextreme Positionen, aber ohne erkennbaren Plan. Dass nun bei Twitter wie bei Facebook versucht wird, durch Abo-Modelle neue Einnahmequellen zu erschließen, ist nur ein weiterer Ausdruck der Ideenlosigkeit. Denn statt neue Funktionen anzubieten, werden bestehende Kernfunktionen wie Identitätsverifizierung oder Zwei-Faktor-Authentifizierung jetzt exklusiv an ein Abo gebunden. Ist das noch Verzweiflung oder schon Erpressung?

Was die Nut­ze­r:in­nen dennoch auf diesen Plattformen hält, sind die großen Kosten, die mit einem Wechsel verbunden wären. Wir alle, die diese Plattformen seit Jahren nutzen, haben viel Zeit und Arbeit in den Aufbau persönlicher Netzwerke gesteckt, die in unserem privaten und beruflichen Alltag eine große Rolle spielen. Fehlende Interoperabilität sorgt dafür, dass diese Kontakte bei einem Wechsel verloren gehen und wieder neu aufgebaut werden müssen. Das ist mit hohem Aufwand verbunden und gelingt auch nur dann, wenn die anderen ebenfalls die Plattform wechseln.

Dieses Problem haben Jugendliche, die gerade erst anfangen, ihr Netzwerk aufzubauen, nicht. Und deshalb gehen viele nicht zu den bereits etablierten Plattformen, sondern zum neuen Rivalen Tiktok, das in etwas mehr als vier Jahren bereits eine Milliarde Nut­ze­r:in­nen gewonnen hat. Tiktok ist die für den Auslandsmarkt konzipierte Kopie des chinesischen Dienstes Douyin. Beide Plattformen funktionieren technisch sehr ähnlich, sind aber vollständig von einander getrennt und inkompatibel. So kann die chinesische Version (Douyin) stark zensiert werden, ohne dass die internationale Version (Tiktok) darunter leidet.

Während Tiktok sich mit seiner Fokussierung auf Kurzvideos visuell deutlich von Face­book und Twitter abhebt, hat es strukturell dieselben Probleme: Welche Inhalte angezeigt werden, bestimmt ein total intransparenter Algorithmus, der darauf optimiert ist, Nut­ze­r:in­nen möglichst lange am Bildschirm zu halten. Es werden riesige Datenmengen gesammelt. Für was sie verwendet werden, ist unklar. Geld verdient wird vor allem mit Werbung.

Noch ist Tiktok in einer frühen Phase, in der Expansion vor Monetarisierung geht, aber die wird nicht endlos dauern. Mit anderen Worten, Tiktok löst keines der Probleme, die wir von den anderen kommerziellen Plattformen kennen, sondern fügt möglicherweise weitere hinzu. Denn der Konzern ist, wie alle großen IT-Unternehmen in China, eng mit dem staatlichen Polit- und Sicherheitsapparat verbunden.

In den USA wird deshalb seit Jahren intensiv über ein allgemeines Verbot nachgedacht. Angestellte sämtlicher US-Bundesbehörden und auch die vieler Bundesstaaten dürfen bereits jetzt die App auf ihren Dienstgeräten nicht mehr installieren (siehe den Artikel auf Seite 8). Als Hauptgrund für ein mögliches vollständiges Verbot wird die „nationale Sicherheit“ ins Feld geführt.

Das deutet darauf hin, dass es hier nicht primär um den Schutz der Privatsphäre geht, sondern um die zunehmende Rivalität zwischen den USA und China, in der der Technologiesektor eine zentrale Rolle spielt. Thierry Breton, für den Binnenmarkt zuständiger EU-Kommissar, brachte vor kurzem die Möglichkeit eines Tiktok-Verbots für Europa ins Spiel. Das Timing ist kein Zufall.

Ganz anders sieht es bei Mastodon aus, einem alternativen sozialen Netzwerk, das mit 10 Millionen Nut­ze­r:in­nen noch verschwindend klein ist, aber aufgrund seiner radikal anderen Ausrichtung viel Aufmerksamkeit bekommt. Mastodon wird seit 2016 von Eugen Rochko, ursprünglich in Jena und nun in Berlin, als Open-­Source-Projekt entwickelt. Dahinter steht eine kleine, nicht gewinnorientierte Firma und eine große, globale Community von Ent­wick­le­r:in­nen und Be­trei­be­r:in­nen. Mastodons Oberfläche ähnelt der von Twitter, strukturell unterscheidet es sich jedoch in dreifacher Hinsicht von den übrigen Plattformen.

Erstens ist sie dezentral organisiert, besteht also aus unabhängigen, aber kooperierenden Be­trei­be­r:in­nen von „Instanzen“. Wie bei E-Mail können Nut­ze­r:in­nen zwischen verschiedenen Anbietern wählen, gegebenenfalls vom einen zum anderen wechseln, aber vor allem quer über alle Anbieter kommunizieren. Jeder Anbieter kann eigene Nutzungsbedingungen festlegen. So können sich in den verschiedenen Instanzen unterschiedliche kulturelle Praktiken etablieren, die aber dennoch miteinander kompatibel sind.

Zweitens ist die Software quell­offen, das heißt, unterschiedlichste Gruppen können sie ohne Kosten und Einschränkungen nutzen und auch technisch ihren Anforderungen anpassen. Drittens ist Mastodon prin­zi­piell nicht kommerziell angelegt, es ist also nicht darauf optimiert, die Zeit, die Nut­ze­r:in­nen auf der Plattform verbringen, immer weiter zu steigern, sei es durch virale Inhalte oder Designentscheidungen, die den Suchtfaktor erhöhen – etwa ständige neue Benachrichtungen („10 neue Nachrichten!“) oder die Quantifizierung von „Likes“.

Mit diesen technischen Strukturen ist noch keines der vielen Probleme, die wir von den großen sozialen Netzwerken kennen, gelöst. Aber die Voraussetzungen sind wesentlich besser, dass sie nicht komplett außer Kontrolle geraten. Zum einen, weil die Instanzen nicht mit rein kommerziellen Zielen betrieben werden; zum anderen sind die Werkzeuge zur Moderation subtiler und können ebenfalls dezentral eingesetzt werden. Die Möglichkeit, problem- und verlustlos den Anbieter zu wechseln, verschiebt zudem die Macht zumindest teilweise zurück an die Nutzer:innen.

Das Bedürfnis nach horizontaler Kommunikation, das seit den Anfängen des Internets die Entwicklung wesentlich beeinflusst hat, ist ungebrochen. In die Krise geraten ist deshalb auch nur ein ganz bestimmtes – wenn auch in der letzten Dekade extrem einflussreiches – Modell, wie dieses Bedürfnis organisiert wird. Mit Mastodon besteht nun zum ersten Mal seit Langem wieder die Chance auf eine nicht rein kommerzielle Infrastruktur für Alltagskommunikation. Und das ist im Hinblick auf demokratische Kommunikation sehr zu begrüßen.

Ob Mastodon aus seiner Nische hinauswachsen kann und zu einer echten Alternative werden wird, ist noch offen. Das hängt davon ab, ob die Software selbst userfreundlicher wird, etwa in Bezug auf ein konsistentes Interface oder besser designte mobile Apps. Aber auch staatliche Akteure sind hier gefragt. Die Europäische Union muss ihre Regulierungen, besonders die Datenschutzgrundverordnung oder den Digital Services Act, so auslegen oder gegebenenfalls anpassen, dass sie nichtkommerzielle Anbieter fördert.

Statt einfach weiter darauf zu setzen, dass der Markt es irgendwie regeln werde, müssen öffentliche Mittel in die Entwicklung der Software und den Betrieb von Instanzen gesteckt werden. Wenn etwa Universitäten ihren Studierenden und Mit­ar­bei­te­r:in­nen nicht nur E-Mail-Adressen, sondern auch Mastodon-Accounts zur Verfügung stellen würden, würde das enorm in die Breite wirken. Gerade für Europa, das Gefahr läuft, technologisch abgehängt zu werden, bietet sich hier eine seltene Chance für eine eigenständige Entwicklung, die weltweit ausstrahlen kann.

Felix Stalder ist Professor für Digitale Kultur an der Zürcher Hochschule der Künste.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.03.2023, von Felix Stalder