08.07.2021

Die Räuber von Cerveteri

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Die Räuber von Cerveteri

Italiens antike Kunstwerke werden systematisch geplündert

von Pascal Corazza

Die begehrte Lysippos-Statue picture alliance/ropi
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Seit Jahrhunderten werden mit illegalem Kunsthandel horrende Summen verdient. „Im Bereich der internationalen Kriminalität steht der illegale Handel mit Kulturgütern nach dem Drogen- und dem Waffenhandel an dritter Stelle“, schrieb die Unesco im Oktober 2020.1 Die seit sechs Jahrzehnten andauernde Plünderung des Kulturerbes Italiens mit seinen reichen Schätzen aus etruskischer, hellenischer und römischer Zeit macht deutlich, wie viel Geld in diesem Geschäft steckt. Und sie zeigt, wie schwierig es ist, den Schmugglern das Handwerk zu legen.

„Bei uns stiehlt man besser ein Kunstwerk als eine Jeans“, erzählte mir der Staatsanwalt Paolo Giorgio Ferri kurz vor seinem Tod im Juni 2020. Eine auf den Schutz von Kunstwerken spezialisierte Carabinieri-Einheit wurde in Italien zwar schon 1969 geschaffen, einen Pool aus spezialisierten Er­mitt­le­r:in­nen gibt es jedoch erst seit 1995. Ferri gehörte von Anfang an dazu.

Als ein Hauptmann der Guardia di Finanza (Zoll- und Finanzpolizei) 1994 auf der Autobahn tödlich verunglückte, entdeckte die Carabinieri-Einheit in seinem Auto Fotografien von Kunstgegenständen. In seiner Wohnung fand sie ein handgeschriebenes Dokument: das Organigramm eines internationalen Kunstschmuggel-Netzwerks.

Ganz oben stand der Name des US-Amerikaners Robert „Bob“ Hecht. Er war für die Carabinieri kein Unbekannter. 1972 hatte Hecht einen Krater (Gefäß zum Mischen von Wein und Wasser) des antiken Malers Euphro­nios für 1 Million US-Dollar an das Me­tro­po­litan Museum of Art in New York verkauft. Als die tombaroli, die „Grabplünderer“, die in Italien Land und Meer nach archäologischen Objekten absuchen, von dieser Summe hörten, fühlten sie sich betrogen. Einer der sechs Männer, die das antike Stück ausgegraben hatten, verriet der New York Times das Jahr (1971) und den Ort des Funds: die etruskischen Nekropolen von Cerveteri im Norden von Rom.2 Hecht hatte behauptet, er habe die Vase von einem armenischen Sammler in der Schweiz erworben.

Der Organigramm nannte als Hechts Mittelsmann den Italiener Giacomo Medici. Er wohnte in der Nähe von Cerveteri und wurde verdächtigt, 20 000 antike Objekte gestohlen zu haben. Auch Paolo Giorgio Ferri hatte sich bereits mit Medici und seinen Verbindungen zum Auktionshaus Sotheby’s befasst und sich für seine Recherchen mit dem britischen Journalisten Peter Watson zusammengetan.

Watsons Recherchen über So­the­by’s3 zogen eine interne Prüfung nach sich. Die Anwälte des weltberühmten Auktionshauses reisten nach Rom und legten Ferri die Verkaufskataloge vor. Verkäufer, die für Giacomo Medici arbeiteten, waren in ihnen prominent vertreten: „Durch die Auktionen bekommen die Werke einen Stammbaum, den sie nicht haben“, erklärte Ferri. „Außerdem werden die Preise in die Höhe getrieben, weil Strohmänner als Bieter auftreten. Medici verkaufte dann an Museen weiter und sagte: Ich habe soundso viel bei Sotheby’s bezahlt, gebt mir ein bisschen mehr.“

Die von Sotheby’s gelieferten Informationen führten 1995 zu spektakulären Entdeckungen im Genfer Freihafen. In einem von Giacomo Medici angemieteten Lagerraum beschlagnahmten die Carabinieri 6000 ausgegrabene oder gestohlene Antiken. Dabei handelte es sich hauptsächlich um griechische und etruskische Vasen, Mauerfragmente aus Pompeji und 5000 von tombaroli aufgenommene Pola­roid­fotos, die Medici offenbar als Katalog dienten.

Einige Objekte waren zerlegt. „Durch den Verkauf in Stücken umgeht man Ärger mit den Zollbehörden“, erklärt Maurizio Fiorilli, der damals im Prozess gegen Medici der leitende Staatsanwalt war. „Vor allem aber können die Händler dadurch höhere Summen erzielen. Sie verkaufen ein Fragment, dann ein weiteres, bis das Museum bereit ist, ein Vermögen hinzulegen, um das Kunstwerk vollständig wiederherstellen zu können.“

Am Ende der Ermittlungen erhob Paolo Giorgio Ferri Anklage gegen Hecht, aber auch gegen die Kuratorin Marion True vom Getty Center in Los Angeles, dem größten Privatmuseum der Welt. Auch andere US-amerikanische Museen, etwa in New York, Boston, Cleveland oder Toledo, sind in den illegalen Kunsthandel verstrickt, doch keines verfügt über vergleichbare finanzielle Mittel wie das Getty Museum: 250 Millionen Dollar im Jahr. Dem Milliardär J. Paul Getty gehörte auch eine Insel bei Neapel, erinnert sich Maurizio Fiorilli. „Wenn er illegal Stücke aus Cerveteri kaufte, brachte er sie mit seiner Hochseejacht erst auf die Insel und von dort aus direkt in die USA.“

Nach Angaben der Unesco sind nach 1945 in Cerveteri zwischen 400 und 550 etruskische Gräber geplündert worden. Dabei besagt das sogenannte Bottai-Gesetz von 1939, dass Funde von Kulturgütern nur „zufällig“ gemacht werden dürfen und den Behörden zu melden sind. „Nach dem Verkauf des Euphronios-Kraters wurde aus den Plünderungen eine Industrie“, schreibt der Journalist Fabio Isman in einem Buch zum Thema.

2005, zehn Jahre nach dem So­the­by’s-­Skandal, stand Marion True vor einem römischen Gericht. Sie wurde beschuldigt, die zweifelhaften Ankäufe des Getty Museum ermöglicht zu haben. Maurizio Fiorilli und Paolo Gior­gio Ferri führten die Anklage. Sie hatten gute Karten in der Hand: Durch den Abgleich der bei Medici gefundenen Polaroids mit den Museumskatalogen brachten sie die Getty-Anwälte dazu, einer internen Untersuchung zuzustimmen. Der Bericht gelangte in die Hände der Journalisten Jason Felch und Ralph Frammolino von der Los Angeles Times. Sie brachten ans Licht, dass die Hälfte der schönsten Antiken des Getty Museum aus dem illegalen Kunsthandel stammte. Für ihre Arbeit wurden sie 2006 für den Pulitzer-Preis nominiert.4

Marion True behauptete zu ihrer Verteidigung, das Getty Museum sei von „Mitarbeitern beschmutzt“ worden. Sie meinte damit Jiří Frel, der 1974 als Kurator vom Metropolitan zum Getty Museum gewechselt war. 1977 erwarb Frel für 3,8 Millionen US-Dollar die Bronzestatue „Siegreiche Jugend“, die dem Bildhauer Lysippos zugeschrieben wird, dem Porträtisten Alexander des Großen. Ein Fischkutter hatte die Skulptur vor der Stadt Fano aus der Adria gezogen. Sie wurde zu einer solchen Attraktion des Museums, dass sie unter dem Namen „Getty-Bronze“ berühmt wurde.

Die USA verwiesen Jiří Frel 1986 wegen Steuermanipulation des Landes. Er arbeitete dann mit Gianfranco Becchina zusammen, dem laut Organigramm zweiten Mittelsmann von Robert Hecht. Becchina lebte in Castelvetrano auf Sizilien, wo auch die Familie von Matteo Messina Denaro beheimatet ist, dem späteren mutmaßlichen Chef der Cosa Nostra.

Man kann sich fragen, warum die Cosa Nostra, die ’Ndrangheta und die Camorra die Finger vom Kunsthandel lassen. Immerhin wirft er nach Schätzung der Unesco jährlich 6 bis 15 Milliarden Euro ab. „Das Geschäft ist sehr einträglich“, meinte auch Paolo Gior­gio Ferri. Für die Mafia sei die Sparte aber zu speziell: „Ein internationaler Kunsthändler braucht Expertise, über die das organisierte Verbrechen nicht verfügt.“ Allerdings kontrolliere die Mafia die Territorien mit den Fundstätten.

Als die Carabinieri 2002 die Lagerräume von Gianfranco Becchina im Freihafen von Basel durchsuchten, beschlagnahmten sie 6315 Artefakte, 8000 Fotografien und 13 000 Dokumente. Sie wussten, dass Becchina ein pa­last­ar­ti­ges Landgut in Castelvetrano erworben hatte. „Doch die italienischen Behörden konnten ihm keine Verbindungen zur Mafia nachweisen“, erklärt der Journalist Isman.

2011 wurde Becchina des illegalen Antikenhandels für schuldig befunden. Er legte Berufung ein und wurde wegen Verjährung freigesprochen. Wie schon ein Jahr zuvor Marion True. Und wie Robert Hecht, der Chef des Netzwerks. Alle wurden freigesprochen, bis auf Giacomo Medici. Er wurde 2004 verurteilt, weil er noch nicht in den Genuss des im folgenden Jahr verabschiedeten Ex-Cirielli-Gesetzes kam, das die Verjährungsfrist auf die Hälfte verkürzte. Medici erhielt eine achtjährige Freiheitsstrafe, die er allerdings, wie alle Verurteilten über siebzig Jahre, bei sich zu Hause absitzen durfte, sprich: in seiner luxuriösen Villa.

Der illegale Kunsthandel ging indessen munter weiter. 2016 durchsuchten die Carabinieri die Schweizer Lager des Briten Robin Symes, der gemeinsam mit Hecht an die großen Museen in den USA, Japan, Frankreich und anderswo verkaufte, was ihnen Medici lieferte. Sein Beutegut umfasste 17 000 Objekte, zwei etruskische Sarkophage, Freskenfragmente aus Pompeji und einen marmornen Apollonkopf aus dem ersten Jahrhundert vor unserer Zeit.

Seit 1969 haben die Carabinieri 800 000 Artefakte nach Italien zurückgeholt. Staatsanwalt Maurizio Fiorilli schätzt jedoch, dass „80 Prozent der etruskischen oder römischen Artefakte auf dem Markt illegaler Pro­ve­nienz“ sind. „Das Getty Museum hat sich bereit erklärt, uns eine große Anzahl von Werken zurückzugeben“, berichtet Francesco Rutelli, der von 2006 bis 2008 italienischer Kulturminister war. Dazu gehörte auch die Venus von Morgantina, die das Museum für 18 Mil­lio­nen US-Dollar erworben hatte – den höchsten Preis, der jemals für ein antikes Werk erzielt worden ist. Der Kelchkrater des Asteas, den Becchina an das Getty Museum verkauft hatte, kehrte 2005 nach Italien zurück, drei Jahre vor dem Euphronios-Krater.

Im Fall der berühmten „Getty-Bronze“ hat das italienische Verfassungsgericht entschieden, dass sie, auch wenn sie aus internationalen Gewässern gefischt worden sei, von einem italienischen Boot an Land gebracht worden ist und Italien gehört. Doch so einfach wird sich das Museum nicht geschlagen geben. „Wir warten ungeduldig darauf, Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen können“, sagt Julie Jaskol vom Getty Trust.

1 „50 Years of the Fight Against the Illicit Trafficking of Cultural Goods“, Unesco Courier, Nr. 4 (2020).

2 „Farmhand tells of finding MET’s vase in Italian tomb“, The New York Times, 25. Februar 1973.

3 Peter Watson, „Sotheby’s. Das Ende eines Mythos“, München (Droemer Knaur) 1997.

4 Ralph Frammolino und Jason Felch, „The Getty’s troubled goddess“, Los Angeles Times, 3. Januar 2007.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Pascal Corazza ist Journalist und Autor des Buchs „Voyages en italique“, Paris (Transboréal) 2012.

Le Monde diplomatique vom 08.07.2021, von Pascal Corazza