11.03.2021

Migrationsabwehr via Youtube

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Migrationsabwehr via Youtube

von Antoine Pécoud und Julia Van Dessel

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Unterwegs in Richtung USA. Ein Mexikaner sieht seinen Cousin sterben. Er beschließt umzukehren. Er singt: „Wenn Gott mir schon das Leben nehmen muss, dann wenigstens in meinem geliebten Heimatland.“

Die Zeile gehört zu einem Musikvideo auf Spanisch, das 2008 aus US-Regierungsmitteln finanziert wurde. Eine private Werbeagentur verschickte es an Radiosender in mehreren mittelamerikanischen Ländern – ohne ihren Auftraggeber zu nennen.

Eine PR-Aktion, die potenzielle Einwanderer entmutigen soll, kommt uns „typisch amerikanisch“ vor. Dabei setzen auch EU-Staaten auf mediale Abschreckungsmethoden. In der Flüchtlingskrise von 2015 schalteten Ungarn und Dänemark Anzeigen in libanesischen und jordanischen Tageszeitungen. „Die Ungarn sind ein gastfreundliches Volk“, hieß es da, „aber wer versucht illegal nach Ungarn einzureisen, wird aufs Härteste bestraft.“ Oder: „Das dänische Parlament hat die Sozialleistungen für neu angekommene Flüchtlinge um 50 Prozent gekürzt.“

Ein 2017 produzierter Videoclip mit Sängerinnen und Sängern aus Westafrika mahnte schon im Titel: „Setz dein Leben nicht aufs Spiel – Bul sank sa bakane bi“. Und weiter im Text: „Bleib in Afrika, um den Kontinent voranzubringen, nirgends ist es besser als hier.“ In einer weiteren Liedzeile heißt es: „Im Ausland ist es nicht so einfach, wie ihr glaubt.“ Er gehörte zu der Kampagne „Aware Migrants“, organisiert von der IOM (Internationale Organisation für Migra­tion) und finanziert von der italienischen Regierung.

Kampagnen wie diese haben Menschen im Blick, die noch nicht nach Europa aufgebrochen sind, aber mit dem Gedanken spielen. Die Spots handeln von der Aussichtslosigkeit illegaler Einwanderung, von systematischen Zurückweisungen und der Strenge des „Wohlfahrtsstaats“. Sie betonen, wie gefährlich die Reise ist, wie hart das Leben in den Transit- und Zielländern, wie hoch das Risiko, Opfer von Verschleppung, Menschenhandel und Ausbeutung zu werden oder sogar zu sterben. Eines haben alle gemeinsam: Die restriktive Politik, die Migration immer gefährlicher macht, bleibt unerwähnt, denn man will vor allem die individuelle Entscheidung beeinflussen.

Die Kontrolle der Migrationsbewegungen wird so immer weiter in die Herkunfts- und Transitländer zurück verlagert.1 Die Überzeugungsstrategie ergänzt das polizeiliche Grenzregime. Dabei wird das wahre Ziel, die Eindämmung von Migration, durch schön klingende Begriffe wie „Informations-“ oder „Sensibilisierungskampagnen“ kaschiert, die an humanitäre Aktionen zum Schutz der Migrationswilligen denken lassen.

Anfangs wurden diese Aufrufe in den klassischen Medien verbreitet, heute laufen sie über Facebook, Twitter oder Youtube. Die australische Regierung ließ 2014 eine Reihe von Kurzfilmen drehen und in 15 Sprachen übersetzen. Man sieht Militärs, die im Kommandoton verkünden: „Keine Chance. Australien wird niemals ihr Zuhause werden. Ausnahmen gibt es nicht. Glaubt nicht den Lügen der Schlepper.“

Videoclips in 15 Sprachen

Die Produzenten baten Youtube, die Clips als Werbung vor Videos einzuspielen, deren User häufig Leute sind, die ans Auswandern denken. Mittels Algorithmen kann man gezielt Nutzergruppen erreichen, die zum Beispiel Arabisch oder Farsi oder Vietnamesisch sprechen. Und durch demografisches Targeting können speziell junge Menschen herausgefiltert werden.

Später tauchten diese Videoclips allerdings auch in den Facebook-Newsfeeds australischer Bürger mit Migrationshintergrund auf; der Algorithmus hatte sie aufgrund ihrer Sprache herausgefiltert.2

Auch die norwegische Regierung wandte sich 2015 an Facebook. Um dem Vorwurf zu begegnen, sie tue nichts gegen die Ankunft von Flüchtlingen an der Grenze zu Russland, finanzierte sie zwei Abschreckungsclips. Anfangs konnte man diese Videos ganz normal liken oder kommentieren, was für eine schnelle Verbreitung sorgen sollte. Doch die Option wurde alsbald gesperrt, weil die Seite mit rechts­ex­tre­men Hassbotschaften überschüttet wurde, was für die Regierung äußerst peinlich war.

Auch Facebook bietet – natürlich gegen Bezahlung – die Möglichkeit, gezielt junge Männer aus Afghanistan, Äthiopien oder Eritrea anzusprechen, also Menschen, denen die norwegischen Regierung keinen Anspruch auf Asyl zubilligen will. Dabei kann der Algorithmus Personen herausfiltern, die bereits aufgebrochen sind, sich aber noch nicht für ein Zielland entschieden haben. Sie sollen davon abgehalten werden, sich für Norwegen zu entscheiden.

Nicht zu den Adressaten gehören allerdings syrische Flüchtlinge, denen ja ein „politisches“ Asylrecht zusteht. Zudem enthalten die Clips den expliziten Hinweis, dass nur Erwachsene abgeschoben werden, weil unbegleitete Minderjährige ein Recht auf Inobhutnahme haben.

Auch die belgischen Behörden haben seit 2015 mehrfach Facebook für solche Initiativen genutzt. 2018 wurden über eine Facebook-Seite abschreckende Fotos aus Internierungslagern und von einem jungen Migranten in Handschellen verbreitet. Die Seite war eigens von der Ausländerbehörde eingerichtet worden – unter dem Slogan: „Nein zur illegalen Einwanderung. Kommen Sie nicht nach Belgien“.3

Dass es solche Kampagnen immer häufiger gibt, hat seine Ursache in dem Abschreckungswettlauf zwischen den EU-Staaten. Am 30. Mai 2018 erklärte der französische Innenminister Gérard Collomb im Senat, Einwanderer würden genau hinsehen, um sich für die Länder mit den besten Aufnahmebedingungen zu entscheiden. Das scheinen auch seine Amtskollegen so zu sehen. Deshalb praktizieren die einzelnen EU- Länder nicht nur ein strenges Grenzregime, sondern sind auch bestrebt, es möglichst publik zu machen.

Kampagnen im Auftrag der EU

Dass sie dafür all die Plattformen benutzen, die im Silicon Valley entwickelt wurden, ist nur logisch. Die Regierungsbehörden wissen nämlich genau, dass Menschen auf der Flucht aufs Internet angewiesen sind, um mit ihrer Familie in Kontakt zu bleiben, sich mittels GPS orientieren und über Sprachgrenzen hinweg verständigen zu können. Smartphones dienen aber auch als Speicher für Fotos oder Zeugnisse der schrecklichen Erlebnisse, die ihren Asylantrag rechtfertigen. Und wenn Flüchtlinge in Seenot oder andere Gefahren geraten, können sie Notrufe absetzen und versuchen, verloren gegangene Bekannte oder Landsleute aufzuspüren.

Die Behörden im Globalen Norden zerbrechen sich den Kopf über eine andere Frage: Machen die digitalen Technologien die Migranten nicht viel zu autonom, indem sie ihnen ermöglichen, sich zu vernetzen und an viele wichtige Informationen heranzukommen? Wird damit also nicht die irreguläre Einwanderung erleichtert? Um dem entgegenzuwirken, bedienen sich die Regierungen derselben technologische Instrumente. Die sozialen Me­dien helfen ihnen nicht nur, die Aufenthaltsorte der Migranten zu ermitteln, sie sind auch der ideale Kommunikationsweg, um bestimmte Zielgruppen zu erreichen.

In ihre Digitalkampagnen binden die Staaten auch andere Akteure ein. Unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen wurde im Dezember 2018 in Marrakesch der „Globale Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration“ (kurz: UN-Migrationspakt) verabschiedet. Er empfiehlt „mehrsprachige und faktengestützte Informationskampagnen“ und „Aufklärungsveranstaltungen“ in den Herkunftsländern, um „auf die mit irregulärer Migration verbundenen Risiken hinzuweisen“. Das Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) und die IOM sind die entscheidenden Vermittlungsinstanzen, die den Zielländern zur Finanzierung von Antimigrationskampagnen außerhalb ihres Staatsgebiets verhelfen.

An solchen präventiven Maßnahmen sind aber auch private Kommunikationsfirmen und PR-Agenturen beteiligt. Seefar in Hongkong etwa entwickelt „Kommunikationsstrategien“, die sich an potenzielle Migranten in Afghanistan und Westafrika richten. Die australische Produktionsfirma Put It Out There Pictures dreht im Auftrag westlicher Regierungen propagandistische Filme, zum Beispiel „Journey“, eine TV-Produktion über Flüchtlinge, die versuchen nach Australien zu gelangen.

Inzwischen machen auch humanitäre und Entwicklungshilfeorganisationen mit. Die spanische NGO Proactiva Open Arms wurde 2015 mit dem Ziel gegründet, schiffbrüchige Flüchtlinge im Mittelmeer zu retten; seit 2019 versucht sie im Senegal Bleibeperspektiven aufzuzeigen.4 Die Organisationen finden in den Herkunftsländern die Unterstützung von zurückgekehrten Flüchtlingen, Journalisten, Künstlerinnen, kommunalen und religiösen Autoritäten. In Guinea etwa kämpft eine Gruppe von Künstlern, die sich einst für Grenzöffnungen einsetzte, heute dafür, dass die Jugend nicht auswandert. Die Kampagne wird von der IOM koordiniert und vorwiegend aus EU-Geldern finanziert.5

Das humanitäre Argument, man müsse Migranten schützen, indem man sie besser informiert, erleichtert die Zusammenarbeit zwischen Staaten, internationalen Organisationen, Privatwirtschaft und NGOs. Allerdings repräsentiert die Mehrheit dieser Akteure den Globalen Norden und dessen Interesse an strikten Grenzkontrollen. Auch ihr Engagement zeigt an, dass der Kampf gegen illegale Migration sich zunehmend in den Globalen Süden verlagert.

Über die Wirksamkeit der Kampagnen lässt sich indes streiten, denn sie werden kaum evaluiert. Die Ergebnisse einer norwegischen Studie von 2019, für die Migranten im Transitland Sudan befragt wurden, waren wenig aufschlussreich.6 Nur wenige kannten das Informationsmaterial der norwegischen Regierung, erklärten aber, dass sie sehr wohl wissen, welch großen Gefahren sie sich aussetzen. Auswandern wollten sie trotzdem.

1 Siehe Alain Morice und Claire Rodier, „Europas Mauern“, LMd, Juni 2010.

2 Johnny Lieu, „Um, why am I being targeted with ­Austra­lian anti-refugee ads on Facebook?“, Masha­ble, 4. November 2016.

3 Weil es diese Seite nur auf Englisch gab, wurde sie für eine Fälschung gehalten. Die belgische Regierung sah sich veranlasst, sie durch eine klassisch gehaltene Seite mit dem neutralen Titel „Fakten über Bel­gien“ zu ersetzen.

4 Julia Van Dessel und Antoine Pécoud, „A NGO’s dilemma: rescuing migrants at sea or keeping them in their place?“, Border Criminologies, Oxford, 27. April 2020. Siehe auch das Interview mit Òscar Camps in Süddeutsche Zeitung, 17. November 2020.

5 Raphaël Krafft, „En Guinée, l’Organisation interna­tio­na­le pour les migrations contrôle des frontières et les âmes“, France Culture, 1. Februar 2019.

6 Jan-Paul Brekke und Audun Beyer, „‚Everyone wants to leave’: transit migration from Khartoum – The role of information and social media campaigns“, Oslo 2019.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Antoine Pécoud ist Professor für Soziologie an der Universität Sorbonne Paris Nord. Julia Van Dessel ist Politologin in der Forschungsgruppe Germe (Group for Research on Ethnic Relations, Migration and Equality) an der Université libre de Bruxelles.

Le Monde diplomatique vom 11.03.2021, von Antoine Pécoud und Julia Van Dessel