10.12.2020

Das Achtsamkeits-Placebo

zurück

Das Achtsamkeits-Placebo

Wie sich der Staat mit schönen Worten aus seiner sozialen Verantwortung stiehlt

von Evelyne Pieiller

Birgit Werres, ohne Titel, #20/19, 2019, Kunststoffgewebe, 114 x 45 x 36 cm
Audio: Artikel vorlesen lassen

Corona-Information: „Schützen wir einander!“ Was wie ein biblisches Gebot oder wie der Werbeslogan einer Versicherungsfirma klingt, gehört zu jenen wohlmeinenden Sätzen, denen sich schwerlich widersprechen lässt. Über einzelne Maßnahmen kann man diskutieren, aber die grundsätzliche Zustimmung versteht sich von selbst. Doch was in Zeiten der Pandemie wie eine unüberprüfbare Wahrheit daherkommt, ist keineswegs naturgegeben, sondern Ausdruck eines bestimmten Wertekanons.

Die Art und Weise, wie etwa Frankreichs Regierung ihre Maßnahmen zur Bewältigung der Coronakrise vermittelt, verleihen der „fürsorgenden Gesellschaft“ (société du care) neues Gewicht. Als die damalige Vorsitzende der Sozialistischen Partei (PS) Martine ­Aubry den Begriff vor zehn Jahren in die Debatte einbrachte, machten sich noch viele darüber lustig. Heute ist er in aller Munde. Nicht zufällig taufte Präsident Macron im Frühjahr 2020 die zwölfköpfige Steuerungsgruppe aus Virologinnen, Immunologen, Bioinformatikerinnen und anderen Experten Care (Comité analyse recherche et expertise).

Care heißt Pflege, aber auch Fürsorge. Seit den frühen 1980er Jahren spricht man in der feministischen Forschung von einer Care-Ethik, die zuerst von der Psychologin Carol Gilligan und der Politikwissenschaftlerin Joan Tronto entwickelt wurde.1 Dabei ging es den beiden nicht einfach nur darum, die vor allem von Frauen geleistete Sorgearbeit aufzuwerten; sie wollten in einem viel radikaleren Sinne ethische Fragen politisieren. Heute kritisiert die Philosophin Sandra Laugier an der Care-Ethik, dass sie „anstelle von zentralen Werten wie Autonomie, Unvoreingenommenheit und Gleichheit die Vulnerabilität ins Zentrum der Moral“2 stelle.

Wie die aktuelle Care-Ethik diese Signa der modernen Gesellschaft zum Mythos erhebt, entlarven Laugier und ihre Co-Autorin, die ehemalige sozialistische Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem, in ihrem neuen Buch „La Société des vulnérables“.3 Unter dem Deckmantel der Moral offenbare sich die politische Agenda der Care-Ethik. Wie bei einem raffinierten Zaubertrick werde nämlich die „Autonomie der Vernunft“, die wir in einem langen Emanzipationsprozess erwerben, indem wir lernen, vorurteilsfrei zu denken und erst dadurch zu mündigen Bürgern werden, durch den schwammigen Begriff „Autonomie“ ersetzt.

Der von der Care-Theorie4 eingeführte Begriff „vulnerabel“ ist im Kontext der Pandemie allgegenwärtig. Abgesehen davon, dass es längst zum guten Ton gehört, nicht von den „Alten“ zu reden, ist aber auch dieser Begriff nicht unproblematisch: Wer „vulnerabel“ ist, ist schwach. Was aber nicht impliziert, dass er von den Starken auch beschützt werden muss. Oder dass sich jemand aus Eignung oder Neigung um andere kümmert oder fürsorglich und aufmerksam ist.

Nicht zufällig ist der zwischen Fürsorge, Wohlwollen und Achtsamkeit oder Aufmerksamkeit changierende Begriff bienveillance 2018 von den Onlinenutzern des französischen Wörterbuchs Le Robert zum Wort des Jahres gekürt worden. 2011 unterzeichneten 228 französische Unternehmen, darunter France Télécom und die Bank ­HSBC France, auf Initiative der Monatszeitschrift Psychologies Magazine einen „Aufruf zu mehr Achtsamkeit am Arbeitsplatz“.

Das Fürchten wird zur ­obersten Bürgerpflicht

Es ist ein gängiger Begriff in der Pädagogik, hat selbst die Musikbranche5 erreicht und wird gern in politische Reden eingeflochten. „Ich habe eine Lebensmaxime, für Frauen, für Männer und für Institutionen: la Bienviel­lance“, erklärte etwa Emmanuel Macron am 10. April 2016 auf France 2. Und der Präsident des Europäischen Rats Charles Michel wünschte sich in seiner Eröffnungsrede zur Videokonferenz der Euro-Gruppe am 8. Mai 2020 eine „achtsame Gesellschaft“.

Das wirkt zwar erst mal sympathisch, ist aber nicht so unschuldig, wie es klingt. Denn der Fürsorgende ist dem Objekt seiner Fürsorge immer überlegen. Die Absicht ist gut, aber die Aufwertung und die Rolle des Achtsamen wirft einige Fragen auf. In Kombination mit Care und Vulnerabilität wird die Bienveillance zu einem erstaunlichen ideologischen Werkzeug.

Eine Anhängerin dieser Ideologie ist die in Frankreich einflussreiche Philosophin Fabienne Brugère. Sie fordert Achtsamkeit nicht nur in der Moral, sondern auch in der Politik6 und wird darin rhetorisch von Gesundheitsminister Olivier Veran unterstützt. Hinter dieser vermeintlichen Notwendigkeit verbirgt sich der Versuch, unseren Gesellschaftsvertrag in eine andere Richtung zu lenken. Er soll von seiner „abstrakten“ Gleichheit, seinem „kalten“ Universalismus befreit und zu einer asymmetrischen Beziehung umgeformt werden, die auf Ungleichheit beruht.

Natürlich reichen gleiche Rechte nicht aus, um auch faktisch Gleichheit zu erreichen, doch auf welchen Normen sollen diese neuen, differenzierten Rechte dann gründen? Wer wird als politisches Objekt der Fürsorge und Aufmerksamkeit ausgewählt? Und auf welcher Grundlage legt man fest, wer von den in jeder Hinsicht schwächeren Mitgliedern unserer Gesellschaft Anspruch auf einen Ausgleich geltend machen kann? Lässt sich aus einer verallgemeinerten Achtsamkeit die unterschiedliche Behandlung gesellschaftlicher Gruppen rechtfertigen?

Umso mehr als ein Mangel an dieser schönen Neigung herrscht, wie Macron schon als Präsidentschaftskandidat ahnte: „Ich habe das Wohlwollen immer gepflegt, in der insgeheimen, unveränderlichen Hoffnung, dass es ansteckend sei“, sagte er auf seiner Wahlkampftour am 14. Januar 2017 in Lille. Auch Frédéric Worms, Mitglied des Nationalen Ethikrats und auf dem besten Weg, ein staatstragender Philosoph zu werden, kann mit seiner Feststellung, dass die Boshaftigkeit stärker verbreitet sei als die Güte7 , niemanden mehr schockieren.

Um das Wohlwollen gegenüber vulnerablen Gruppen allgemein durchzusetzen, wird noch ein anderer Begriff benutzt, der sich nicht auf Gefühle, sondern auf das Gewissen beruft: Und das nennt sich dann Verantwortungssinn, sozusagen die staatsbürgerliche Version der Achtsamkeit. Der Philosoph Hans Jonas, der geistige Vater des Care, umreißt dieses Feld in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Verantwortung“, das sich schon im Titel programmatisch von Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ abgrenzt.

Im Kampf gegen die selbstzerstörerischen Kräfte der Menschheit müsse laut Jonas die schlechte Prognose Vorrang haben vor der guten Prognose. So werde „das Fürchten selber zur ersten präliminaren Pflicht“ (S. 392).8 Es sei jedoch wichtig, dass diese Furcht, also die unverzichtbare Wahrnehmung der Verletzlichkeit alles Lebenden, zum Werkzeug werde, um das Leben zu bewahren. Sie müsse damit einhergehen, dass jeder seine Verantwortung für den Erhalt des Lebens verinnerliche: „Die Verantwortung ist die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein, die bei Bedrohung seiner Verletzlichkeit zur Besorgnis wird“ (S. 390).

Da aber „in der kommenden Härte einer Politik verantwortlicher Entsagung die Demokratie mindestens zeitweise untauglich ist“ (S. 269), sei eine „wohlwollende Tyrannis“ (S. 262) geeigneter, auf verantwortliche Weise alle zu zwingen, sich verantwortlich zu verhalten, wie das zum Beispiel Eltern tun würden, wie Jonas gern betont. Auch Macron spricht bei seinen Entscheidungen oft von „unseren Kindern, unseren schwächsten Mitbürgern“.

Diese politisch-metaphysischen Betrachtungen haben die Umweltbewegung (Schützen wir die Natur!) ebenso wie humanitäre Hilfsorganisationen beeinflusst. Sie prägten Normen und juristische Konzepte, die beispielsweise in Frankreich die Notwendigkeit und die Regeln des seit 2005 in der Verfassung verankerten „Vorsorgeprinzips“ definieren.

Und kaum war der realexistierende Sozialismus zusammengebrochen, da fanden sie Eingang in die Programme internationaler Organisationen. Als der „Weltbericht über die menschliche Entwicklung“ des UN-Entwicklungsprogramms 1994 die persönliche Sicherheit in den Mittelpunkt stellte, setzte er damit einen neuen politischen Schwerpunkt und räumte der Furcht den Vorrang ein.

Nachdem die Internationale Kommission zur Intervention und Staatensouveränität (ICISS) im Jahr 2001 einen Bericht zur „Schutzverantwortung“ vorgelegt hatte, wurde auf dem UN-Gipfel von 2005 das „Konzept der Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect, R2P) verabschiedet, das die Pflicht der Staaten, ihre Bevölkerung zu schützen, neu definiert hat. Würden die natio­nalen Regierungen dabei versagen, sollten die Unterzeichnerstaaten eingreifen.

Im Februar 2011 wurde Libyen zum ersten R2P-Fall, bei dem eine bewaffnete Intervention zum Schutz der Zivilbevölkerung und gegen den Willen des herrschenden Regimes erfolgte. Diese Schutzverantwortung ist also in höchstem Maß politisch und hat mit umsichtigem Realismus oder bloßer „Humanität“ wenig gemein.

Durch sie entsteht im Gegenteil ein neues Verständnis von Staatsbürgerlichkeit, das gerade nicht von Mitgefühl, Altruismus und Großzügigkeit zeugt. Die Gesellschaft wird vielmehr als organisches Ganzes betrachtet, die man zu ihrem Glück zwingen muss. Und die politischen Entscheidungen werden dadurch gerechtfertigt, dass mit dem Schlimmsten gerechnet wird.

An die Stelle von Emanzipation und kritischem Denken tritt das Eingeständnis grundsätzlicher Verletzlichkeit und Abhängigkeit. In diesem Sinne erklärte Präsident Macron in seiner Neujahrsansprache 2020, Frankreichs umstrittene Rentenreform beruhe „auf einem Prinzip der Verantwortung“.

Als der Reifenhersteller Bridge­stone im September ankündigte, sein Werk in Béthune zu schließen, beklagte die Regierung zwar die „Brutalität“ der Entscheidung, verlangte aber von dem Unternehmen keine „Fürsorge“ für die 863 Mitarbeiterinnen, die nun ihren Job verloren. Care hat schließlich Grenzen.

1 Siehe Carol Gilligan, „Die andere Stimme – Lebenskonflikte und Moral der Frau“, Cham (Springer Verlag) 1984, und Joan Tronto, „Moral Boundaries: A Political Argument for an Ethic of Care“, London (Routledge) 1993, sowie „Caring Democracy: Markets, Equality, and Justice“, New York (NYU Press) 2013.

2 Siehe Sandra Laugiers Eintrag über „Care“ in der Encyclopædia Universalis France.

3 Siehe Najat Vallaud-Belkacem und Sandra Laugier, „La Société des vulnérables. Leçons féministes d’une crise“,Paris (Gallimard, coll. „Tracts“) 2020.

4 Joan Tronto, „Un monde vulnérable. Pour une politique du care“,Paris (La Découverte, coll. „Textes à l’appui – Philosophie pratique“) 2009.

5 Flora Santo, „Paris: Manifesto XXI organise son festival sous le signe de la bienveillance et de l’amour“, Trax, 2. September 2020, www.traxmag.com.

6 Siehe Philippe Douroux, „Fabienne Brugère: ‚Il faut construire de la bienveillance non seulement dans la morale, mais aussi en politique‘ “, Libération, Paris, 5. August 2016. Siehe auch Fabienne Brugère, „L’Éthique du care“, Presses universitaires de France, coll. „Que sais-je?“, Paris, 2017.

7 Frédéric Worms, „Sidération et résistance. Face à l’événement (2015–2020)“, Paris (Desclée de Brouwer) 2020.

8 Hans Jonas, „Das Prinzip Verantwortung“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1979. Die Zitate sind der Taschenbuchausgabe von 2003 entnommen.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 10.12.2020, von Evelyne Pieiller