Raue See
Die Geopolitik des maritimen Welthandels
von Tom Stevenson
Bis in unsere Tage markieren Kapitäne die Position ihres Schiffes, ob Containerriese oder kleiner Frachter, mit Bleistift auf einer gedruckten Seekarte. Obwohl die allermeisten Schiffe mit einem satellitengestützten Navigationssystem ausgestattet sind, wird der Kurs auf der Kommandobrücke nach wie vor in die papierene Karte eingetragen, die detaillierte Informationen über Küstenlinien, Wassertiefen, Ankerplätze und Leuchtfeuer enthält.
Beim Thema Seefahrt fällt es immer noch schwer, nostalgische Gefühle zu unterdrücken und die Kinderbuchbilder von bärtigen Schippern am Steuerruder zu vergessen. Die Seemannssprache mit ihren vielen geheimnisvollen Begriffen ist für Laien kaum verständlich, und Reisen zur See bieten auch heute noch den anheimelnden Reiz des Vormodernen – im krassen Gegensatz zu den unwürdigen Bedingungen einer modernen Flugreise.
Dabei ist die heutige Handelsschifffahrt – mit ihren Großtankern, Containerriesen und Massengutfrachtern – alles andere als atavistisch. Die größten haben eine Länge von 400 Metern und mehr. Und die Zahl der „Megaschiffe“ mit einer Ladekapazität von mehr als 10 000 TEU (20-Fuß-Standardcontainern) hat in den letzten Jahren stark zugenommen.1
Diese Riesenfrachter sind so groß, dass sie in vielen Häfen Nordamerikas nicht mehr anlegen können. Ihre wahrhaft „ozeanischen“ Dimensionen übersteigen die Vorstellungskraft der meisten Menschen, die ja eher Landratten sind. Und doch können selbst solche Megaschiffe bei rauer See Schlagseite bekommen. Insgesamt gehen jedes Jahr hunderte Container über Bord, und noch immer kentern oder sinken mehr Schiffe, als man denkt.
Die Handelsschifffahrt ist nicht nur ein unentbehrliches Vehikel der Globalisierung, sie bildet auch die internationale Arbeitsteilung einer globalisierten Weltwirtschaft ab. Dabei sind die Berufsgruppen, die an Bord arbeiten, häufig ethnisch homogen: Die Matrosen stammen fast immer aus dem globalen Süden, sehr viele von ihnen von den Philippinen. Die Offiziere dagegen rekrutieren sich aus den großen Handelsnationen; auf den Schiffen europäischer Reedereien zum Beispiel sind sie zumeist Europäer.
Die Klassengesellschaft an Bord zeigt sich schon daran, dass die Quartiere der Offiziere von denen der Mannschaften getrennt sind. Letztere bleiben auch viel länger ununterbrochen auf See. Ihre Arbeitsbedingungen waren schon immer hart, aber heute haben die meisten von ihnen wenigstens einen Internetzugang. In Zeiten der Pandemie ist dies allerdings nur ein schwacher Trost. Seit viele Handelsschiffe stillgelegt sind und der Flugverkehr stark eingeschränkt ist, warten 120 000 bis 150 000 Seeleute vergeblich auf Ablösung und eine Chance zur Heimfahrt.2
Immer mehr große Frachthäfen – insbesondere für Containerschiffe – gleichen ohnehin abgeschlossenen Quarantänezonen, die meist weit außerhalb der eigentlichen Hafenstädte liegen. Mit der Verbreitung der stark automatisierten Verladepiers wurde auch die traditionelle Kampfkraft der Dockarbeiter geschwächt, die früher dank ihrer starken Gewerkschaften höhere Löhne als die Schiffsbesatzungen erkämpfen konnten.
In der Seefrachtbranche dominieren nicht nur die Handelsriesen wie China, Japan oder Deutschland, sondern auch
traditionelle Schifffahrtsnationen wie Dänemark und Griechenland. Als größte Handelsflotte gilt – an der Tonnage gemessen – die griechische, von der allerdings nur 18 Prozent unter der blauweißen Flagge fährt.3
Rund 90 Prozent des Welthandels wird auf dem Seeweg abgewickelt. Daran wird auch die Coronapandemie nichts ändern, obwohl das Volumen des Welthandels wegen der Unterbrechung der Produktionsketten stark schrumpfen wird: Die Welthandelsorganisation (WTO) rechnet für 2020 mit einen Rückgang des Welthandels um bis zu einem Drittel.
Dabei machen Fertigprodukte nur den kleineren Teil des Transportvolumens aus. Schon bei der Trockenfracht ist der Anteil von Schüttgut wie Kohle, Phosphat oder Getreide weit größer als der von Konsumgütern. Und 30 Prozent der gesamten Frachtmenge entfällt allein auf Rohöl.
Der Transport von Öl in großem Stil begann mit der Tankerflotte, die Marcus Samuel, der Shell-Gründer und Sohn eines Muschelhändlers, Ende des 19. Jahrhunderts aufbaute. Seit der Shell-Tanker „SS Murex“ 1892 erstmals den Suezkanal durchfuhr, wird der internationale Energiehandel hauptsächlich auf dem Seeweg abgewickelt. Wenn Rohöl als das „Blut“ der globalen Ökonomie gilt, kann man die Seeschifffahrt als ihr Kreislaufsystem bezeichnen.
Seit einigen Jahrzehnten wird ein weiterer Energieträger über die Weltmeere bewegt: Spezialtanker transportieren große Mengen von verflüssigtem Erdgas oder LNG (Liquefied Natural Gas) von den Hauptproduktionsstätten am Persischen Golf (insbesondere Katar), in Sibirien und im Südosten der USA zu LNG-Terminals in aller Welt. Japan war das erste Industrieland, das seit den 1960er Jahren auf den Import von Flüssiggas setzte. Auch heute gehen noch 80 Prozent der Exporte nach Ostasien (Japan, Südkorea, Taiwan).
Die LNG-Transporter, von denen es knapp 500 gibt, sind mit Isoliertanks ausgestattet, die für ihre flüssige Fracht eine Temperatur von minus 163 Grad Celsius garantieren. Allerdings ist das Transportvolumen der LNG-Flotte mit dem der Öltankerflotte nicht zu vergleichen. Und der Verfall der Energiepreise im Gefolge der Coronakrise wird den Flüssiggashandel stark beeinträchtigen, zumal die Anbieter mit dem billigeren russischen Erdgas konkurrieren, das über Pipelines auf die europäischen Märkte gelangt.
Der internationale Seehandel ist ein System, das für die Weltwirtschaft so wichtig ist, dass man es nicht nur den privaten Reedereien überlässt. Die führenden Frachtschifffahrtslinien sind zwar profitorientierte Konzerne, aber sie werden – in unterschiedlichem Ausmaß – von einzelnen Staaten unterstützt und gelenkt. Das gilt insbesondere für die vier Giganten der Branche.
Die dänische Reederei Maersk, die italienische-schweizerische Mediterranean Shipping Company (MSC), die französische CMA CGM und die chinesische Cosco kontrollieren etwa die Hälfte des globalen Seehandels. Die drei europäischen Unternehmen verdanken ihre oligopolistische Stellung auch der Protektion durch ihre Regierungen. Sie beziehen alljährlich Milliarden von Euro an Subventionen sowohl von ihren „Mutterländern“ als auch von der EU. Cosco dagegen gehört direkt dem chinesischen Staat. Aber die Geschäfte der Großreedereien sind ohnehin auf Unterstützung durch ihre Regierungen angewiesen, weil diese ja die neuen Hafenanlagen planen und finanzieren.
Vier Reedereien kontrollieren die Hälfte des Seehandels
Der Begriff des Seehandels hat seine ganz eigene Geschichte. Im Mittelenglischen bezeichnete „trade“, das von Kaufleuten der Hanse aus dem Mittelniederdeutschen eingeführt wurde, den Kurs eines Schiffs oder – poetischer noch – eine ganze „Lebensweise“. Erst später erlangte das Wort die Bedeutung von länderübergreifendem Handelsaustausch. Aber genau dieser Begriffsinhalt ist heute überholt. In einer vom Finanzsektor dominierten Weltwirtschaft sind die meisten Operationen, die unter „Handel“ laufen, nicht mehr kooperative Tauschgeschäfte über Staatsgrenzen hinweg, sondern lediglich der Vollzug internationaler Kapitalbewegungen. Nach Schätzungen der OECD und der Unctad bestehen heute 70 bis 80 Prozent des „Welthandels“ aus Transfers, die sich innerhalb transnationaler Konzerne abspielen.
Für diese weltweit operierenden Unternehmen hat der Seetransport einen großen Vorteil: Viele der Umweltauflagen, denen der Bahn- und Straßenverkehr unterliegt, gelten für ihn nicht. In jüngster Zeit gibt es zwar Bestrebungen, die Umweltbelastungen durch Schiffe genauer zu erfassen, größere Einschränkungen wurden aber bisher nicht beschlossen. Schiffsmotoren laufen heute überwiegend mit Schweröl (Heavy Fuel Oil, HFO), das aus den Rückständen von Raffinerien gewonnen wird. Zwar gilt für diesen Kraftstoff seit dem 1. Januar 2020 ein strengerer Schwefelgrenzwert von 0,5 statt wie bisher 3,5 Prozent.4 Doch der Ausstoß von CO2 und Stickoxiden, mit dem die Schifffahrt ganz erheblich zum weltweiten Klimawandel beiträgt, unterliegt nach wie vor keinerlei Beschränkungen.5
Die internationale Schifffahrt, die einen Großteil des Welthandels abwickelt, beruht auf einem Geflecht strategischer Allianzen zwischen transnational operierenden Großreedereien, Hafengesellschaften und einzelnen Staaten. Wie dicht diese drei Bereiche verflochten sind, hat Laleh Khalili in ihrem gerade erschienenen Buch „Sinews of War and Trade“ am Beispiel der Arabischen Halbinsel aufgezeigt.6
Auch für die Infrastruktur der globalen Kommunikation sind solche Allianzen von entscheidender Bedeutung. So beruht das Internet, das oft als Beispiel für die innovative Kraft von Privatunternehmen angeführt wird, zu einem Großteil auf einem staatlich subventionierten Netz von Seekabeln (die deshalb von den britischen und US-Geheimdiensten leicht angezapft werden können).
Diese neuen Glasfaserkabel sind auf denselben Routen verlegt wie die ersten Telegrafenkabel im 19. Jahrhundert, die sich wiederum an die Routen der imperialen Schifffahrt hielten. So verlaufen die Seekabel, die Europa und die beiden Amerikas mit Indien und dem Fernen Osten verbinden, über arabische und iranische Häfen am Golf.
Die Seefahrtsrouten werden wiederum durch die geologischen Formationen der Ozeane bestimmt, aber auch durch politische und praktische Entscheidungen staatlicher Akteure. Neun der zehn umschlagsstärksten Handelshäfen liegen in Ostasien und haben maßgeblich zum dortigen Wirtschaftsboom beigetragen. An zehnter Stelle folgt der Dschabal-Ali-Hafen in Dubai. Alle arabischen Golfmonarchien – von den Vereinigten Arabischen Emiraten über Saudi-Arabien bis Oman – haben Tiefwasserhäfen, von denen aus die fossilen Brennstoffe der Region exportiert werden.
All die gigantischen Lastkräne, Verladebrücken und Portalstapler, die an der Golfküste gen Himmel ragen, wirken in dieser Wüstenlandschaft wie Apparaturen von Außerirdischen. Die wirtschaftliche Entwicklung der Golfregion wird zwar häufig überschätzt, aufgrund ihrer geografischen Lage, ihrer Ölvorkommen und ihrer Tankerterminals ist sie aber weiterhin von enormer geopolitischer Bedeutung.
Die US-Marine überwacht die wichtigsten Meerengen
Wenn man eine aktuelle Karte der globalen Machtstrukturen zeichnen wollte, müsste man nicht die übliche Mercator-Projektion der Erde, sondern die OpenSeaMap zugrunde legen. Die im Internet frei zugängliche Seekarte, die laufend in Echtzeit aktualisiert wird, bietet – neben den hydrografischen Daten – unverzichtbare Informationen etwa über Wetterlagen und Gezeiten. Die Grenzlinien zwischen den Küstenmeeren – also den Hoheits- oder Territorialgewässern der einzelnen Länder – und den internationalen Gewässern verdichten sich in Meeresregionen mit vielen Anrainerstaaten (wie im Persischen Golf) zu einem verwirrenden Geflecht.
Die OpenSeaMap verzeichnet auch die Positionen von tausenden Containerschiffen, Öltankern und Kriegsschiffen, die auf den Ozeanen unterwegs sind. Die roten, blauen und grünen Punkte bewegen sich ameisengleich entlang bestimmter Linien, die das Netz der Hauptschifffahrtsstraßen bilden.
Die wichtigste dieser internationalen Routen ist die, auf der das Öl vom Persischen Golf nach China gelangt. Der Nahe Osten wird häufig als sicherheitspolitische „Problemzone“ oder als Schlachtfeld im „Kampf gegen den Terrorismus“ bezeichnet. Doch hinter solchen Klischees bleibt das aus Sicht der Kapital- und Machtinteressen entscheidende Faktum verborgen: die Kontrolle über die Produktion und Verschiffung von Öl und Gas.
Die Industrialisierung Chinas beruht bekanntlich auf dem Import von Rohstoffen. Zum Beispiel absorbiert das Land zwei Drittel der globalen Eisenerzexporte (die großenteils aus Australien und Brasilien stammen). Und wie Japan und Südkorea ist auch China auf das Öl aus der Golfregion angewiesen. Insofern wäre es nur logisch, wenn die Handelsroute zwischen dem Persischen Golf und Ostasien von den Golfstaaten oder von China kontrolliert würde. Tatsächlich aber wird diese Kontrolle von Washington ausgeübt. Die USA unterhalten am Golf nicht nur ein ganzes System von Militärbasen, das ihre Vormacht absichert, sie bewachen auch die wichtigsten Seerouten Richtung Osten.7
Die Kontrolle der Seewege obliegt der US-Kriegsmarine, von deren sechs Flottenverbänden nur drei an den Küsten der USA selbst stationiert sind. Die drei anderen haben ihre Basis in den für Washington wichtigsten Weltregionen: in Europa, in Ostasien und am Persischen Golf.
Was eine Seemacht ausmacht, ist ihre Präsenz an den Meerengen, den Flaschenhälsen der Hauptschiffsrouten: Die Straße von Gibraltar und der Suezkanal, die das Mittelmeer, den Atlantik und den Indischen Ozean miteinander verbinden; die Straße von Malakka zwischen Sumatra und der Malaiischen Halbinsel als Verbindung zwischen dem Indischen Ozean, dem Südchinesischen Meer und dem Pazifik; und die Straße von Hormus am Ausgang des Persischen Golfs, durch die ein Viertel der globalen Ölexporte transportiert wird. Die US-Marine ist in der Lage, alle drei Flaschenhälse zu kontrollieren: Die 5. US-Flotte ist in Bahrain stationiert, die 6. hat ihr Hauptquartier in Neapel und die 7. in Yokosuka am Ausgang der Bucht von Tokio.8
Man darf die Marineeinheiten zwar nicht isoliert betrachten, denn ihre Effizienz beruht auf dem Zusammenwirken mit Bodentruppen und Luftwaffe. Und doch ist die Seestreitmacht ein Machtinstrument von strategischer Bedeutung. Zur Sicherung der internationalen Energieversorgung kommt vor allem den US-amerikanischen „Flugzeugträgerkampfgruppen“ eine besondere Bedeutung zu.
Eine CSG (Carrier Strike Group) besteht aus einem atomgetriebenen Flugzeugträger mit Dutzenden Kampfjets, Jagdflugzeugen und Hubschraubern, der von zwei Lenkwaffenkreuzern, zwei oder drei Zerstörern und zwei Jagd-U-Booten begleitet wird. Die gigantischen Flugzeugträger, die fast die Länge der größten Containerriesen erreichen, sichern den USA einen Grad von Kontrolle über die globalen Schiffsrouten, den keine frühere Seemacht je erreicht hat.
Der Persische Golf ist zwar ein Zentrum des globalen Energiesystems, aber das Land, nach dem der Golf benannt ist, stellt bislang noch keine wirkliche Herausforderung für das US-Militär dar. Die USA haben Iran mit militärischen Stützpunkten quasi umzingelt und die iranische Wirtschaft durch Sanktionen isoliert. Doch die Versuche, das Regime in Teheran zu stürzen, sind durchweg gescheitert. Iran reagiert im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten, und Aktionen wie das Konfiszieren eines Tankers unter britischer Flagge im Sommer 2019 oder der Angriff auf zwei saudische Ölterminals im September 2019 stellen für die Supermacht USA eher ein Ärgernis als eine systematische Bedrohung dar.
Für Washington ist die eigentliche Herausforderung eine andere: der Aufstieg Chinas zu einer maritimen Großmacht. Besonders beunruhigt ist das Pentagon über den Ausbau des Tiefseehafens von Gwadar in der pakistanischen Provinz Belutschistan, der am Eingang zum Persischen Golf liegt. Die US-Geheimdienste sehen die chinesische Präsenz an dieser strategisch wichtigen Küste als ernsthaftes Problem. Doch die Defence Intelligence Agency (DIA) und das Office of Naval Intelligence (ONI), wie der Geheimdienst der Marine heißt, kommen in ihren Analysen zu dem Schluss, dass China außerstande sei, die Seemacht USA herauszufordern.9
Zwar hat China parallel zu seinem Wirtschaftswachstum auch seine militärischen Kapazitäten ausgebaut und dabei zum Beispiel auch Antischiffsraketen entwickelt. Allerdings verfügt Peking nur über zwei Flugzeugträger, die denen der USA zudem weit unterlegen sind.10 In der Analyse des DIA heißt es, China wolle sich dem „regionalen Sicherheitssystem unter Führung der USA entziehen“ (wohlgemerkt in seiner eigenen Region!). Die vom Pentagon durchgespielten Szenarien sehen den Schauplatz eines potenziellen Zusammenstoßes zwischen beiden Ländern in Gewässern der chinesischen Interessenzonen.
Die Vorstellung, dass China die für seine Wirtschaft essenziellen Schifffahrtsstraßen unter seine Kontrolle bringen will, ist reine Spekulation. Es liegt allerdings im Interesse der chinesischen wie der US-Regierung, den ökonomischen und politischen Machtzuwachs Chinas zu übertreiben: Für Peking ist es eine Sache des Nationalstolzes, für Washington eine probate Rechtfertigung seiner Militärausgaben.
Das chinesische Wirtschaftswachstum hat Millionen Menschen aus der Armut geführt, zugleich aber zu wachsender Ungleichheit geführt (die inzwischen das erschreckende Niveau der USA erreicht hat). Doch das chinesische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt noch immer knapp unter dem von Weißrussland oder Thailand.
Die viel beschworene Wende hin zu einer multipolaren Welt mit mehreren Machtzentren ist noch lange nicht Realität. Die USA verfügen immer noch über 30 Prozent des globalen Reichtums. Und sie sind nach wie vor die weitaus stärkste Militärmacht und kontrollieren das internationale Energiesystem, das internationale Finanzsystem und eben auch den Seehandel. Die USA haben also auf absehbare Zeit auch die Fähigkeit, die chinesischen Häfen zu blockieren.11
Die Diskussionen über Geopolitik werden viel zu oft mit allen möglichen zweifelhaften Metaphern geführt, zu denen „die internationale Gemeinschaft“ gehört oder auch „der globale Freihandel“. Ein Begriff wie „die liberale internationale Ordnung“ ergibt nur Sinn, wenn man ihn als Synonym für die US-amerikanischen Macht- und Kapitalinteressen liest. Analysiert man die Wirkungsweise eines internationalen Systems wie des Seehandels, wird man eine andere Welt entdecken. Nämlich harte Realitäten wie die Kontrolle der Seewege, Allianzen zwischen oligopolistischen Unternehmen und nationalen Regierungen, quasi koloniale militärische Abhängigkeiten und imperiale Überwachungstechniken.
7 Siehe Tom Stevenson, „Es ging nie nur ums Öl“, LMd, Juli 2019.
8 Die US-Flotten sind nicht durchgängig nummeriert. Derzeit gibt es keine 1. Flotte.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Tom Stevenson ist Journalist in Kairo.
© LMd, Berlin