12.09.2019

Portugals prekäres Wunder

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Portugals prekäres Wunder

Die linke Regierung hat die Staatskasse saniert, aber die Bevölkerung leidet unter Wohnungsnot, Niedriglöhnen und Waldbränden

von Mickaël Correia

Tourist am Praça do Comércio in Lissabon RAFAEL MARCHANTE/reuters
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Am Morgen des 4. Juni 2019 stehen vor dem gräulichen Gebäude des Ministeriums für Infrastruktur und Wohnungen in Lissabon etwa 50 Demonstranten. Es sind Aktivisten der Initiative „Stop Despejos!“ (Stoppt Zwangsräumungen) und einige vom Rausschmiss bedrohte Familien. Gemeinsam fordern sie „Wohnraum für alle“.

Ein paar Tage zuvor hatten zehn Polizisten die Wohnung der 83-jährigen Maria Nazaré Jorge im Stadtzentrum Lissabons geräumt. „Sie hat 40 Jahre in dieser Wohnung gelebt, für 200 Euro im Monat“, berichtet Sandra P. von Stop Despejos. „Der Mietvertrag lief auf ihre Tante. Als diese vor Kurzem starb, hat der Vermieter die Gelegenheit genutzt, sie an die Luft zu setzen. Denn die Immobilienpreise im Zentrum gehen gerade durch die Decke.“

2012 änderte die Mitte-rechts-­Re­gie­rung von Pedro Passos Coelho (2011–2015) das Mietrecht zugunsten der Eigentümer. Fortan konnten sie bei Neuvermietungen eine höhere Miete verlangen und im Sanierungsfall die Mieter leichter rauswerfen. Die Staatsschuldenkrise von 2008 hatte Portugal die Luft abgeschnürt, so dass das Land 2011 in die Fänge der Troika geriet – eines Bündnisses aus Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer Zentralbank (EZB) und EU-Kommis­sion. Als Gegenleistung für ihre Finanzhilfen in Höhe von 78 Milliarden Euro verlangte die Troika eine Deregulierung des Immobilienmarkts und die Ausweitung des Tourismus.

Seitdem hat sich Lissabon bemüht, seine Attraktivität für Investoren zu steigern. Seit 2012 stellt die Regierung etwa sogenannte Goldene Visa aus: Aufenthaltstitel für Ausländer, die Immobilien im Wert von mehr als 500 000 Euro erwerben. Innerhalb von sechs Jahren flossen so 4 Milliarden Euro in den Sektor. Für europäische Rentner, die nach Portugal ziehen und dort eine Wohnung kaufen, gibt es den Status eines „nicht dauerhaften Wohnsitzes“ (residente não habitual, RNH), der mit erheblichen Steuererleichterungen verbunden ist.

Der Geograf Luís Mendes ergänzt: „Seit 2014 gibt es ein Gesetz zur Vermietung von Ferienwohnungen, etwa über Airbnb. Vermieter können 3000 Euro im Monat verdienen, wenn sie an Touristen vermieten, während sie von einem Portugiesen nur 300 Euro verlangen können.“

Mendes engagiert sich bei „Morar em Lisboa“ (Wohnen in Lissabon), einer Plattform von 40 Vereinen für das Recht auf Wohnen. „In manchen Innenstadtvierteln wird über die Hälfte aller Wohnungen per Airbnb vermietet. Gleichzeitig hat die Liberalisierung des Wohnungsmarkts dazu geführt, dass jeden Tag zwischen einer und drei Familien zwangsgeräumt werden. Selbst die Mittelklasse hat mittlerweile Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden!“

Innerhalb von zehn Jahren ist die Zahl der Ferienwohnungen um 3000 Prozent gestiegen. Seit Ende 2018 führt Lissabon die Rangliste der europäischen Städte mit den meisten Airbnb-Wohnungen pro Einwohner an, noch vor Barcelona und Paris. „In vier Jahren hat die linke Regierung kaum etwas gegen diese Finanzialisierung des Wohnungsmarkts unternommen“, sagt Mendes; also dagegen, dass der Immobilienmarkt nach der Logik des Finanzmarkts funktioniert.

Im November 2015 war der so­zia­lis­ti­sche Premierminister António Costa mit seinem Kabinett angetreten, um den von der Troika vorgeschriebenen strikten Sparkurs abzumildern. Seine Minderheitsregierung wird im Parlament vom Linksblock (Bloco de Esquerda, BE), der Kommunistischen Partei (PCP) und den Grünen gestützt, mit denen die Sozialisten jeweils separate Tolerierungsabkommen geschlossen haben; diese Konstruktion wird in Portugal auch Geringonça („Klapperkiste“) genannt.

Die Regierung wollte die Kaufkraft wieder stärken und zugleich die Staatsschulden zurückschrauben. Dazu nahm sie Pensions- und Rentenkürzungen zurück und hob den Mindestlohn Jahr für Jahr von 505 Euro bei Amtsantritt auf aktuell 700 Euro an. Auch die soziale Mindestsicherung wurde ausgeweitet.1

Aus den Fängen der Troika in die der Investoren

Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Im Juni 2017 stellte die EU das 2009 eingeleitete Defizitverfahren gegen Portugal ein. Die Arbeitslosenquote sank von 12 Prozent Ende 2015 auf aktuell 6,3 Prozent, und während das öffentliche Defizit 2015 noch 4,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen hatte, rechnet die Regierung für 2019 mit einer knappen Null – das erste Mal seit der Einführung der Demokratie 1974. Das Wirtschaftswachstum erreichte 2017 den Rekordwert von 2,8 Prozent, den höchsten seit 17 Jahren.

Von der New York Times über den Figaro Économie bis zur Financial Times, sie alle feierten das „portugiesische Wirtschaftswunder“. Und die europäische Linke applaudierte dem ungewöhnlichen Gespann unter Costa, das es schaffte, dem neoliberalen Austeritätsdogma aus Brüssel eine Absage zu erteilen.

Ihr Erfolg verschaffte den portugiesischen Sozialisten (PS) gute Wahlergebnisse bei der letzten Europawahl. Der parlamentarische Staatssekretär Duarte Cordeiro freut sich über das gute Abschneiden seiner Partei. In seinem eleganten Büro im Parlamentsgebäude erklärt er uns: „Wenige Monate vor den im Oktober anstehenden Parlamentswahlen liegen wir in den Umfragen bei 33,4 Prozent. Im Europaparlament sitzen wir jetzt mit 9 statt 8 Abgeordneten. Das ist ein Zeichen der breiten Unterstützung für die aktuelle Politik der PS und der Parteien, die die Regierung unterstützen.“

Dennoch: Mit einer Vielzahl der neoliberalen Einschnitte, die die Vorgängerregierung unternommen hatte, haben sich die Sozialisten offenbar ohne große Probleme arrangiert. „Bei den Goldenen Visa und dem Status des nicht dauerhaften Wohnsitzes (RNH) haben wir noch nichts unternommen“, gibt Cordeiro zu. „Aber wir werden darüber nachdenken, wahrscheinlich in der nächsten Legislaturperiode.“

Kann man dem Glauben schenken? Im Januar 2019 führte Premierminister Costa für Immobiliengesellschaften ein neues Modell nach dem Vorbild der Real Estate Investment Trusts ein. Anleger können nun steuerbegünstigt in Immobilien als Kapitalanlage investieren. Seit Juli 2019 bietet die Regierung außerdem jedem Portugiesen, der während der Wirtschaftskrise ausgewandert ist und jetzt zurückkehren möchte, einen Einkommensteuernachlass von 50 Prozent an, ganz ähnlich dem RNH-Modell für Ausländer.

Zwischen 2010 und 2015, auf dem Höhepunkt der Austeritätspolitik, waren 500 000 Menschen ausgewandert – 5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das Ziel dieser Maßnahme: Junge, gut verdienende Hochschulabsolventen sollen ihr Geld in Portugal anlegen. Diejenigen hingegen, die in den Krisenjahren nicht die Mittel hatten, das Land zu verlassen, gehen leer aus.

Für den Tag nach der Demonstra­tion von Stop Despejos! hat Morar em Lisboa eine Diskussionsveranstaltung organisiert. Es soll um die Maßnahmen der Stadtverwaltung zur Begrenzung der Airbnb-Wohnungen gehen. In dem kleinen gemütlichen Saal, zwei Schritte vom Fado-Museum am Fuße des Alfama-Viertels, dem alten Stadtkern Lissabons, gelegen, werden sich bis zum Einbruch der Nacht heftige Wortgefechte geliefert. Lurdes Pinheiro vom lokalen Nachbarschaftsverein schäumt: „Die Alfama wird allmählich zum Vergnügungspark. Alle städtebaulichen Maßnahmen der Verwaltung zielen nur noch auf die Touristen. Das ist eine architektonische Barbarei, die unser Kulturerbe zerstört!“

Ein paar Gassen weiter steht der Palacio Santa Helena, ein Herrenhaus aus dem 16. Jahrhundert, das die sozialistische Stadtregierung vor Kurzem an Stone Capital, eine der größten Immobiliengesellschaften der Stadt, verkauft hat. Die Brüder Arthur und Geof­froy Moreno aus Frankreich leiten das Unternehmen, sie haben den Palacio inzwischen zu Luxusapartments umgebaut. „Und auf der anderen Seite des Alfama-Hügels, in Graça, will Stone Capital noch eine Luxusresidenz errichten“, weiß Ana Jara, Architektin und oppositionelle Stadtverordnete von der PCP.

Der sozialistische Bürgermeister Fernando Medina wurde bei den Kommunalwahlen von 2017 im Amt bestätigt. Seitdem wurden große Bauprojekte nicht mehr im Stadtrat besprochen, sondern direkt vom Baustadtrat genehmigt. Dieses Amt hatte bis August 2018 Manuel Salgado inne. Zwölf Jahre war er „der Architekt einer neoliberalen Stadtplanung, deren einziges Ziel darin besteht, Lissabon in einen fruchtbaren Acker für Finanzinvestoren zu verwandeln“, meint Jara.

„Noch bis vor fünf Jahren war ein Drittel der Häuser in Lissabon abbruchreif oder stand leer, sie besaßen keinerlei gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Wert mehr“, sagt Geograf Mendes. Nachdem der Wiederaufbau der Stadt privaten Bauunternehmern übertragen wurde, wurden unter Salgados Ägide große Projekte verwirklicht.

Im Norden der Stadt regen sich die Leute über den geplanten Torre Portugália auf, einen 60 Meter hohen Turm mit Luxuswohnungen. In den einfachen Vororten auf der anderen Tejo-Seite wird „Lisbon South Bay“ als größtes Stadtsanierungsprojekt seit der Expo-Weltausstellung 1998 beworben. Dort sollen ein Kongresszentrum, ein Jachthafen und Hotels entstehen. Die Bauträger verkünden, das Vorhaben werde „Lissabons Status als Anziehungspunkt für Tourismus und Investitionen stärken“ (Público, 14. Mai 2019).

Statt allen Portugiesen ein Recht auf Stadt und Wohnen zu gewähren, werden Immobilienkäufer gehätschelt. Mit dieser Strategie will man in Lissabon der Investitionsschwäche der Regierung Costa entgegenwirken. Denn seit dem Machtantritt der Sozialisten war der Staat so knauserig wie nie seit 1974. 2018 war Portugal mit 1,97 Prozent des BIPs das Schlusslicht bei den öffentlichen Investitionen in der Eurozone.2

Der Grund dafür ist die Obsession der Regierung, die im Maastricht-Vertrag festgeschriebene Haushaltsstabilität einzuhalten. Der Wirtschaftsaufschwung wurde deshalb nicht vorrangig zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Portugiesen genutzt, sondern zum Ausgleich des Haushaltsdefizits und der Schulden, die auf 120 Prozent des BIPs geschätzt werden.

„Ein großer Teil der PS legt Wert auf gute Beziehungen zu den Banken und den europäischen Institutionen, um als Musterschüler Europas dazustehen“, sagt José Gusmão, Europaabgeordneter und Verhandlungsführer des Linksblocks. „Ihr Ziel ist die Rückzahlung der Schulden, damit wir die von Brüssel festgelegte Obergrenze erreichen: 60 Prozent des BIPs. Doch wenn wir den heutigen Tilgungsrhythmus beibehalten – was utopisch ist –, müssten wir in den nächsten zwei Jahrzehnten auf alle öffentliche Investitionen verzichten.“ Zwischen der PS und seinen Partnern auf der Linken sorgt der Tilgungsplan für die Staatsschulden für die größten Meinungsverschiedenheiten.

Für die Einhaltung der Haushaltsdisziplin ist Finanzminister Màrio Centeno zuständig, ein in Harvard ausgebildeter, liberaler Ökonomen, der seit Januar 2018 auch Vorsitzender der Euro­gruppe ist.3 Anstatt in öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge zu investieren, füllte Centeno kürzlich die Kassen der Novo Banco4 , die sich während der Krise mit riskanten Finanzspekulationen verzockt hatte, mit 1,9 Milliarden Euro Steuergeldern. Linke und Kommunisten waren erzürnt.

Die Universitäten stehen kurz vor dem Kollaps, im Gesundheitssystem fehlt es an Geld und Personal. Die staatliche Verwaltung des Schienennetzes gibt an, 60 Prozent der Strecken seien in „schlechtem“ oder „mittelmäßigem“ Zustand. Sozialwohnungen machen nur 2 Prozent des gesamten Wohnungsbestands aus.

„Derzeit wird im Parlament zwar über ein neues Rahmengesetz für Wohnungen diskutiert, aber wir wissen schon ungefähr, wie das ausgehen wird“, seufzt Rita Silva vom Verein Habita. „Trotz einiger positiver Maßnahmen gibt es keinerlei politischen Willen zu öffentlichen Investitionen im Wohnungssektor. Und António Costa hat schon vorab verkündet, dass dieses Gesetz die Liberalisierung des Immobilienmarkts nicht infrage stellen darf.“

„Durch die politische Strategie, die Brüsseler Forderungen zu erfüllen, bleibt das Land gefesselt“, analysiert der Wirtschaftswissenschaftler José Reis von der Universität Coimbra. „Es gab einen zähen Kampf um die Anhebung der unteren Einkommen bei gleichzeitiger Einhaltung der EU-Haushaltsvorschriften. Trotzdem ist das allgemeine Lohnniveau immer noch niedriger als vor der Finanzkrise. Warum? Weil sich das Wachstum unter anderem prekärer und schlecht bezahlter Arbeit verdankt.“

Hinter dem spektakulären Rückgang der Arbeitslosigkeit verbirgt sich in der Tat die Ausweitung des Niedriglohnsektors. Studien zufolge bekommen heute die Hälfte der neu angestellten Arbeitnehmer nur befristete Verträge. Die Zahl der prekär Beschäftigten ist mit 73 000 auf dem höchsten Stand seit Ankunft der Troika im Jahr 2011. Die Hälfte aller Überstunden wurde 2018 nicht vergütet. In erster Linie sind junge Menschen betroffen, von denen 65 Prozent befristet beschäftigt sind, 6 Prozent mehr als vor zehn Jahren.

„Im Arbeitsrecht sind wir kaum vorangekommen, wir haben eher Rückschritte gemacht“, analysiert Linkenpolitiker Gusmão. „Mit Unterstützung der Konservativen und der Arbeitgeber hat die Regierung prekäre Arbeitsverträge mit sehr kurzer Laufzeit, die früher nur in der Tourismusbranche zulässig waren, auch für andere Bereiche legalisiert. Kurzum: Das, was die Geringonça-Koalition durch die Aufwertung der Einkommen erreicht hat, wurde durch die Prekarisierung der Beschäftigten wieder zunichte gemacht.“

Zwischen 2009 und 2018 wuchs der Exportanteil am BIP von 27 auf 43 Prozent, ein beachtlicher Anstieg. Die portugiesischen Industriehäfen sind zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden. Ihre Wettbewerbsfähigkeit beruht jedoch auf Flexibilisierung und Lohnkürzungen. „Zum Jahreswechsel 2013 ließ die Regierung ein Gesetz zur Liberalisierung des Hafengeschäfts verabschieden, das unsere Arbeitsbedingungen verwässern sollte“, berichtet An­tó­nio Mariano, Vorsitzender der Gewerkschaft der Hafenarbeiter und der Logistikbranche (Sindicato dos Estivadores e da Actividade Logística, SEAL). „Daraufhin wurden zahlreiche Subunternehmen angeheuert.“

Im August 2018 rief SEAL zu einem Solidaritätsstreik mit den Arbeitern von Setúbal auf, wo 90 Prozent der Beschäftigten mit Tagesverträgen abgespeist werden. „Diese prekär Beschäftigten haben weder Anrecht auf Urlaub noch auf Kranken- oder Unfallversicherung. Manche werden zweimal pro Tag angeheuert, damit sie 16 Stunden hinter­ein­an­der arbeiten können“, erzählt Ma­ria­no. Setúbal liegt etwa 50 Kilometer südlich von Lissabon und ist der zen­trale Exporthafen für AutoEuropa, eine Fabrik des Volkswagen-Konzerns, die jährlich über 100 000 Fahrzeuge produziert. Auch für das Exportgeschäft von The Navigator Company, den portugiesischen Giganten der Papierindustrie, ist der Hafen von Setúbal zentral.

„Angesichts unserer Aktionen gegen diese extreme Prekarisierung hat sich die Costa-Regierung damit rausgeredet, das sei eine rein privatwirtschaftliche Angelegenheit“, berichtet der SEAL-Vorsitzende. „Aber als wir am 22. November den Hafen lahmgelegt haben, schickte der Staat die Polizei, um die Streikposten auszuschalten, damit ein Frachtschiff mit den Fahrzeugen von AutoEuropa beladen werden konnte.“

Ende 2018 erreichte SEAL mit ihrem Arbeitskampf ein Abkommen, das einen Tarifvertrag für die Beschäftigten in Setúbal vorsah. „Trotzdem blieb das Gesetz von 2013 in Kraft, obwohl wir die Ministerin für Meeresangelegenheiten und die Parlamentsausschüsse, die sich mit Arbeitsrecht befassen, immer wieder angerufen haben. Heute sind zwischen 25 und 50 Prozent aller Beschäftigten im Hafengewerbe unterbezahlte Tagelöhner“, fährt Mariano fort. „Aber die Hafenarbeiter sind nicht die Einzigen, die von dieser Prekarisierungswelle betroffen sind. Der Staat will die Produktivität steigern, indem er die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer bricht.“

200 Kilometer nördlich von Lissabon, mitten im Herzen Portugals, liegt die Ortschaft Pedrógão Grande in der Mittagshitze. Man erreicht sie nur über ein Gewirr kleiner Straßen, die durch eine weite, öde Landschaft führen. Im Juni 2017 wurden hier bei riesigen Waldbränden 30 000 Hektar Forst vernichtet, ein Fläche so groß wie München. 66 Menschen kamen dabei ums Leben. Die meisten starben auf der Flucht vor den Flammen, weil die Behörden es versäumt hatten, rechtzeitig die Hauptstraße zu sperren.

Dieser tödlichste Waldbrand in der Geschichte Portugals sorgte landesweit für Empörung. Bei der Suche nach den Ursachen wurde häufig auf den Mangel an Personal und Ausrüstung verwiesen. Die meist freiwilligen Feuerwehren sind schlecht ausgebildet, und das Kommunikationssystem der Hilfskräfte (Siresp), eine Public-private-Partnership, gilt schon seit einem Jahrzehnt als nicht funktionstüchtig.

Die Costa-Regierung geriet heftig unter Beschuss. Infolge der Sparmaßnahmen und fehlender öffentlicher Investitionen hatte sie die Forstbehörden abgeschafft, die Feuerbekämpfung aus der Luft privatisiert und den Haushalt des zuständigen Ministeriums gekürzt. Zwischen 2006 und 2016 wurde die Zahl der Förster um fast ein Drittel reduziert: absoluter Wahnsinn in einem Land, das zu 32 Prozent mit Wald bedeckt ist, von dem jedes Jahr im Schnitt 100 000 Hektar in Flammen stehen.

Der intensive Eukalyptusanbau stand ebenfalls in der Kritik. Dieser ursprünglich in Australien beheimatete Baum laugt nicht nur die Böden aus und verringert die Artenvielfalt vor Ort, sondern er ist auch besonders leicht brennbar. Trotzdem bauen ihn viele kleine Waldbesitzer seit 20 Jahren gern an, weil er keinerlei Pflege braucht und sehr schnell wächst. Sie können ihre Bäume dann als Rohstoff an die Papierindustrie verkaufen, vor allem an The Navigator Company.

„Ein Viertel der Wälder Portugals besteht heute aus Eukalyptus, es ist die häufigste Baum­art im ganzen Land“, kritisiert die Liga für Naturschutz (LPN). „Portugal hat die höchste Eukalyptusdichte der Welt. Der Baum, den der Staat einmal als unser ‚grünes Öl‘ bezeichnet hat, gilt als Wirtschaftsmotor.“

The Navigator Company ist mit 3 Prozent der Ausfuhren das drittgrößte Exportunternehmen Portugals. „Zwischen 2002 und 2004 hat die Regierung von José Manuel Barroso mit der Firma verhandelt, um deren wirtschaftliche Entwicklung zu beschleunigen“, berichtet Nádia Piazza, die bei den Bränden im Juni 2017 ihren fünfjährigen Sohn verlor und heute Vorsitzende des Vereins der Brandopfer von Pedrógão Grande ist.5

„Seitdem haben die Behörden den kleinen Waldbesitzern praktisch ohne jede Prüfung Genehmigungen zum Eukalyptusanbau erteilt. Die Forstpolitik war auf kurzfristige Gewinne ausgerichtet, und daher hat sich der Baum in den ärmsten ländlichen Gebieten sehr schnell verbreitet.“ Zum Leidwesen der Umweltschutzvereine liberalisierte die Regierung von Pedro Passos Coelho obendrein den Eukalyptusanbau auch auf Parzellen von weniger als 2 Hek­tar, die über 80 Prozent der portugiesischen Waldflächen ausmachen. Damit wurde Portugal zu „Eukalyptugal“, wie die Umweltschützer sagen.

„Pedrógão Grande ist eine der ärmsten Gemeinden im Land. Ein Drittel unser 2500 Einwohner ist älter als 65 Jahre und bekommt weniger als 300 Euro Rente im Monat“, berichtet der sozialistische Bürgermeister Valdemar Al­ves.6 „Wer auf seiner kleinen Parzelle ein paar Eukalyptusbäume anpflanzt, kann sich damit über Wasser halten.“ Die Einwohnerzahl von Pedrógão Grande ist im Verlauf der letzten 50 Jahre um die Hälfte gesunken. „Die jungen Leute gehen nach Lissabon, um Arbeit zu suchen“, klagt der Bürgermeister. „Die Landflucht führt dazu, dass Felder und Wälder nicht mehr gepflegt werden, was die Ausbreitung von Bränden erleichtert.“

Die Landschaft rund um das Dorf besteht heute aus kahlen, grauen Hügeln bis zum Horizont, hier und da schießen hohe Eukalyptussprösslinge aus dem Boden. „Die Waldbrände fördern die Vermehrung und invasive Ausdehnung dieser Art“, erläutert die LPN. Angesichts der Tragödie vom Juni 2017 und der gestiegenen Waldbrandgefahr hat die Regierung für mehr Personal vor Ort und mehr Löschflugzeuge gesorgt und das Siresp-Netz für 7 Millionen Euro zurückgekauft.

An die Spitze der Anfang 2019 neu geschaffenen Agentur für die integrierte Bewältigung von Waldbränden (Agif) berief der Premierminister jedoch ausgerechnet Tiago Martins de Oliveira, vormals Manager bei The Navigator Company. Die in diesem Jahr in Kraft getretenen regionalen Aufforstungsprogramme setzen alle auf Eukalyptus – das betrifft 95 Prozent der Waldflächen. „In den neuen Programmen erkennt man keinerlei Bemühungen, die aktuelle Situation zu verändern, alles läuft nach dem Motto ‚Business as ­usual‘ “, fasst die LPN zusammen.

Seit letztem Jahr gibt es erste Signale, dass Portugals Wirtschaftswunder die Luft ausgeht. Nach sieben Jahren ununterbrochenen Wachstums ist die Zahl der Touristen 2018 nur noch um 3,8 Prozent gestiegen, 2017 betrug der Zuwachs noch 9,1 Prozent. Im Juni warnte die Banco de Portugal vor der Möglichkeit eines „brutalen Einbruchs“ der Spekulationen auf dem Immobilienmarkt. Während das Wirtschaftswachstum 2017 noch 2,8 Prozent betragen hatte, verlangsamte es sich 2018 auf 2,1 Prozent. Für das Jahr 2019 werden nur 1,7 Prozent vorausgesagt.

Hat die Regierung von António Costa mit ihrem Versuch, Sozialpolitik und Haushaltsdisziplin zu verbinden, statt eines Wirtschaftswunders eine Fata Morgana geschaffen? „Die Geringonça-Koalition war ein politisches Experiment, ein neuer Versuch von links“, meint der Ökonom José Reis. „Aber vor den Wahlen im Oktober stellt sich die Frage: Kann es so weitergehen?“

1 Siehe Gwenaëlle Lenoir und Marie-Line Darcy, „Portugal atmet wieder“, LMd, November 2017.

2 „Veille économique et financière n° 30“, Generaldirektion des französischen Schatzamts, Paris, 3. Mai 2019.

3 Monatliches Treffen der Finanzminister der Eurozone.

4 Novo Banco ist die drittgrößte Bank des Landes, sie entstand 2014 durch die Rettung und Aufspaltung der Banco Espirito Santo und wurde vom portugiesischen Staat bereits damals mit einer Finanzspritze von 4,4 Milliarden Euro unterstützt.

5 Piazza wurde 2018 in eine Arbeitsgruppe der rechtskonservativen CDS-PP (Demokratisches und Soziales Zentrum – Volkspartei) eingeladen, die das Wahlprogramm der Partei erarbeiten sollte.

6 Alves steht derzeit wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung bei den Waldbränden im Juni 2017 und wegen des Verdachts auf Unterschlagung von Geldern aus dem Wiederaufbaufonds vor Gericht.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Mickaël Correia ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 12.09.2019, von Mickaël Correia