13.06.2019

Die zwei Sieger der Europawahl

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Die zwei Sieger der Europawahl

von Ivan Krastev

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Shakespeares Edgar in „King Lear“ hatte recht: „Das Schlimmste fehlt noch, / So lang’ man sagen kann: Dies ist das Schlimmste.“1 Die Wahlen vom 26. Mai 2019 waren ein Wendepunkt, aber Europa hat sich nicht gewendet.

Trotz der Angst vor einem Aufschwung des rechten Populismus hat eine Mehrheit der Wähler überall auf dem Kontinent bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Parteien gestimmt, die für die Union eintreten. Zwar bringen es die beiden wichtigsten Blöcke – die rechte und die linke Mitte – nicht mehr zu einer gemeinsamen Mehrheit, aber sie werden das ­Parlament mit seinen 751 Sitzen auch weiterhin dominieren. Das Zentrum hat sich behauptet – zumindest vorerst.

Doch die gegen Brüssel angetretenen nationalistischen Rechtsaußenparteien, zu denen Marine Le Pens Rassemblement National (RN) und Matteo Salvinis Lega gehören und denen ­Steve Bannon gute Ratschläge erteilt hat, konnten erheblich an Boden gewinnen. Diese Parteien werden zusammen mit anderen EU-skeptischen Abgeordneten nahezu ein Viertel aller Sitze im neuen EU-Parlament besetzen.

Diese EU-Skeptiker kontrollieren in einigen Ländern auch die Regierungen oder haben in diesen wenigstens einen starken Einfluss. Die extreme Rechte dominiert zwar noch nicht Europa, aber inzwischen müsste allen aufgegangen sein, dass diese Bewegung so schnell nicht wieder verschwinden wird. Von den fünf nationalen Parteien, die im neuen EU-Parlament die größte Abordnung stellen, sind vier gegen die Europäische Union.

Vor nicht allzu langer Zeit sahen viele Mainstream-Politiker und Mediengurus in der extremen Rechten nicht viel mehr als eine Protestbewegung: Bei europäischen Wahlen stimmten gewisse Leute eben gegen das Establishment, um ihren Unwillen zu äußern, aber keiner der Protestwähler wollte tatsächlich, dass diese Parteien Regierungsmacht in die Hand bekommen. Diese rechten Parteien machten nicht ernsthaft Politik, sie spielten nur Politik.

Heute kommen wir nicht umhin zuzugeben, dass die populistische extreme Rechte dabei ist, zu einem dauerhaften Phänomen der europäischen Politik zu werden. Diese neue Rechte schickt sich an, das politische System in vielen EU-Mitgliedstaaten zu verändert. Dieser Trend artikuliert sich am klarsten in dem schockierenden Erfolg der nationalistischen Parteien bei den letzten Parlamentswahlen in Belgien (die mit den Europawahlen zusammenfielen).

Zum Führer dieser Bewegung wurde Lega-Chef Salvini gekürt; oder genauer: Er hat sich selbst dazu ernannt (siehe den Beitrag auf Seite 12f.). Während des Wahlkampfs traf er sich mit Nationalisten seines Schlages aus ganz Europa. Eine Woche vor den Wahlen organisierte er eine Großkundgebung in Mailand, auf der er – mit Marine Le Pen, AfD-Chef Jörg Meuthen und dem Niederländer Geert Wilders2 an der Seite – die „Europäische Allianz der Völker und Nationen” proklamierte. Jetzt träumt er davon, im neuen Parlament einen festen Stimmenblock aufzubauen, um entscheidenden Einfluss auf die parlamentarische Agenda des Legisla­tiv­organs der EU zu nehmen.

Salvinis Plan wird wahrscheinlich scheitern. Nationalisten sind bekanntlich nicht besonders gut in Sachen Kooperation und Kompromiss, und in vielen Fragen sind sie gespalten, vor allem in ihrer Haltung zu Russland. Dennoch ist diese neue Allianz eine Kraft, mit der man rechnen muss.

Allerdings macht sich offenbar keine dieser Parteien mehr für den Austritt aus der Europäische Union oder aus der Eurozone stark. Vielmehr wollen sie einen „Wandel von innen“ durchsetzen. Wenn die Rechtsextremen ein Drittel des Europäischen Parlaments mobilisieren können, indem sie mit anderen Konservativen gemeinsame Sache machen – oder auch mit Anti-Establishment-Parteien auf der äußersten Linken –, werden sie ­eine Menge Schaden anrichten können.

Zum Beispiel, indem sie jeden Versuch der Kommission blockieren, Sanktionen gegen ein EU-Mitgliedsland zu verhängen, das die Prinzi­pien des Rechtsstaats verletzt. Im vorigen Jahr hat das Parlament eine solche Warnung gegenüber Ungarn ausgesprochen. Wäre so etwas auch noch im nächsten Jahr möglich? Es ist durchaus vorstellbar, dass die EU eine ­Union wird, in der rechtsstaatlich-liberale und illiberale Demokratien vertreten sind.

Das eigentliche Problem ist der EU-Pessimismus

Die neue Stärke der Rechtsextremen nährt sich nicht nur aus den gewonnenen Wählerstimmen. Sie rührt auch daher, dass die Grenze zwischen dem politischen Mainstream und dem rechtsextremen Lager mittlerweile die in Europa am schwächsten bewachte Grenze ist. Die Hoffnung, diese Rechtsaußenparteien im nächsten Parlament völlig isolieren zu können, wird sich als Wunschdenken erweisen. Man denke nur daran, dass ein Politiker wie Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, der noch immer nominell der konservativen EVP-Fraktion angehört, im Grunde seines Herzens mit den Salvini-Leuten sympathisiert.

Aber zum Glück sind die euroskeptischen Nationalisten nicht die einzige neue Kraft im Europäischen Parlament. Die Überraschungssieger dieser Wahl waren progressive und grüne Parteien, die insgesamt 60 Sitze dazugewonnen haben. Damit verfügen sie über 176 Sitze, die einen erheblichen politischen Einfluss bedeuten. Und so kann man durchaus erwarten, dass die Grünen mit diesem Wahlergebnis im Rücken die Forderung aufstellen werden, dass das Thema Klimawandel für Europa die höchste politische Priorität erlangt.

Besonders großen Rückhalt fanden die Grünen in der jungen Generation. Ungefähr ein Drittel der unter 30-Jährigen, die in West- und Nordeuropa leben, haben für grüne Parteien gestimmt. Dabei handelt es sich vorwiegend um proeuropäische Städter, die der Idee eines Vereinten Europa anhängen, aber die Europäische ­Union, wie sie heute besteht, durchaus kritisch sehen. In den Augen dieser jungen Wählerinnen und Wähler sind die Brüsseler Institutionen bei Fragen wie der wachsenden sozialen Ungleichheit und der bedrohten Umwelt risikoscheu und pflichtvergessen. Viele der jungen Aktivisten wollen ihre Sache daher eher auf die Straße tragen als in die Wahlurnen werfen.

Wir haben es also mit zwei Siegern zu tun. Progressive Grüne, die auf diesem Planeten das Leben an sich bewahren wollen, und national denkende Populisten, die ihre spezifische Lebensweise bewahren wollen. Die Populisten hassen die EU für das, was sie tut; die Grünen kritisieren die EU vor allem für das, was sie nicht tut: für den Mangel an Mut im Kampf gegen den Klimawandel oder bei der Kontrolle der Techgiganten.

Was die Grünen und die Populisten gemeinsam haben, ist das Gefühl, dass die Richtung, in die sich Politik und Gesellschaft bewegen, die falsche ist. Beide haben die Formel „Wandel“ im Angebot, während die Nachfrage nach Wandel wächst. Und das vor allem bei den jüngeren Wählern. Aber was die Werte und Visionen für Europa betrifft, so repräsentieren sie aktuell die beiden Pole der europäischen Politik. Die Populisten sehnen sich nach dem Nationalstaat zurück, die grünen und progressiven Kräfte sind kosmopolitisch – im Vergleich nicht nur mit den Populisten, sondern auch mit den Mainstream-Parteien.

Kurz vor den Europawahlen wurden die Ergebnisse einer Umfrage des European Council of Foreign Relations bekannt. Der zentrale Befund war ambivalent: Einerseits ist das Vertrauen in die Europäische Union insgesamt größer als je zuvor in den letzten 25 Jahren. Andererseits glaubt eine Mehrheit der EU-Bevölkerung, dass die Union innerhalb der nächsten 20 Jahre auseinanderfallen wird.3

Fürs Erste müssen die Befürworter der EU also nicht in Panik verfallen. Die Wahlen haben gezeigt, dass die Prophezeiungen eines Steve Bannon reines Wunschdenken waren. Die Revolution an den Wahlurnen hat nicht stattgefunden; die rechtsextremen Nationalisten werden die Union in absehbarer Zeit nicht zerschlagen. Aber dass das Anwachsen der EU-Skepsis bei diesen Wahlen aufgehalten werden konnte, bringt das eigentliche Pro­blem nicht zum Verschwinden. Und das ist der EU-Pessimismus.

Die Europäische Union hat Gesellschaften zusammengeführt, die Angst vor der Vergangenheit hatten und die verhindern wollten, dass sich diese wiederholt. Aber die große Herausforderung der Union ist jetzt eine andere: Obwohl die meisten Bürgerinnen und Bürger in Europa heute für den Wandel sind, glaubt zugleich eine Mehrheit der Bevölkerung, dass das Leben gestern besser war. Sie haben Angst vor der Zukunft.

1 „König Lear“, 4. Aufzug, 1. Szene, in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel.

2 Wilders verkündete in Mailand die Parole „Keine Migration, basta Islam!“ und erklärte: „Europa braucht mehr Salvinis.“

3 Die Ergebnisse der RCFR-Umfrage unter: www.ecfr.eu/publications/summary/what_europeans_really_feel_the_battle_for_the_political_system_eu_election.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Ivan Krastev leitet das Zentrum für Liberale Strategien in Sofia und ist Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.06.2019, von Ivan Krastev