13.09.2018

Wie Zentraleuropa auf den Orbán kam

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Wie Zentraleuropa auf den Orbán kam

von Ivan Krastev

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Neulich sah ich in einer Ausstellung des bulgarischen Konzeptkünstlers Luchezar Boyadjiev die perfekte Visualisierung dessen, was wir noch zu Beginn dieses Jahrhunderts für die fortschrittlich liberale Version der europäischen Geschichte gehalten haben. In seiner Bilderserie „On Vacation“ präsentiert Boyadjiev unter anderem das berühmte Reiterdenkmal Friedrichs des Großen, das Unter den Linden in Berlin steht – nur dass auf dem Pferderücken der König fehlt.

Mit der Entfernung des Reiters hat der Künstler das Denkmal eines Nationalhelden in das Denkmal eines Pferds verwandelt. Und zugleich all die schwierigen Fragen an die Vergangenheit abgeräumt, die sich an solchen bedeutenden, aber moralisch umstrittenen historischen Gestalten festmachen.

Die Pferde-Serie von Boyadjiev hat für mich eine doppelte Ironie. Sie trifft auf der einen Seite Leute, für die Geschichte nicht mehr ist als ihr nationaler Führer zu Pferde; auf der anderen Seite diejenigen, die davon träumen, dass man Geschichte umschreiben kann, indem man einfach den König weglässt.

Allerdings gibt es etwas, was Boyadjiev wohl nicht bedacht hat: Wenn man die historischen Helden vom Pferd holt, könnten einige der politischen Führer von heute den Entschluss fassen, sich selbst in den Sattel zu schwingen.

Der Aufstieg des Nationalismus in Europa ist schwindelerregend. Im Osten wie im Westen des alten Kontinents gewinnen die Nationalisten eine Wahl nach der anderen. Ungarns Regierungschef Viktor Orbán wie Italiens Innenminister Matteo Salvini sprechen von einer „historischen Wende“. Es wird wieder über Grenzen und territoriale Ansprüche geredet. In Chemnitz marschieren Neonazis auf.

Wenn heute in Europa die Angst vor einem erneuten Aufstieg des Natio­nalismus umgeht, ist dies jedoch in gewisser Hinsicht paradox. Etliche soziologische Studien belegen, dass nationalistische und fremdenfeindliche Einstellungen über die letzten zwanzig Jahre ziemlich konstant geblieben sind. Selbst in den „liberalen“ 1990er Jahren empfanden viele Menschen bei der Vorstellung, dass sich Ausländer in ihrem Land niederlassen, ein deutliches Missbehagen. Und ihr Begriff von Solidarität galt nur innerhalb von national und ethnisch definierten Grenzen.

Die entscheidende Frage ist also nicht, wo der Nationalismus unserer Tage herkommt. Sie lautet vielmehr, wo er sich all die Jahre zuvor versteckt hat. Was hat es mit dem Ethnonationalismus auf sich, der die Wähler seit einiger Zeit mobilisiert, während er sie früher nicht angesprochen hat? Reicht es hin, auf die Auswirkungen der Finanzkrise in den Jahren nach 2008 zu verweisen? Auf den zusätzlichen Schock, den die Flüchtlingskrise ausgelöst hat? Oder gibt es eine andere, weniger offensichtliche Erklärung?

Barack Obama hat sich, als er das Weiße Haus Donald Trump überlassen musste, nicht etwa die Frage gestellt: „Was haben wir falsch gemacht?“ Nach Auskunft seines engsten Mitarbeiters Ben Rhodes fragte er stattdessen: „Haben wir uns womöglich geirrt?“ Haben wir vielleicht nicht verstanden, was sich in der Gesellschaft abspielt? Dieselbe Frage stellt sich für die progressiven Kräfte in Osteuropa, die über den Nationalismus in ihren Gesellschaften rätseln.

Die politische Hegemonie der Rechten in Ländern wie Polen und Ungarn ist das direkte Ergebnis eines Vakuums, das in den 1990er Jahren aufgrund der Kluft zwischen Liberalismus und Na­tio­na­lismus entstanden ist.

In Zentraleuropa waren die nationalistischen und die liberalen Kräfte so lange Verbündete, wie sie das gemeinsame Ziel verband, den Realsozialismus zu beseitigen. Der Nationalismus von 1989 war entschieden antisowjetisch und der Appell an das Nationalgefühl vermochte die Menschen gegen die kommunistischen Regime zu mobilisieren. Solidarność in Polen war keine liberale Bewegung, sondern eine Koalition aus sozialen und nationalistischen Kräften, die für die Werte der liberalen Demokratie eintraten.

Dieses Bündnis zwischen Nationalisten und Liberalen ging im Laufe des Jugoslawienkriegs zu Bruch. Die gewaltsame Aufspaltung dieses Landes war für das liberale Lager der Beweis, dass der Nationalismus das eigentliche Herz der Finsternis war und jeder Flirt mit Nationalisten eine politische Sünde.

Die Ereignisse der 1990er Jahre brachten die Nationalisten vorübergehend zum Schweigen oder machten ihre Stimme zumindest weniger hörbar. Slobodan Milošević, ein ehemaliger Kommunist, wurde zum Symbol des neuen aggressiven und ethnisch definierten Nationalismus in der Post-1989-Ära. Da sich niemand dasselbe Etikett zulegen wollte, schlugen die nationalistischen Politiker in Mittel- und Osteuropa – zumeist gestandene Antikommunisten – mildere Töne an. Auf das Label „Na­tio­na­list“ verzichteten sie unter diesen Umständen lieber.

Eine ungewollte Folge des Jugoslawienkriegs war also, dass viele Liberale nicht mehr über den Nationalismus und die Ursachen seiner Anziehungskraft nachdachten. Stattdessen meinten sie, als Proeuropäer seien sie automatisch schon Antinationalisten. In den 1990er Jahren waren viele Liberale in den postkommunistischen Ländern eifrig bemüht, den Beitritt zur Euro­päi­schen Union als das höchste nationale Ziel darzustellen.

Als dann aber der Beitritt zur EU geschafft war, überließen sie die na­tio­nalistische Symbolik allein den anti­euro­päischen Populisten. Das kam die liberalen Parteien teuer zu stehen. Sie verloren viele Wähler, weil sie mangels nationaler Motive nur noch auf den Erfolg der ökonomischen Reformen setzen konnten.

In der Folge sahen die Menschen im Liberalismus europäischen Stils nicht mehr die Erfüllung ihrer nationalen Aspirationen, sondern nur noch ein unwürdiges Nachahmen. Sie empfanden sich zunehmend als Nationen-Imitate.

Bei alledem spielte das Vorbild Deutschland eine nicht unerhebliche Rolle. Die liberalen Kräfte in Zentral- und Osteuropa forderten eine gesellschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit – am besten auf dieselbe Weise wie es Deutschland vorgemacht hatte. Aber war es nach 1989 eine realistische Erwartung, dass alle wie die Deutschen werden sollten?

Deren Nachkriegsdemokratie basierte – jedenfalls seit den 1960er Jahren – auf der Prämisse, dass Nationalismus unweigerlich zum Nazismus führt. Deshalb wurde jeder Ausdruck eines ethnisch definierten Nationalismus quasi als kriminell angesehen. Selbst die deutsche Fahne, die sich Fußballfans ans Auto hefteten, erschien suspekt. Angesichts der Nazivergangenheit, mit der sich die Deutschen aus­ein­andersetzen mussten, ist diese radikal anti­nationale Einstellung nur allzu verständlich. Aber der Versuch, so etwas auf die Länder Zentraleuropas zu übertragen, musste zum gegenteiligen Ergebnis führen.

Warum? Die zentral- und osteuropäischen Staaten entstanden im Zeitalter des Nationalismus, das auf die Auflösung der großen Reiche folgte. Aber die Nationalisten Zentraleuropas hatten 1989 ein völlig anderes Selbstgefühl als die deutschen Nationalisten 45 Jahre zuvor: Sie waren aus ihrem Krieg, aus dem Kalten Krieg, nicht als Verlierer, sondern als Gewinner hervorgegangen. Wie sollten sie also „deutsch werden“? Den meisten Polen musste es absurd vorkommen, die Verehrung ihrer na­tio­na­listisch gesinnten politischen Führer aufzugeben, die ihr Leben für die Verteidigung Polens gegen Hitler oder Stalin eingesetzt hatten.

Heute sehen wir, wohin das führt. Im 19. Jahrhundert und dann erneut in den 1970er und 1980er Jahren konnten sich Liberale und Nationalisten auf eine gemeinsame Linie einigen, die auf sozialer und politischer Inklusion und einer Kultur bürgerlicher Grundrechte beruhte, zugleich aber einen tief empfundenen Nationalstolz mit einschloss.

Dagegen ist der zentraleuropäische Nationalismus von heute auf eine ethnonationalistische Sicht verengt, die sich aus demografischen Ängsten speist, aber auch aus der Ungewissheit über die sich wandelnde Rolle Europas in der Welt. Populistische Regime wollen – nicht nur in Zentraleuropa – die Republik der Bürger in eine Republik der Fans verwandeln: Bürger stehen loyal zu Ideen und Institutionen, zugleich aber kritisch zu ihren Politikern; Fans stehen nur auf Symbolpolitik.

In Zentraleuropa erleben wir den Aufstieg der verunsicherten Mehrheit zum politischen Hauptakteur. Hier fühlen sich die Menschen weniger durch Migranten bedroht – die ja gar nicht in ihren Ländern leben wollen – als vielmehr durch das Vakuum, das die massenhafte Emigration der letzten zehn Jahre hinterlassen und ein Gefühl kollektiven Verlusts erzeugt hat.

Das verweist auf den Unterschied zwischen der nationalistischen Mobilisierung im Westen und im Osten. Im Westen wollen die Nationalisten keinen einzigen Fremden reinlassen. Im Osten wollen sie, dass niemand wegzieht und einige der Ausgewanderten zurückkommen.

Nach 2000 hofften viele Liberale, den Nationalismus auf dieselbe Weise besiegen zu können, wie sie den Realsozialismus besiegt hatten. Heute ist diese Hoffnung vergebens. In einer Demokratie kann man den Nationalismus nicht einfach beseitigen. Aber man kann nationalistische Gefühle auffangen und umformen. Nur wenn man dies erkennt, kann man dem wachsenden Einfluss der Nationalisten entgegentreten.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Ivan Krastev leitet das Zentrum für Liberale Strategien in Sofia und ist Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.09.2018, von Ivan Krastev