07.06.2018

Rette sich, wer kann

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Rette sich, wer kann

Über Comic und Film im Kapitalismus

von Georg Seeßlen

Harf Zimmermann, Brandwand # 42, Berlin 2010, C-Print, 137 x 170 cm
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Am 5. Mai 1895 erschien in der Sunday World – der Beilage der von Joseph Pulitzer herausgegebenen New York World – ein Bildstreifen über einen rotzfrechen Straßenjungen, den der Zeichner Richard Felton Outcault nur mit einem Nachthemd bekleidet in der Stadt herumstreunen ließ. Nach dem Ort, an dem sich sein anarchischer Held herumtrieb, nannte Outcault seine Bilderserie „Hogan’s Alley“ (Hogans Gasse). Seinen Namen verdankte der erste Comicheld dem neuen Farbverfahren, das Pulitzer ausprobierte und das die Zeichnungen in einem hellen Gelb erstrahlen ließ: „The Yellow Kid“.

Am 10. Juni des Jahres 1895 führten die Brüder Auguste und Louis Lumière im Börsensaal zu Lyon eine Vorrichtung vor, mit der man fotografische Bilder in Bewegung aufnehmen und projizieren konnte. Sie nannten diesen Apparat „Cinématographe“ und zeigten damit in den nächsten Monaten in Paris vor zahlendem Publikum Filme wie „Arbeiter verlassen die Fabrik Lumière“ oder „Der begossene Rasensprenger“.

The Yellow Kid war die erste Kultfigur des Comic. Sie wurde eingesetzt zum Verkauf von Keksen und Zigaretten, vor allem aber benutzte Pulitzer den ebenso vulgären wie populären kleinen Proletarier für seine eigene Zeitung. The Yellow Kid bekam ein eigenes Brettspiel und ein Musical wurde ihm gewidmet. Zugleich zeigten sich brave Bürger empört über den rüden Jargon und verlangten ein Verbot, nicht nur der Figur, sondern gleich der ganzen Erzählweise.

Zu dem Zeitpunkt hatten jedoch auch Pulitzers Konkurrenten bereits die Idee aufgegriffen, mit Bildergeschichten aus den Slums neue Leser zu erschließen. Auf „Hogan’s Alley“ folgte „McFadden’s Flats“, und mit „The Kalsomine Family“ kam die erste afroamerikanische Familie zu ihrem Comicrecht. Ein neues Format hatte das Publikum erobert, von den Ghettokids bis zu den Uptownbürgern, von den harten Metropolen bis in die verschlafenen Provinzen. Es war eine topografische wie eine soziale Wanderung: Wie das Kino musste auch dieses Medium den Weg aus den Ghettos der Einwanderer in die Mitte anständiger Bürgerlichkeit finden.

Das ist die Linie von Yellow Kid über Mickey Mouse zu Superman. Heute sind Comics großenteils Kunst, und nur wenig erinnert noch an die proletarischen Ursprünge und gar an die Kultur einer Einwanderergesellschaft, deren Mitglieder sich nur rudimentär einer gemeinsamen Sprache bedienen, weshalb Comics von Anbeginn an ein ebenso bildmächtiges wie sprachschöpferisches Medium sind.

Comics und Film bilden – als drittes Element könnten wir bald darauf das Radio und die Musik und ihre Tonträger nennen – das Fundament der populären Kultur für die westlichen Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts. Zu ihrem Wesen gehört die industrielle Distribution, die Anbindung an einen Massenmarkt, die mediale Polyphonie (immer schon gehören Marketing, Merchandising, Wettbewerb und Zweitverwertung zur Funktion der visuellen Popkultur), die semantische Offenheit (weitgefasste Genres wie Funny, Adventure, Superheroes oder Western, Science Fiction, Horror, Melodrama, Crime und so weiter ersetzen die klassischen „Gattungen“ und laden schon früh zum Crossover ein), die Offenheit nicht nur für ökonomische, sondern auch für politische Interessen sowie die anarchisch-kapitalistische Produktion.

Lange Zeit sind die großen Autoren im Comicmetier, bis hin zu ausgewiesenen Künstlern wie dem Disneyzeichner Carl Barks, anonyme Zulieferer, mit denen die Inhaber der Zeitungen, Agenturen, Studios und Verlage mehr oder weniger machen können, was sie wollen. Auch das Kino raubt seinen primären Produzenten und auch den Stars zunächst die Würde der Autorenschaft. In beiden Medien wird gestohlen, gefälscht und imitiert, auf rasante Aufstiege folgen ebenso rasante Abstürze, und eine gesellschaftliche Kontrolle dieser neuen ökonomisch-ästhetischen Energie tut sich schwer: Bis zur gewerkschaftlichen Organisation der primären Produzenten ist der Weg ebenso weit wie der zu einer Kontrollpraxis jenseits von Zensur.

Die „Wildheit“ beider Medien, die eben immer eine ästhetische und eine politisch-ökonomische Seite hat, erscheint von heute aus gesehen wie ein Paradies der Vielfalt und der Kreativität. Es entstehen zwei Bildorte für das kollektive Unterbewusstsein, in das anfänglich nur die Marktkräfte und eine aufgeschreckte, bürgerlich-gute Gesellschaft hineinregieren, ohne die Explosion der neuen Ideen und Formen wirklich bändigen zu können. Seufz!

Im Zeitungskrieg zwischen Pulitzer und Randolph Hearst verlor das neue Medium seine politische Unschuld. So ließen sich etwa Yellow Kid und seine Kollegen für die Propaganda zum Spanisch-Amerikanischen Krieg einspannen. Dasselbe geschah mit dem anderen neuen Medium. „Tearing Down the Spanish Flag“ war 1898 einer der ersten amerikanischen Filme überhaupt, und er löste neben der Begeisterung für die bewegten Bilder einen patriotischen Rausch aus.

Comic und Film entstanden aus einer verrückten Mischung von anarchischer Infantilität, sozialem Realismus und militaristisch-politischer Propaganda. Von dieser Mischung haben sie sich nie ganz verabschiedet. Sie haben eine verwandte Art, mit Zeit und mit Raum umzugehen, aber auch mit Körpern. Was uns in Filmen von Leni Riefenstahl und in Skulpturen des faschistischen Bildhauers Arno Breker begegnet, finden wir auch in US-Comics wie „Flash Gordon“ oder „Tarzan“, nämlich eine Monumentalisierung des sowohl heroischen als auch politischen Körpers.

Am Anfang des Jahrhunderts kehrten beide Medien noch einmal zu ihrer zivilen Gestalt zurück. Seit 1907 hatten die meisten US-Zeitungen tägliche Comics, und seit 1912 erschien kaum noch eine ohne eine tägliche ganze Comicseite. Neben den Reihen um die erfindungsreichen Kids (die amerikanischen Nachfahren von Max und Moritz, die „Katzenjammer Kids“, sind fester Bestandteil des Kanons) wurden nun Tierserien beliebt. An die Seite des „rauen“ Stils der Frühzeit traten Meisterstücke der detailreichen Bildgestaltung wie Winsor McCays „Little Nemo“ oder die Comics von Lionel Feininger. Es schien beinahe alles möglich.

Dem rauen Stil der frühen Comics entsprachen am ehesten die Slapstickfilme (Charlie Chaplin, „Our Gang“ oder Harry Langdon), während Buster Keaton schon früh eine elaboriertere Poetologie ansteuerte. Die Bildträume entwickelten sich dagegen in Melodramen und „Monumentalfilmen“. So traumhaft ornamental und kompositorisch wie Winsor McCay in seinen „Little Nemo“-Strips arbeitete auf der anderen Seite des Atlantik ein Erich von Stroheim, der darauf bestehen konnte, in seiner Kunstwelt Kirschbäume mit echten Kirschblüten zu drapieren. In Europa eroberte das Kino ein bürgerliches Publikum, indem es sich mit den Namen berühmter Literaten schmückte. Um ihre Märkte zu erweitern, mussten sich beide Medien ausdifferenzieren. Und sich – irgendwie – „beruhigen“.

Die frühen Comics wurden unter anderem durch die syndication gezähmt, die den Zeichnern/Autoren ihre schäbige Freiheit nahm und auf eine erste Welle der moralischen Reaktion in den USA reagierte. Auch die Zeichentrickfilme trugen ihren Teil zur Zähmung der Comics bei, nicht nur, weil hier die besondere Sprachpoesie zurückgedrängt wurde, sondern auch, weil der Film eine Aktion-Reaktion-Dramaturgie verlangte, die es im Comic zuvor nicht geben musste. Mit der syndication, der Bindung der Autoren an Agenturen als Filter- und Zensurinstanz, ging die erste, die wilde Epoche der Comics zu Ende. Und mit der Einführung des Tonfilms die erste, die wilde Epoche des Kinos.

Prügel für Donald Duck

Dass die Erzählweisen von Comic und Film ein­an­der verwandt sind, ist immer wieder betont worden. Scott McCloud, der große ‚Sprachlehrer‘ der Comics, bezeichnet den Film in seiner Urform der „Bildstreifen“ denn auch als einen „sehr langsamen Comic“. In beiden Fällen handelt es sich um Bewegungsbilder, das heißt um Bilder von Bewegungen und Bilder in Bewegung, also um Bilder, die ihren Sinn durch vorangehende oder nachfolgende Bilder erhalten, um Bilder, die auf die Abfolge von Aktionen und Reaktionen bezogen sind.

Im Comic wie im Film haben Bilder Eigenschaften des Textes, während auf der anderen Seite, zumal im Comic, Texte Eigenschaften von Bildern haben. (Ganz direkt: Felix the Cat fragt sich, wie er an eine Fischmahlzeit kommen kann, also erscheint ein Fragezeichen über seinem Kopf, und dieses Fragezeichen dient dem großäugigen Kater im nächsten Bild als Angelhaken.) Comic­lesen und Filmesehen, was auch Comicsehen und Filmelesen umfasst, sind neue Kulturtechniken für das 20. Jahrhundert.

Eine vielleicht nicht allzu verwegene These: Die kapitalistisch-demokratische Moderne benötigt noch vor den Inhalten die Wahrnehmungstechniken von Comic und von Film zur Einübung der notwendigen Dynamik. Comics und Filme entsprechen nicht nur der zweiten Industrialisierung, dem Fordismus, sie schaffen auch eine ästhetische Grundlage dafür. Donald Duck und Laurel & Hardy bekommen nicht nur Prügel, wie Theodor W. Adorno missmutig anmerkt, damit sich das Publikum an die eigene Prügel gewöhnt, sie lernen auch, sich im Tempo der neuen Zeit zu bewegen, oder zeigen, wie man dabei scheitern kann, um sogleich wieder aufzustehen und weiterzumachen.

Comics und Filme waren auch deshalb so notwendig, weil sich die bürgerliche Kunst der technischen und ökonomischen Modernisierung der Lebenswelt weitgehend entzog. Sie erstarrte, zum Beispiel in der Abstraktion, auf grandiose Weise, sie löste sich von Konventionen und Traditionen, aber der Teil von ihr, der den Blick auf Fabriken und Maschinen, auf Verkehr und Massen, auf Kaufhäuser und Straßenszenen, auf Proleta­riat und Entwurzelte richtete, wurde vom klassischen bürgerlichen Publikum hochnäsig abgewertet.

Slapstick und Kid-Comics vermittelten dagegen nicht nur das „neue Tempo“, einschließlich der neuen Überlebenskämpfe, sondern machten auch Menschen und Verhältnisse sichtbar, die in der bürgerlichen Ästhetik und ihrer politischen Praxis unsichtbar gemacht worden waren. Sie gewöhnten ihre Adressaten an Geschwindigkeit, aber auch an Gleichklang und Wiederholung.

Die meisten Comics entfalten sich in einem Raum zwischen Epos und Episode. Sie „erzählen“ etwas, das zugleich aus lauter Wiederholungen besteht und seinerseits Teil einer endlosen Wiederholung ist. „Erwachsen“ können Filme wie Comics nur werden, indem sie sich entweder dieser Wiederholungen gewahr werden oder das Prinzip durchbrechen, wie in der „Graphic Novel“, die von einer abgeschlossenen und in sich sinnvollen Erzählung ausgeht. Sie entgehen neuerdings der Falle des bewegten Stillstands, indem sie sich mit weiteren Erzählformen wie Reportage, (Auto-)Biografie oder Essay verbinden.

Anders als der Film gibt der Comic die Dauer der Aufmerksamkeit beim Lesen nicht vor. Er ermächtigt seine Adressaten, wo der Film sie überwältigt; aber der Comic fokussiert auch, wo das Filmbild sich weitet. Riskieren wir also eine zweite, nicht gar so verwegene These: Der demokratische Kapitalismus benötigte als Schule des Sehens beide Medien zu seiner Entfaltung. Denn es geht in beiden sowohl um die Bildung des Subjekts wie die Bildung des Kollektivs. Comics und Filme sind Kinder von Demokratie und Kapitalismus und reagieren auf das Funktionieren dieser Einheit so sehr wie auf ihre Krisen.

Der Übergang von den karikaturhaften Funnies zu den naturalistischen Comics vollzog sich mit der Ausweitung der Leserschaft und der Auswertung der Verwertungsmedien im Verlauf der 1930er Jahre. Ein erstes Transformationsfeld war der Crime-Sektor. Der Zeichner Chester Gould hatte etwa festgestellt, dass den Gangstern im Kino, Edward G. Robinson als Little Cesar, Paul Muni als Scarface und James Cagney als The Public Enemy nichts Vergleichbares im Comic gegenüberstand. So ließ er sie in seinen Hard Boiled Comics um Dick Tracy Revue passieren. Der Strip um den hartgesottenen Detektiv wurde zum mehr oder weniger realistischen Abbild von Verbrechen und den Methoden zu ihrer Bekämpfung. Da­shiell Hammett wurde engagiert, um die neue Serie von Alex Raymond, „Secret Agent X-9“, zu texten.

Raymond verwendete übrigens für die schönen Frauen seiner Serie als Vorbilder bekannte Kinostars. Die Lil’ de Vrille aus „Jungle Jim“ ist eine genaue Replik der Marlene Dietrich aus Josef von Sternbergs Film „Shanghai Express“. Auch später dienten immer wieder Filmstars als Vorbilder für Comichelden: Jean-Paul Belmondo war Modell für den Western „Blueberry“, Bruno Ganz lieh seine Züge dem desillusionierten Helden „Alexander Nikopol“ von Enki Bilal, der im Paris des 21. Jahrhundert in die Machtkämpfe von Menschen und Göttern verwickelt wird.

In den 30er und frühen 40er Jahren erlebten Hollywoodfilm und Comic das, was man im Rückblick das „Golden Age“ nennt. Wesentlichen Anteil an diesem goldenen Zeitalter des visuellen Pop haben die Konsolidierung der Genres und die Erschwinglichkeit für das adressierte Publikum. Der Wettbewerb wird weder über Eintritts- noch über Verkaufspreise geführt. So werden Kino und Comics fester Teil des US-Alltagslebens.

Nach dem Krieg geraten die Verhältnisse dann wieder in Bewegung. Die Anti-Comic-Kampagne des Psychiaters Fredric Wertham führte zur Einführung des „Comics Code“, und Hollywoods „Production Code“ erzeugte eine bizarre Prüderie. In den 1950er Jahren schlägt das Pendel in ein neues Extrem aus: Die einst so rauen und freien, uramerikanischen Medien Comic und Kino erleben den Höhepunkt an gesellschaftlicher Kontrolle und moralischer Disziplinierung.

Ein Mittel, um Disziplinierung und Attrak­tion zu verknüpfen, waren die Superhelden. 1936 hatte es ganze zehn Comic-Heftserien gegeben, im Jahr darauf waren es bereits doppelt so viele. Der Trend hielt an, der Hunger nach neuen Stoffen ebenfalls, denn die Nachdrucke von Zeitungsstrips waren schnell erschöpft.

Der Verlag DC hatte 1937 zwei Heftserien gegründet, in denen es nur originale Geschichten gab, in Detective Comics und Action Comics. Jerry Siegel und Joe Shuster hatten ein paar Crime-Comics geschrieben und verkauft, aber lange waren sie mit ihrem Lieblingsprojekt über einen aus dem Weltall stammenden Supermenschen auf taube Ohren gestoßen. Die beiden fanden schließlich bei Action Comics Gehör; man druckte ihre erste, sehr rudimentäre Geschichte und zahlte den beiden zehn Dollar pro Seite – damit waren ihre Rechte an einer der populärsten Gestalten der Popgeschichte abgetreten.

Superman, der Held im blauen Cape, der gewaltige Kräfte besitzt, bekam 1939 auch sein eigenes Heft, das es nach einem Jahr bereits auf 1,25 Millionen Exemplare brachte. 1940 folgte eine Radioserie; 1941 kam eine Zeichentrickserie in siebzehn Filmen, dann etliche Realfilm-Serials. Mit der Popularität des Kryptoniers aber konnte es nur ein Einziger aufnehmen: Batman. 1943 erlebte der maskierte Held aus den Detective Comics seinen ersten Auftritt in einem Film-Serial. Einige seiner Kolleginnen und Kollegen taten es ihm gleich: The Flash, Hawkman, The Spec­tre, Green Lantern und nicht zuletzt Wonder Woman, die 1942 als erste Superheldin ihre eigene Heftserie bekam und schon bald auch ihr eigenes Serial.

Der Autor von „Wonder Woman“ war der Psychologe William Moulton, übrigens der Erfinder des Lügendetektors. Ein Kosmos der Superhelden entstand, in dem nicht nur die Helden maskiert schienen, sondern auch viele Wünsche, Ängste, Träume und Ideen ihrer Leser (zum Beispiel in Gestalt der emblematischen Doppelexistenz von schüchtern-unscheinbarem Privatmensch und Held mit Superkräften, die ständige Angst vor der Demaskierung oder der Sidekick – dem bei Batman prompt unterstellt wurde, Ausdruck eines homosexuellen Begehrens zu sein).

Comics und Filme entwickelten sich parallel und im ständigen Austausch miteinander. Es ist, als sehnten sie sich immer zugleich nach einer Differenz (der eine zeigt, dass er kann, was der andere nicht kann) und nach einer Verschmelzung. Mit der Digitalisierung und den computergenerierten Bildern verwischt der Unterschied zwischen „Realfilm“ und „Trick“. Statt auf die gemeinsamen Ursprünge beziehen sich Comic und Film nun auch auf Computerspiele. Denn in ihrer reinen Form sind sie mittlerweile alte Medien; das 21. Jahrhundert bestimmen neue, portable, auf dem Handy oder Pad stets verfügbare Bewegungsbilder.

Wonder Woman für die Rechte der Frauen?

Das totale Medium spukt in unseren medialen Albträumen, in der Science Fiction. „Big Brother“, bei dem der manipulierende Bildschirm zugleich die kontrollierende Kamera war, erschien nur als besonders drastisches Bild. Menschen, die in einem kapitalistischen Terrorstaat ganz und gar von einem entgrenzten Medium beherrscht werden, sind als Albtraum des totalen Konsenses verrückterweise Konsensbild in der Konsensmaschine (als käme das Medium selbst nicht ohne Drohgebärden aus: „Wir können auch anders!“). François Truffauts „Fahrenheit 491“ macht mit der ursprünglichen Trennung von Bild und Text noch einmal radikal ernst: Die Mainstream-Menschen dürfen in dieser dystopischen Zukunft nur noch (textlose!) Comics konsumieren, die Dissidenten ziehen in den Wald und deklamieren auswendig gelernte Bücher.

Die Konkurrenz unter den Medien half nicht zuletzt beim Ordnen der Wahrnehmung. Zudem nährte sie die Hoffnung, dass eine in einem Medium unterdrückte „Wahrheit“ (die Korruption der Politiker oder die Planung eines Kriegs, die Verseuchung der Welt oder die traurige Lächerlichkeit einer bürgerlichen Kleinfamilie) in einem anderen wieder auftauchen würde. Oder dass eine als „Diskurs“ zensierte Aussage als „Metapher“ wieder auftauchen oder eine gesellschaftliche Wirklichkeit in den Bildträumen repariert würde – dass Wonder Woman also wirklich für die Rechte der Frauen stünde, Black Panther wirklich von der Gleichberechtigung der Afroamerikaner erzählte, The First Avenger wirklich von einer Selbstreinigung der Nation und so weiter. Die Bildräume in den Superheldenträumen bilden einen hermetischen Raum der Diskurse aus. Hast du Noam Chomsky gelesen? Nein, aber ich habe „Iron Man 3“ gesehen.

Tatsächlich treibt die Verschmelzung der Medien die Auflösung der Unterscheidung zwischen Abbild und Metapher, zwischen Dokument und Fiktion, zwischen Spiegel und Maske, zwischen Erzählung und Modell voran. Eine Artikelfolge in der Bild-Zeitung funktioniert nach den gleichen dramaturgischen Rezepten wie eine Soap Opera, die nach den gleichen Rezepten wie eine Comicsaga funktioniert. Auf der anderen Seite funktioniert eine Artikelserie im Spiegel oder in der FAZ zunehmend nach den gleichen Rezepten wie die in Bild.

Jede größere Katastrophe erzeugt längst eine jener Meta-Bildererzählungen, in denen die Medien sich gegenseitig nur noch als Verstärkungen und Spiegelungen, aber nicht als Korrekturen oder gar als Kritik verstehen. Die Demokratie sieht aus wie Sabine Christiansen, die Geschichte wie eine Autobombe und das Schicksal wie eine Flutwelle. Aber Batman sieht aus wie Batman. Der Gezeichnete ist die Metapher der Identität. Der Schatten überlebt nicht nur die Ware, sondern auch ihren Produzenten.

Im Kino kann man derzeit das Entstehen eines neuen Bildercodes beobachten. Was man da über den inneren Zustand unserer Wirklichkeit erfährt, ist höchst beunruhigend. Der metaphysische Schatten der Ware kehrt in die Welt zurück. Getrieben von Schuld, Angst, Scham und Zorn, sieht er, was er angerichtet hat: „Sauve qui peut (la vie)“. Oder das Bild, wie man es nimmt.

Im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts geschieht etwas Sonderbares: Der Comic wie der Film müssen sich retten vor dem semantischen Brei des Comic/Film oder Film/Comic, sie müssen sich ihrer Eigenständigkeit und Differenz versichern. Die beiden „alten“ Medien haben im Überlebenskampf, sieht man von einer mehr oder weniger kultivierten Musealisierung ab, nur zwei diametral entgegengesetzte Möglichkeiten. Sie können entweder Teil einer multi­medialen und polyphonen, digitalen und globalen Bildermaschine werden, die im Besitz mächtiger Konzerne ist, oder ihren ästhetischen Eigensinn, ihre Einzigartigkeit, ihren Kunstcharakter betonen.

Die Krise des Massenmediums Comic ist so zugleich die Chance für den Comic als Kunstwerk. Nirgendwo sonst treten feministische und queere Elemente, politische und andere Minderheiten buchstäblich ins Bild wie hier. Umgekehrt lassen sich subkulturelle Emanzipationen, die sich in Musik und Mode flüchtig und vieldeutig zeigen, nirgends so nachhaltig in Zeichen übersetzen wie in Comics und Filmen, die allemal „here to stay“ sind: Was Film und was Comic geworden ist, das ist auch Teil der Kulturgeschichte.

Darum spielt die Beziehung von Comic und Film auch eine Rolle im Kulturkampf um das Bewegungsbild. Die beiden können nicht mehr zum Leitmedium des demokratischen Kapitalismus werden (weil es den nicht mehr gibt); sie können aber auf der einen Seite (und tun das auch mit großem Erfolg) dessen Niedergang begleiten, wie im Superheldengenre, oder sie können Teil eines aufklärerischen, dissidenten und demokratischen Widerstands werden.

Georg Seeßlen ist Film- und Kulturkritiker. Eines seiner jüngsten Bücher ist „Is This the End? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung“, Berlin (Edition Tiamat) 2018.

© Reprodukt Verlag und Le Monde diplomatique, Berlin. Aus dem Vorwort zu „Fußball, Marx und Tränen“, herausgegeben von Karoline Bofinger. Das Buch erscheint im September.

Le Monde diplomatique vom 07.06.2018, von Georg Seeßlen