08.03.2018

Brief aus Algier

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Brief aus Algier

von Adlène Meddi

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Grell geschminkt wie eine alte, desillusionierte Prostituierte erwacht Algier jeden Morgen, während hunderte von städtischen Angestellten ein nicht sehr überzeugendes Weiß auf die Fassaden pinseln. „Du siehst von außen so schön aus, aber was ist dein innerer Zustand?“, lautet eine algerische Redewendung.

Die Frage beschäftigt alle, die in Algier wohnen, seit die Behörden den Beschluss gefasst haben, alles frisch anzumalen. Auch eine Art, Jahrzehnte des Nichtregierens und Nichtverwaltens dieser komplizierten Stadt zu übertünchen. Ja, sie ist kompliziert, weil sie nicht zu ihrem Erbe steht, weil sie von Kolonisatoren erbaut wurde, gegen die Araber, die sich in ihrer Kasbah zusammendrängten, dem tausendjährigen berbero-arabo-osmanischen Altstadtkern, der heute einer Trümmerlandschaft gleicht.

Die Kasbah ist die Stein gewordene Grundstruktur von Algier und ein Drama für sich. Ich wage mich kaum noch in das Gewirr ihrer Gassen hinein, in denen die Kadaver der tradi­tio­nel­len maurischen Häuser liegen. Wenn es regnet, nimmt das Wasser, das von der antiken Zitadelle herunterrinnt, den für die Böden der nordafrikanischen Küsten typischen Rotton an. Eines Tages meinte ein Freund, die Kasbah würde bluten. Als es wieder einmal geregnet hat, bin ich hingegangen. Seitdem mag ich den Regen hier nicht mehr.

Ende Januar fand in Algier eine internationale Unesco-Konferenz statt, bei der es um den Erhalt der Kasbah ging. Das hochrangige Treffen geriet unversehens zu einem Festival des Lamentierens, einem Panorama verpasster Chancen, einer Kundgebung gegen Chaos und Ressourcenvergeudung. Die Kasbah stirbt vor sich hin, auch eine neue Metrostation und ein neues Museum zu ihren Füßen werden sie nicht wieder zum Leben erwecken.

Für uns waren unsere Städte nichts weiter als ein vergiftetes Erbe, Liegenschaften mit Renditepotenzial, Mauern, die wir nicht verstanden. Die Mauern haben es uns heimgezahlt: Sie versinken zusehends unter der Erde!

Das eigentliche Algier, die in das wunderbare und einzigartige Amphitheater über dem Meer hineingebaute Kolonialstadt, ist von einer fast unanständigen Schönheit. Man kann das nicht oft genug wiederholen, auch wenn es wie ein abgedroschenes Reiseführerklischee oder wie ein billiger Trost klingt.

In Wahrheit ist es ein Wunder, denn in ihrer Schönheit trotzt die Stadt der Torheit des Nichtregierens: Seit der Unabhängigkeit im Juli 1962 hat es kein einziges Planungsteam geschafft, ein vernünftiges Urbanisierungskonzept auszuarbeiten. Das gegenwärtige Getüftel ist nur das Echo des ewigen Flickwerks – und eine Beleidigung für so eine Stadt. „Eine Restaurierung zum Schein“, um es mit dem Architekten Ha­lim Faï­di zu sagen.

Nach der langen dunklen Bürgerkriegsnacht der 1990er Jahre sah es kurz so aus, als würde das Stadt­zen­trum eine echte Renaissance erleben. Die Leute nahmen den öffentlichen Raum wieder in Besitz. Künstler und Schriftsteller, Journalisten und Intellektuelle trafen sich und versuchten die grimmigen Mechanismen von Angst und Trauma aufzubrechen. Buchläden, Cafés und Restaurants hatten bis in die frühen Morgenstunden geöffnet.

Internetcafés belebten die Straßen bis in die finstersten Winkel. Mehr oder weniger zwielichtige Bars und Clubs machten die Nacht zum Tag und stimulierten einen ganz eigenen Wirtschaftssektor, von nächtlichen Imbissbuden über illegale Taxis bis hin zu den Parkplatzwächtern: schräge Gestalten, die die Besucher aus dem Norden exotisch fanden. Aber sie haben zusammengehalten und pflegten ihre Verbundenheit mit dem Asphalt von Algier. „Wir erleben gerade eine Art goldenes Zeitalter. Ich glaub nicht, dass es lange anhält, lass es uns also genießen“, sagte damals eine befreundete Autorin zu mir. Sie sollte recht behalten.

In den ersten fünfzehn Jahren des neuen Jahrhunderts ging diesem öffentlichen Leben allmählich die Puste aus, während die Bigotterie ständig zunahm. Erlasse beschränkten die Öffnungszeiten der Nachtlokale, Moralwächter übten Druck aus, die übertriebene Achtung der Religion nahm wieder zu – und die Nacht trat den Rückzug an.

„Die Zivilisation beginnt mit dem Ausschenken von Getränken!“, erklärte ein befreundeter Fotograf mit dem Groll des Nostalgikers. „Den Alko­hol­ausschank zu erlauben heißt, dass du was Besseres zu tun hast, als das Leben der anderen zu belauern. Und schließlich setzt der Genuss von Alkohol eine gewisse Zivilisiertheit voraus, wenn man Ausfälle im Rausch und die Aggression eines Kerls vermeiden will, der zu tief in die Flasche geschaut hat.“

Für manche markiert das Verschwinden der Bars und Kneipen, dem nicht selten Beschwerden von Leuten aus der Nachbarschaft bei der Polizei vorausgingen, das Ende des kosmopolitischen, ausgehfreudigen Algier. Manche Lokale konnten sich noch eine Weile halten, weil sie sich mit der Polizei gut stellten oder irgendein Zufall sie vor der Willkür schützte. Aber der Aufschub war nicht von langer Dauer – und ebenso wacklig wie die feuchten Wände der Kneipen.

Die Innenstadt leerte sich, Buchhandlungen und Ateliers machten dicht. Nach dem Doppelselbstmordattentat gegen das UN-Hauptquartier und den Verfassungsrat vom 11. Dezember 2007, bei dem 67 Menschen starben, flohen die meisten Expats aus der Innenstadt, und die Einwohner Algiers versanken in der Paranoia der Jahre von Feuer und Blut.

Zur selben Zeit sah ich mich nach einer Wohnung in Telemly um. Das Stadtviertel, das ich sehr mag und in dem die Bobos von Algier leben, erstreckt sich an einem langen Boulevard oberhalb der Innenstadt. Ich staunte über die verfallenen Gebäude, die den Charme der Vergangenheit verströmten, und über die vielen Leute, die aus der Innenstadt abwanderten, um sich in neuen abgeschirmten Wohnkomplexen im Westen niederzulassen. Es waren schlimme Zeiten, die zum Glück keine Ewigkeit dauerten.

Ich erinnere mich, wie wir nach einer Phase der Trauer, die wir nicht wirklich bewältigten, mit den Freunden, die noch in Algier geblieben waren, peu à peu unsere alten Gewohnheiten wieder aufnahmen: abendliche Einladungen in privater Runde, Dinner und Zechgelage zu später Stunde in den paar Tavernen, die den Schock der 2000er Jahre überlebt hatten.

Ist meine Wahrnehmung zu subjektiv? Ja, aber andererseits, was macht denn eine Stadt zu dem, was sie ist, wenn nicht die, die in ihr wohnen, sie zum Leben erwecken und ihr Kultur und Geist einhauchen?

Inzwischen haben Buchhandlungen neu eröffnet, am Boulevard Telemly gibt es kleine Galerien, man findet auch ein paar Szenetreffs wie das Sous-Marin, eine Mischung aus Künstlercafé und Debattierklub in einem riesigen Souterrain, daneben Co­wor­king-­Räume, Ateliers und andere Orte, an denen es sich gut zusammen sein lässt.

In den letzten Jahren hat die neu eröffnete, weite Strandpromenade Les Sablettes, die auf die Bucht von Algier hinausgeht, der Stadt und ihren östlichen Randbezirken, die in Verkehrsstaus und Luftverschmutzung zu ersticken drohte, ein Aufatmen erlaubt. Und eine unbefangene junge Genera­tion hat sich Algier neu angeeignet, ohne die krankhafte Fixierung auf den Kolonialismus.

In El-Hamma – Albert Camus’ altem Viertel Belcourt – organisiert die Kulturinitative El-Medreb („der Ort“) Stadtplanungs- und Künstlerworkshops, bei denen spielerisch experimentiert werden darf; das Collectif 220 zeigt das andere Algier, wagt sich an Street Photography und stellt trotz polizeilicher Verwarnungen seine Fotos an Wänden und Mauern aus. Auch das Street Art Festival Djart ließe sich noch nennen oder die „Picturie générale“. Alle zusammen arbeiten sie an einem neuen urbanen Stadtbild Algiers, das vom Bevölkerungswachstum, vom Ansturm der Immobilienhaie und von den Hypotheken der Kolonialzeit schier erdrückt wird.

Vor ein paar Wochen hatte ich auf Facebook folgenden Dialog mit Mira Gacem, der jungen Begründerin von Babzman („Tor der Zeit“), einer Webseite mit dazugehöriger Zeitschrift, die sich mit der Geschichte und dem kulturelle Erbe Algeriens beschäftigt:

Mira: So langsam lebt Algier ja wieder auf.

Ich: Wann war Algier denn je tot?

Mira: Es ist meine Stadt, und ich liebe sie. Aber sie eignet sich nicht richtig zum Ausgehen. Man muss sie nur mal nachts sehen, wenn Wochenende ist! Algier ist eine tote Stadt, und mit Freundinnen dort bummeln zu gehen, das kann man vergessen. Aber seit ein paar Monaten sehe ich doch Veränderungen: mehr Straßenkünstler, weniger Aggressivität in den Gesichtern ... Aber ich habe schon noch ehrgeizigere Ziele für Algier, und deshalb bleibe ich wachsam ... auch wenn ich weiter hier leben und die Stadt lieben werde, egal wie die Stimmung ist ...

Miras Jugend, ihr Engagement in der Kulturszene und ihr offener Blick für Kreativprojekte nähren ihren Optimismus und ihren Elan. Im Gegensatz zu meiner Generation, die erschöpft ist vom Krieg der 1990er Jahre und dem anderen, dem Unabhängigkeitskrieg (1954–1962), den wir zwar nur aus zweiter Hand kennen, aber so intensiv, als wären wir dabei gewesen.

Algier wird von denen gemacht, die ihr Leben und ihre Hoffnungen in diese Stadt investieren. Mich wird sie überleben. Und nur das zählt.

Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe

Adlène Meddi ist Autor und Journalist in Algier. Zuletzt erschien von ihm der Roman „1994“, Algier (Barzakh) 2017, und „Jours tranquilles à Alger“, (mit Mélanie Matarese), Paris (Ed. Riveneuve) 2016.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.03.2018, von Adlène Meddi