Es war ein Paukenschlag: Im April 2022 gewannen die Beschäftigten von JFK8, dem Amazon-Vertriebszentrum auf Staten Island, einem Stadtteil New Yorks, die Abstimmung über die Gründung einer Gewerkschaft. In den 27 Jahren seines Bestehens hatte der Online-Handelsriese bis dahin alle derartigen Versuche abschmettern können, indem er geschickt die Schwächen des US-Arbeitsrechts und den Mangel an Mitteln zu dessen Durchsetzung ausnutzte.
Vorsitzender der neuen Gewerkschaft Amazon Labor Union (ALU) ist der Initiator der Kampagne, Chris Smalls. Er war 2020 bei JFK8 entlassen worden, weil er die Arbeit niedergelegt und zu einem Protestmarsch gegen die unzureichenden sanitären Bedingungen aufgerufen hatte. Daraufhin organisierte er monatelang bei Wind und Wetter Proteste vor dem riesigen Logistikzentrum. Mit geringen Mitteln und viel Enthusiasmus gewann er nach und nach das Vertrauen seiner ehemaligen Kolleg:innen. Sein Elan und seine Entschlossenheit, die Tatsache, dass der multinationale Konzern ihn massiv unterschätzte, und Smalls’ unorthodoxen Methoden – etwa die kostenlose Ausgabe von Mahlzeiten und Joints am Ausgang der Halle – haben ihn zu einer Legende werden lassen.
Amazon beschäftigt in den USA 1,5 Millionen Menschen. Es ist der zweitgrößte private Arbeitgeber des Landes und der bei Weitem größte im Bereich Handel. In den Lagerhäusern herrscht durchaus eine gewisse Kameradschaft. Aber zugleich wird jede Lagerarbeiterin und jeder Lagerarbeiter ständig von den Vorarbeiter:innen bewertet und von KI-Systemen kontrolliert.
»Ich logge mich ein und scanne die Barcodes. Der Computer berechnet, wie viel Zeit ich zwischen zwei Scans verliere«, erklärte mir ein Angestellter in einem Vertriebszentrum in Bessemer, Alabama, wo ich 2021 zu einem gescheiterten Versuch, eine Gewerkschaft zu gründen, recherchierte. Diese »verlorene« Zeit wird unter Angestellten als time off task, kurz TOT, bezeichnet. »Im Grunde ist das für die Maschine die Zeit, in der du nichts tust. Sie wollen die TOT so gering wie möglich halten. Aber wie viel Zeit du brauchst, hängt natürlich von den Waren ab, die du in die Hände bekommst.« Ein defekter Strichcode, ein Rabattgutschein, und der Ärger geht los.
Wer sich in den USA gewerkschaftlich organisieren will, begibt sich auf einen wahren Hindernislauf. Wenn sich in einem Betrieb eine Initiative für die Bildung einer Gewerkschaft gründet, muss diese dem National Labor Relations Board (NLRB), der für Arbeitsrecht zuständigen Bundesbehörde, als erstes den Nachweis liefern, dass 30 Prozent der Beschäftigten am Standort die Gründung einer Gewerkschaft befürworten. Allein das Sammeln der Unterschriften ist schon schwierig und kann Jahre dauern. Ist diese Hürde genommen, kommt es zu einer Urabstimmung unter Aufsicht des NLRB – aber erst nach einer monatelangen, erbitterten Kampagne, in der das Unternehmen viel Zeit und Mittel einsetzt, um den Beschäftigten weiszumachen, dass eine gewerkschaftliche Organisation ihnen selbst schaden würde. Sie bekommen beispielsweise Textnachrichten, in denen mit dem Abbau von Arbeitsplätzen gedroht wird, oder sie werden zur Teilnahme an Versammlungen verpflichtet, auf denen sie von speziellen Beratern, den berüchtigten Union Busters, indoktriniert werden.
Der Kampf muss Fabrik für Fabrik, Supermarkt für Supermarkt, Fastfood-Restaurant für Fastfood-Restaurant geführt werden. Auch wenn der Standort Staten Island mit »Ja« votiert hat, ändert das nichts an der Situation in den anderen Amazon-Lagern im ganzen Land. Es ist daher kaum verwunderlich, dass in den USA laut der Statistikbehörde des US-Arbeitsministeriums gerade einmal 6 Prozent der Beschäftigten in der Privatwirtschaft gewerkschaftlich organisiert sind.
Vor diesem Hintergrund hat der Sieg der ALU in Staten Island viel Aufsehen erregt. Eine Gruppe von Arbeiter:innen, angeführt von einem Schwarzen ehemaligen Rapper ohne Schulabschluss forderte Jeff Bezos heraus, den damals reichsten Mann der Welt. Ein ungleicher Kampf mit hohem Symbolgehalt, dessen Ausgang Chris Smalls über Nacht zu einer Ikone werden ließ. Die New York Times porträtierte ihn in ihrer Rubrik »Style«, und zusammen mit seinem Freund Derrick Palmer, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Gewerkschaft, wurde er in die Time-Liste der 100 einflussreichsten Personen des Jahres 2022 aufgenommen. Der dazugehörige Text wurde vom linken Senator Bernie Sanders verfasst.
Smalls war nicht nur Gast in diversen Talkshows, sondern auch im Weißen Haus. Das Video der Lobrede von Präsident Biden ging viral. (Smalls sagte mir allerdings, die Demokratische Partei würde »Amazon voll unterstützen, mehr noch als Trump«). Die ALU-Saga mit Smalls als Hauptfigur war Gegenstand des Dokumentarfilms »Union«, der seine Premiere auf dem Sundance Filmfestival 2024 hatte. Smalls‘ Reichweite auf X und Instagram liegt zusammen bei rund 270000 Followern. Politico wählte ihn zu einer der 40 Persönlichkeiten des Jahres 2023, »die die Ethnizität, Politik und Kultur in Amerika neu gestalten«. Smalls veröffentlichte auf Instagram Details des Fotoshootings: die Rolex am Handgelenk, die Halskette und die Goldzähne – all das ein Stinkefinger gegen alle, die meinen, ein Gewerkschaftsboss dürfe, um glaubwürdig zu bleiben, seine Vorliebe für protzigen Luxus nicht zur Schau stellen.
Der Triumph der ALU beweist, dass Amazon nicht unbesiegbar ist, und er ist daher eine Inspiration für die US-amerikanischen Gewerkschaften. Smalls‘ Medienpräsenz ist ungebrochen. Man darf jedoch nicht vergessen, dass die ALU nur eine Etappe hinter sich gebracht hat. Der nächste Schritt, den Amazon um jeden Preis vermeiden will, ist die Unterzeichnung eines Tarifvertrags, des »bargaining contract«, in dem sich Gewerkschaft und Unternehmen über die Arbeitsbedingungen einigen.
Die ALU fordert einen Stundenlohn von 30 US-Dollar und 180 Stunden bezahlten Urlaub pro Jahr – bei Vollzeitbeschäftigung also etwa vier Wochen. Durch die Unterzeichnung eines solchen Vertrags würde ein Punkt erreicht, hinter den Amazon nicht mehr zurück kann: Die Präsenz der ALU in dem Unternehmen wäre endgültig festgeschrieben. Ohne eine solche Vereinbarung aber sei noch alles offen, betont John Logan, Arbeitsrechtler an der San Francisco State University, und »bis dahin können leicht ein oder zwei Jahre vergehen, manchmal auch länger«. Wegen der schwachen Arbeitnehmerrechte in den USA könne eine zu allem entschlossene Firma eine Unterschrift praktisch auf unbestimmte Zeit hinauszögern – »erst recht ein milliardenschweres Unternehmen wie Amazon«.
Amazon greift dabei auf klassische Methoden zurück: die Entscheidungen der NLRB vor Gericht anfechten und alle Fortschritte blockieren. Das Ziel sei, der neuen Gewerkschaft so lange das Leben schwerzumachen, bis sie mangels Unterstützung eingeht, erklärt Rebecca Givan, Dozentin für Arbeitsrecht an der Rutgers University in New Jersey.
Es sind die gleichen Taktiken zur Bekämpfung von Gewerkschaften, die auch anderswo in den USA zu finden sind, sogar in noch extremerer Form verglichen mit Amazon. Logans Vermutung nach dürfte Amazon alle Entscheidungen des NLRB anfechten, bis der Fall schließlich an ein Bundesgericht weitergeleitet wird, wo sich der Konzern bessere Chancen ausrechnet. »Wohl zu Recht«, meint Logan. »Die Richter dort wurden möglicherweise von Trump ernannt. Bundesrichter sind keine Experten für Arbeitsrecht, haben weniger Erfahrung auf dem Gebiet; sie wissen wenig über die Auswirkungen von gewerkschaftsfeindlichen Kampagnen innerhalb eines Unternehmens. Und selbst wenn solch ein Gericht gegen Amazon urteilen sollte, wird das Unternehmen einfach in Berufung gehen.«
Die hohe Personalfluktuation spielt Amazon ebenfalls in die Hände. Wegen der miesen Jobqualität haben viele Beschäftigte, die im Frühjahr 2022 für die ALU stimmten, das Unternehmen schon wieder verlassen. Da beißt sich die Katze in den Schwanz: Je schwieriger die Arbeitsbedingungen sind, desto mehr Arbeitskräfte werfen das Handtuch und desto komplizierter ist die gewerkschaftliche Mobilisierung. Wer weiß, ob man in einem Jahr noch im JFK8 arbeitet? Warum sollte man sich engagieren und Ärger riskieren für einen Job, in dem man nicht alt wird?
2023 konnten die Gewerkschaften in den USA trotz allem wichtige Siege erreichen. Mit Hilfe der Teamster-Transportarbeitergewerkschaft erhielten die teilzeitbeschäftigten UPS-Fahrer:innen eine Lohnerhöhung um 55 Prozent. Die Pilot:innen der LinienfluggesellLinienfluggesellschaften schafften immerhin 40 Prozent. Die Arbeiter:innen bei Ford, General Motors, Stellantis und anderen setzten unter dem Banner der UAW (United Auto Workers) eine Lohnerhöhung von 25 Prozent plus zusätzliche Anpassungen an die gestiegenen Lebenshaltungskosten durch. Und es gab noch weitere Erfolge, von Hollywood-Schauspieler:innen bis zu Krankenpfleger:innen.
Bei all diesen Fällen handelt es sich allerdings um Gewerkschaften, die in den jeweiligen Unternehmen etabliert sind und seit Jahrzehnten die Lohnverhandlungen führen. General Motors kann die UAW nicht loswerden, denn »das würde wahrscheinlich sowohl das Unternehmen als auch die Gewerkschaft zerstören«, meint Logan. Sie sind zur Koexistenz verdammt. Amazon hingegen hat bislang mit keiner Gewerkschaft einen Vertrag abgeschlossen und wird beinahe alles tun, um dies auch künftig zu vermeiden.
Die junge, unabhängige Gewerkschaft ALU steht also vor gewaltigen Problemen. Darüber kann auch die Medienwelle, auf der Smalls reitet, nicht hinwegtäuschen. Erstens kann eine neue Gewerkschaft von ihren Mitgliedern keine Beiträge verlangen, solange der alles entscheidende Vertrag mit dem Arbeitgeber nicht unterzeichnet ist. Die ALU wird daher für lange Zeit vollständig auf Spenden von außen – in der Regel von Gewerkschaftsdachverbänden – angewiesen sein. Im Jahr ihres historischen Siegs, 2022, erhielt die Organisation von mehreren etablierten Gewerkschaften mehr als 750000 US-Dollar. Doch keine von ihnen war dazu auch noch 2023 bereit. Die Gewerkschaft sei »praktisch pleite« und »niemand betreut mehr die Website«, berichtete ein ALU-Mitarbeiter.
Zweitens hat Smalls‘ Image innerhalb des Betriebs offenbar ein paar Kratzer bekommen. Seine Strategie, durch die ganze Welt zu reisen, um Unterstützung zu erhalten, (was er mir mir gegenüber als notwendige »Internationalisierung der Bewegung« bezeichnete), sorgt unter den ALU-Delegierten für Unzufriedenheit. Sie werfen ihm vor, er halte einen ewigen Triumphzug ab und verachte die Basisarbeit und die Bürgernähe, die den Sieg der Gewerkschaft erst ermöglicht haben.
Zwischenzeitlich hatte sich sogar eine Fraktion innerhalb der ALU gegen Smalls gestellt und die Gewerkschaft verklagt, um eine Neuwahl der Gewerkschaftsspitze durchzusetzen. Die beiden Lager scheinen sich jedoch wieder versöhnt zu haben und unterzeichneten im Dezember 2023 eine gemeinsame Erklärung. Aber selbst unter denen, die nicht gegen Smalls aufbegehrt hatten, halten einige ihn inzwischen für eine Bürde in der Kampagne für die Unterzeichnung eines Tarifvertrags.
»Ich mache mich nicht aus dem Staub«, erklärte mir Smalls, »aber ich bin auch nur ein Mensch und muss eine Familie ernähren. Ich habe vier Kinder.« Er unternehme seine Reisen nicht für sich, sondern für seine Kinder, »damit sie nicht den Weg gehen müssen, den ich gegangen bin«. Unterdessen musste sein Weggefährte Derrick Palmer wegen des Vorwurfs häuslicher Gewalt, den Smalls angeblich vor dem Rest der Gewerkschaft geheim halten wollte, als Vizepräsident zurücktreten.
Palmer wurde daraufhin durch Michelle Nieves ersetzt, eine JFK8-Aktivistin der ersten Stunde, die sich heute in einem offenen Konflikt mit Smalls befindet. Seit ihrer Ernennung zur Vizepräsidentin habe man versucht, sie ins Abseits zu drängen, berichtet sie. Sie sei einer »Kultur der Gewalt und Frauenfeindlichkeit« ausgesetzt gewesen ebenso wie »Einschüchterungsversuchen«. Smalls, so beschreibt sie ihn, »war anfangs bescheiden, nett, er stellte mir sogar seine Kinder vor. Dann stieg er eines Tages in ein Flugzeug, und wir sahen ihn nie wieder.« Sie beschuldigt ihn, Spendengelder zu veruntreuen und den Kampf der Arbeiter:innen für seinen persönlichen Ruhm zu missbrauchen. »Entweder bist du Vorsitzender und führst die Gewerkschaft Tag für Tag, oder du bist ein Promi und ständig auf Reisen, aber du kannst nicht beides sein.« Auf die Vorwürfe angesprochen, sagt Smalls, Nieves dürfe man keinen Glauben schenken, sie sei bereits im Oktober 2023 von der Gewerkschaft »gefeuert« worden. Nieves bestreitet das und zeigt Dokumente vor, die dies belegen sollen. »Ich bin nach wie vor stellvertretende Vorsitzende und als solche beim Arbeitsministerium registriert. Man kann einen Gewerkschaftsfunktionär nicht ohne entsprechendes Verfahren ›feuern‹, Chris ist ein Lügner.«
Solche Streitereien erschweren natürlich die Bemühungen, Amazon zur Unterzeichnung einer Vereinbarung zu bewegen, aber Smalls lässt sich nicht entmutigen: »Wir machen gerade eine schwierige Phase durch, das ist nicht zu leugnen. Ich stelle ganz normale Leute ein, die nicht in Gewerkschaften sind, die noch nie in ihrem Leben etwas organisiert oder an etwas so Historischem, Mächtigem oder Monumentalem teilgenommen haben – mich eingeschlossen.« Weil die ALU neu und unabhängig sei, werde es zwangsläufig Probleme geben. »Vom ersten Tag an haben wir uns auf niemanden verlassen, wir werden das schon hinbekommen.«
Ende 2023 sagte Smalls dem Business Insider, dass er bei der nächsten Wahl nicht mehr als ALU-Vorsitzender kandidieren werde. Das Onlinemagazin vermutete, seine Beliebtheit im Betrieb habe wohl zu sehr gelitten, als dass er auf eine Wiederwahl hoffen könnte. Mir versicherte Smalls jedoch, dass er die Gewerkschaft nicht verlassen werde: »Ich werde mich weiter engagieren und nicht austreten.«
»Ich glaube, dass der Weg für die ALU besonders kurvenreich ist, weil es eine neue Gewerkschaft ist«, meint die Arbeitsrechtsexpertin Givan. »Sie müssen erst noch ihre Vorgehensweise und Verfahren definieren.« Allerdings hält sie es auch für möglich, dass eine neue, unabhängige Gewerkschaft wie die ALU es nie schafft, einen Tarifvertrag zu unterzeichnen, und einen langsamen Tod stirbt.
Trotz der Schwierigkeiten inspiriert der Erfolg der ALU auch Arbeiter:innen in anderen Amazon-Logistikzentren des Landes. So etwa im Süden von Cincinnati, wo sich ein riesiges Luftfrachtzentrum, ein »Air Hub«, befindet. Amazon hat 1,5 Milliarden US-Dollar in den Bau der KCVG genannten Anlage investiert, die erst zu einem Drittel fertiggestellt ist. KCVG soll das Herzstück von Amazons Luftfrachtnetzwerk werden und dürfte in fünf bis sieben Jahren voll funktionsfähig sein mit einer Belegschaft von dann 12000 Menschen. Könnte eine Gewerkschaft dort Fuß fassen, wäre das ein gigantischer Erfolg.
Griffin Ritze, 34, landete nach Jahren der Gelegenheitsarbeit bei KCVG. Er ist eine zentrale Figur in der Gewerkschaftskampagne, die immer mehr Aufmerksamkeit erhält. Als wir Ende Februar 2024 miteinander sprachen, war er der neuste Amazon-Mitarbeiter in den USA, der wegen gewerkschaftlicher Aktivitäten entlassen worden war, nach fünf Jahren Betriebszugehörigkeit. Nach Angaben seines Vorgesetzten wurde Ritze bestraft, weil er ohne Einladung an einem der berüchtigten Antigewerkschaftstreffen teilnehmen wollte, die von der KCVG-Geschäftsführung organisiert werden.
Wie in Staten Island fordern auch die Aktivisten bei KCVG einen Stundenlohn von 30 US-Dollar, 180 Stunden bezahlten Urlaub, eine gewerkschaftliche Vertretung und, als lokale Besonderheit, das Recht auf Übersetzungen für alle Beschäftigten: »Wir haben in den letzten Monaten viel Unterstützung gewonnen, weil unsere Organisationskomitees ihre Aktivitäten auf Arbeitsmigranten ausgeweitet haben, die größtenteils aus dem Senegal und der Demokratischen Republik Kongo kommen und Französisch sprechen«, erzählt Ritze.
Er kritisiert die Amazon-Manager, weil die ausländischen Arbeitnehmer:innen nicht in ihrer Sprache geschult werden, obwohl die Arbeit in einem Luftdrehkreuz den Einsatz schwerer und gefährlicher Maschinen mit sich bringt. Sobald die Gewerkschaftskampagne in Gang kam, tauchten aber gewerkschaftsfeindliche Flugblätter auf Französisch auf, ebenso wie französischsprachige Leiter von gewerkschaftsfeindlichen Versammlungen – laut Ritze der Beweis dafür, dass Amazon sehr wohl die nötigen Mittel aufbringen kann, wenn es um seine Interessen geht.
Gewerkschaftsaktivist:innen zufolge stammt rund ein Zehntel der KCVG-Belegschaft aus Afrika, und Französisch ist die zweite Sprache, noch vor Spanisch. Viele dieser Arbeiter:innen haben befristete Arbeitsvisa. Das macht sie anfälliger für Drohungen, denn ihre Aufenthaltsgenehmigung in den USA ist von einem Beschäftigungsnachweis abhängig. So wie bei Marcio Rodriguez: »Ich muss unbedingt meinen Arbeitsplatz in den USA behalten, um meine Arbeitserlaubnis zu verlängern«, sagt der Arbeiter aus Honduras. Amazon habe gedroht, ihn rauszuschmeißen, wegen seiner Gewerkschaftsaktivitäten. »Als Arbeitsmigrant musst du wirklich doppelt so vorsichtig sein.«
Ritze geht auch mit den US-amerikanischen Gewerkschaften hart ins Gericht: »Die Gewerkschaftsbewegung schrumpft nun schon seit Jahrzehnten, und meiner Meinung nach liegt das zum Teil auch daran, dass ihre Anführer zu bequem geworden sind.« Wenn ein Gewerkschaftsfunktionär 200000 Dollar im Jahr verdiene und die Mitglieder gerade mal 30000 oder 40000 Dollar, wie etwa im Einzelhandel, sei das »beschämend« und müsse sich ändern. »Das Erste, worum wir die Kollegen bei der Ausarbeitung unserer Statuten gebeten haben, war, dass die gewählten Gewerkschaftsführer und ihre Mitarbeiter nicht mehr als den Durchschnittslohn eines Arbeiters bei KCVG verdienen dürfen.«
Ritze und seine Kolleg:innen befinden sich noch in der allerersten Phase, in der sie Unterschriften sammeln, um eine Urabstimmung abhalten zu können, möglichst vor Ende 2024. »Um dieses Unternehmen in die Knie zu zwingen und einen Tarifvertrag zu bekommen, sind wir bereit zu streiken und die Auslieferung der Waren zu stoppen«, sagt Ritze. Aber dafür müssen sie erst einmal den Erfolg von JFK8 wiederholen und eine Gewerkschaft gründen. Unterstützung erhält die Kampagne von anderen Gewerkschaften und dem Senator Sherrod Brown aus Ohio. Wie in Staten Island verspricht der Kampf lang zu werden – »ein Marathon«, so Ritze, für den er bereit sei.
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Aus dem dem Französischen von Nicola Liebert
Dieser Beitrag ist eine Veröffentlichung aus der neuen LMd-Edition No.35 "USA. Die zerrissene Supermacht"
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Maxime Robin ist Journalistin.