Das Phänomen Kasselakis und der Niedergang der Syriza
von Niels Kadritzke | 27. November 2023
Was zählt in diesen Zeiten der Kriege, Katastrophen und Tragödien – von Menschen verursacht oder unverschuldet – das Schicksal einer griechischen Partei? Zumal angesichts der Katastrophen und Tragödien, die auch Griechenland in den letzten Monaten durchgemacht hat. Dennoch gibt es Gründe für einen Versuch, den langsamen Tod – oder Selbstmord auf Raten – der Syriza darzustellen und zu erklären. Zum einen, weil die griechische Linkspartei und ihr Vorsitzender Alexis Tsipras vor einigen Jahren die politische Phantasie der gesamten europäischen Linken beflügelt haben. Zum anderen, weil dies nicht der einzige Fall einer Linkspartei ist, die sich „auf offener Bühne selbst zerlegt“, wie es die DW-Korrespondentin Kaki Bali formuliert. Ein dritter Grund ist der Katalysator, der im Fall der Syriza den Zerfallsprozess angestoßen hat. Das „Phänomen Kasselakis“ erscheint zwar wie ein „Implantat“ in die griechische Politik, aber das macht die Frage umso interessanter, weshalb – und mit wessen Hilfe – dieser Fremdkörper zum Kopf einer etablierten Linkspartei werden konnte.
20. November: Der neue Syriza-Chef Stefanos Kasselakis im Radiosender 105.5 Sto Kokkino
© Tatiana Bolari/picture alliance/ANE/Eurokinissi
Der Fall dürfte einmalig sein, zumindest in der europäischen Nachkriegsgeschichte. Ein völlig unbekannter junger Mann, der noch keine sechs Monate im Lande ist, kündigt überraschend an, er wolle die Führung der größten Oppositionspartei übernehmen. Nach zwei Wahlniederlagen und dem Rückzug ihres charismatischen Vorsitzenden sollen die Mitglieder in zwei Wahlgängen über die neue Führung entscheiden. Knapp drei Wochen vor dem ersten Wahlgang wirft der unbekannte Kandidat seinen Hut in den Ring. Eine weitere Woche später hat er im zweiten Wahlgang die bisherige Favoritin für den Parteivorsitz deutlich besiegt.
Seit dem 24. September steht der 35-jährige Stefanos Kasselakis an der Spitze der griechischen Linkspartei Syriza – als Nachfolger von Alexis Tsipras, der vor acht Jahren die Linken in ganz Europa euphorisiert hatte. Im Folgenden will ich untersuchen, was der Coup vom 24. September für die griechische Linke bedeutet. Und was der Erfolg von Kasselakis über die griechische Gesellschaft aussagt.
Ein politisches UFO
Die griechischen Medien haben für die Wahl des Newcomers sensationslüsterne Metaphern erfunden: Da war von einem PR-Blitzkrieg die Rede, vom Einschlag eines „Meteoriten“, von einem „politischen UFO“, das in der Mitte der Partei gelandet sei, vom Hijacking der Partei oder gar von einer „feindlichen Übernahme“. Jedes dieser Wortspiele trifft einen Teilaspekt der Story, aber jedes suggeriert auch eine bestimmte Theorie, die beim jetzigen Kenntnisstand nicht zu belegen ist.
Die Kenntnisse über das Phänomen Kasselakis sind nach wie vor ziemlich dürftig. Noch dürftiger waren sie zum Zeitpunkt seiner Wahl, bei der 55 Prozent der abstimmenden Syriza-Mitglieder den Sprung ins Unbekannte wagten. Ein alter Freund und erfahrener journalistischer Beobachter schrieb mir ratlos: „Wir wissen nicht einmal, wer Kasselakis ist; wir wissen nicht, wer ihn auf die ganze Idee gebracht hat, wer hinter ihm steht; und keiner weiß, wie belastbar er ist, um all die Schläge auszuhalten, die ihm bevorstehen.”
Um herauszufinden, wie die Syriza-Mitglieder diesem Mr. X die Führung ihrer Partei ausliefern konnten, müssen wir einen Blick auf die institutionellen Voraussetzungen werfen, unter denen ein solcher Überraschungskandidat zum Zuge kommen konnte.
Tsipras und die Basisdemokratie
Die Linkspartei hat die Wahl des oder der Vorsitzenden durch die Parteibasis erst im April 2022 eingeführt.(1) Die entsprechende Satzungsänderung durch den Parteitag erfolgte auf Betreiben von Alexis Tsipras, der Grund war auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Der innerhalb der Syriza völlig unangefochtene Vorsitzende hatte eine plebiszitäre Bestätigung in keiner Weise nötig. Tsipras verfolgte mit der innerparteilichen Urwahl jedoch drei konkrete Ziele:
– Erstens sollte sich die Linkspartei ebenso „basisdemokratisch“ präsentieren wie die rechte Nea Dimokratia (ND) und die sozialdemokratische Pasok, deren Vorsitzende sich durch die „Basis“ legitimieren ließen: Kyriakos Mitsotakis im Januar 2016 nicht nur durch die ND-Mitglieder, sondern auch durch den zur Stimmabgabe aufgeforderten Wähleranhang; Pasok-Chef Nikos Androulakis im Dezember 2021 nur durch die Mitgliedschaft.
– Zweitens wollte Tsipras seine unbestrittene Dominanz durch ein innerparteiliches Plebiszit bekräftigen und sich damit die Ermächtigung für eine programmatische Umorientierung der Syriza in Richtung einer linkssozialdemokratischen Partei verschaffen.
– Drittens sollte die basisdemokratische Wahl eine Syriza-Mitgliedschaft attraktiver machen; damit wollte Tsipras eine Beitrittswelle auslösen, mit dem Ziel, die Partei durch den Zustrom „gemäßigter“ Wählerinnen und Wähler zu „entradikalisieren“.
Diesem dritten Ziel diente – bewusst oder nicht – das geänderte Parteistatut, das bei der Kür des Vorsitzenden überaus laxe Kriterien für die Ausübung des passiven wie des aktiven Wahlrecht vorsieht. Insbesondere sind beide Rechte nicht an eine längere Mitgliedschaft gebunden.
Passives Wahlrecht: Auch wer erst einen Monat oder eine Woche in der Partei ist, kann für das höchste Parteiamt kandidieren. Das ist eine „systemwidrige“ Absurdität höchsten Grades, denn das Parteistatut sieht zum Beispiel eine mindestens 5-jährige Parteizugehörigkeit für die Mitglieder des 5-köpfigen Ethikrats vor, der für Ausschlussverfahren zuständig ist.
Aktives Wahlrecht: Das genießen alle mindestens 15 Jahre alten Personen, die der Syriza vor dem ersten Wahlgang (also dem 17. September 2023) beigetreten sind, und sei es am Tag davor. Das Eintrittsgeld für diese „Last-Minute-Mitglieder“ beträgt zwei Euro.
Beide Bestimmungen waren für die Wahl des neuen Parteichefs ausschlaggebend. Das bedeutet:
– Wäre das passive Wahlrecht an eine mindestens einjährige Mitgliedschaft gebunden, hätte sich ein Newcomer gar nicht um den Parteivorsitz bewerben können;
– Würde das aktive Wahlrecht eine längere Mitgliedschaft voraussetzen, wäre das Ergebnis im ersten wie im zweiten Durchgang anders ausgefallen. Dann hätte die griechische Linkspartei heute nicht den Vorsitzenden Stefanos Kasselakis, sondern die Vorsitzende Effi Achtsioglou.
Der Befund ist eindeutig: Alexis Tsipras hat mit seinem Bedürfnis, sich plebiszitär zu legitimieren und die Parteibasis durch einen Beitrittsschub zu verbreitern, ein Vehikel geschaffen, das einen Coup à la Kasselakis erst möglich machte.(2)
Die Frage, ob dies der einzige Beitrag war, den der Ex-Syriza-Vorsitzende zur Wahl seines Nachfolgers geleistet hat, wird weiter unten erörtert. Zunächst ist nachzuzeichnen, wie die Wahl von Kasselakis durch die laxen Wahlrechts-Kriterien beeinflusst wurde.
Der fünfte Kandidat
Bis drei Wochen vor dem ersten Wahlgang am 17. September hatten sich für die Tsipras-Nachfolge eine Kandidatin und drei Kandidaten beworben:
– die 38-jährige Effi Achtsioglou, Ministerin für Arbeit und Soziales in der zweiten Regierung Tsipras, die bei Mitgliedern und Anhängern der Syriza gleich populär war; deshalb traute man ihr zu, ein breites innerparteiliches Spektrum anzusprechen;
– der 63-jährige Evklidis Tsakalotos, Ökonomie-Professor und Ex-Finanzminister, Kandidat des linken Parteiflügels „Ombrela“ (Schirm);
– der 47-jährige Nikos Pappas, ehemals Minister für Kommunikation und Medien, der als enger Vertrauter von Tsipras und in dessen Regierung als „Mann fürs Grobe“ galt.
– der 77-jährige Stefanos Tsoumakas, Minister in früheren Pasok-Regierungen und deshalb, wie auch aus Altersgründen, von vornherein chancenlos.
Dieses Quartett wurde drei Wochen vor dem ersten Wahlgang durch den 35-jährigen Stefanos Kasselakis aufgemischt. Mit seiner überraschenden Kandidatur wurde der „fünfte“ sofort zum Medien-Knüller. Davor hatte sich kaum jemand an den Namen erinnert, der erstmals auf der „Staatsliste“ der Syriza aufgetaucht war, über die Kandidaten einen Sitz in der Vouli erlangen können, ohne in einem Wahlkreis anzutreten. Diese Direktkandidatur war Kasselakis von Tsipras angetragen worden. Der sah in dem gerade aus den USA zurückgekehrten Jungunternehmer einen Repräsentanten der griechischen Diaspora, die 2023 erstmals an den griechischen Parlamentswahlen mitwirken durfte.
Nach den beiden Parlamentswahlen (am 21. Mai und am 25. Juni) war der Name Kasselakis aber schnell vergessen, zumal es für den „sunny boy“ aus den USA wegen der eklatanten Stimmenverluste der Linkspartei nicht zu einem Sitz in der Vouli gereicht hatte. Erst als der junge Mann die altgedienten Syriza-Kader herausforderte, rückte er schlagartig ins Lampenlicht. Das verdankte er auch seinem sympathisch lässigen Bekenntnis als Schwuler, das er nicht als „coming-out“ zelebrierte, sondern mit selbstbewusster Beiläufigkeit kommunizierte.
Willkommener Medien-Hype
Anfangs gab niemand dem fünften Kandidaten eine ernsthafte Chance. Erst als eine Umfrage sein innerparteiliches Stimmenpotential auf etwa 40 Prozent taxierte, wurde er als ernsthafter Rivale der Favoritin Achtsioglou wahrgenommen. Das heizte einen weiteren Medien-Hype an, den Kasselakis mit einer Serie von Videclips anreicherte. Die letzten Umfragen vor dem 17. September sagten bereits ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Achtsioglou und Kasselakis voraus.
Viele etablierte Parteigrößen hatten Kasselakis zunächst als dekorative Bereicherung der Konkurrenz empfunden und hofften, dass der Hype um den TikTok-Kandidaten die Wahlbeteiligung hochtreiben würde. Nach der krassen Niederlage bei den Parlamentswahlen trieb viele Parteikader die Sorge um, an der innerparteilichen Urwahl könnten sich weit weniger als jene 150.000 Mitglieder beteiligen, die im Mai 2022 zu 99 Prozent für Tsipras votiert hatten.(3) Das wäre als Resignation der Parteibasis wahrgenommen worden – und als weiteres Indiz für den drohenden Abstieg in die Bedeutungslosigkeit.
Efklidis Tsakalotos, der Kandidat des linken Flügels, ist inzwischen aus der Syriza ausgetreten
© Vasilis Rebapis/picture alliance/ANE/Eurokinissi
Um so größer war am 17. September die doppelte Überraschung: Erstens wurden 148.821 Stimmen abgegeben; zweitens entfielen sensationelle 44,9 Prozent auf Kasselakis und nur 36,2 Prozent auf Achtsioglou. Dahinter landeten abgeschlagen – mit jeweils 8 Prozent – der Linke Tsakalotos und der Apparatschik Pappas; Tsoumakas kam auf lediglich ein Prozent.
Abstimmungsrecht für zwei Euro
Das Geheimnis dieses verblüffenden Resultats liegt im „Parteialter“ der Abstimmenden. Von denen waren etwa 43.000 erst in der letzten Woche vor dem ersten Wahlgang am 17. September in die Syriza „eingetreten“, zum Teil sogar erst am 16. September. Für ihr Wahlrecht mussten sie nur zwei Euro zahlen, sich also nicht einmal zu einem laufenden Mitgliedsbeitrag verpflichten.
Die neuen „Zwei-Euro-Mitglieder“ bedeuteten gegenüber dem Bestand an „Alt-Mitgliedern“ (172.000 laut Stand 2022) einen Zuwachs von 25 Prozent. Alle Beobachter gehen davon aus, dass die meisten dieser Leute, die keinerlei Bindung zu der Partei eingehen wollten, überwiegend für den Newcomer gestimmt haben. Schwerer einzuschätzen ist, wie viele der 43.000 ihre Eintrittskarte in „feindlicher Absicht“ gelöst hatten. Allerdings gibt es zahlreiche Berichte aus der Provinz, wie in den Wahllokalen auf einmal Menschen auftauchten, die früher für die ND geworben oder sogar kandidiert hatten.
Vor diesem Hintergrund ist das Wahlresultat von 66.156 Stimmen für Kasselakis und 53.292 Stimmen für Achtsioglou zu bewerten. Wenn wir annehmen, dass von den 43.000 Neumitgliedern 35.000 für Kasselakis votiert haben, ergibt sich folgende Rechnung: Ohne die 35.000 Stimmen für den fünften Kandidaten wäre dieser nicht auf 45 Prozent, sondern nur auf 27 Prozent gekommen. Achtsioglou dagegen hätte etwa 42 Prozent statt 36 Prozent erzielt und die Stichwahl so gut wie sicher gewonnen.
Favoritin auf verlorenem Posten
Doch statt mit einem Vorsprung von 15 Prozentpunkten musste Achtsioglou am 24. September mit einem Rückstand von 9 Prozentpunkten antreten. Der war aber immer noch aufzuholen, wenn sie die meisten der Stimmen gewinnen würde, die im ersten Wahlgang an die drei abgeschlagenen Verlierer gefallen waren.(4) Ausschlaggebend für den Ausgang der Stichwahl waren demnach die Empfehlungen der unterlegenen Kandidaten. Erwartungsgemäß forderten der Linke Tsakalotos – wie auch Tsoumakas – zur Wahl von Effi Achtsioglou auf. Die konnte damit theoretisch auf jene 45 Prozent kommen, die Kasselakis im ersten Wahlgang erzielt hatte.
In dieser pari-pari-Konstellation war entscheidend, welche Empfehlung der dritte Verlierer Nikos Pappas abgeben würde. Der Apparatschik schlug sich auf die Seite von Stefanos Kasselakis. Seine Begründung: Das „progressive Lager“ brauche „einen großen progressiven Wandel“. Damit waren die Weichen gestellt: Wenn die 8 Prozent der Stimmen, die Pappas errungen hatte, an seinen neuen „amerikanischen Freund“ fielen, hatte Achtsioglou fast schon verloren. Es sei denn, sie vermochte eine größere Zahl von Altparteimitgliedern aufzuwecken, die den ersten Wahlgang verschlafen hatten, und die Übernahme der Partei durch den „Amerikaner“ im letzten Moment noch abwenden wollten.
Das Erweckungswunder fand nicht statt. Die Stichwahl vom 24. September endete mit 56,7 Prozent Stimmenanteil für Kasselakis und 43,3 Prozent für Achtsioglou. Der Zugewinn (von 7 Prozentpunkten) für die Verliererin entsprach den Stimmen, die der linke Kandidat Tsakalotos im ersten Wahlgang erzielt hatte. Der Zugewinn für Kasselakis (von fast 12 Punkten) ging deutlich über den Pappas-Anteil vom ersten Wahlgang hinaus. Das erklärt sich zum Teil durch die geringere Wahlbeteiligung, die am 24. September um 10 Prozent (oder 14.400 Stimmen) niedriger lag als eine Woche zuvor. Dies zeigt, dass Achtsioglou keine „Altmitglieder“, die am 17. September zu Hause geblieben waren, zu einer „Protestwahl“ gegen den Newcomer mobilisieren konnte.(5)
Die Rolle der Syriza-Nomenklatura
Viele Beobachter haben das Wahlergebnis als Abstrafung der etablierten Parteielite interpretiert, die sich der Unterstützung durch die Basis allzu sicher war und das Phänomen Kasselakis zunächst nicht ernst genommen hatte. Das gilt gewiss für Achtsioglou, die erst nach ihrer Niederlage im ersten Wahlgang ihren Kampfgeist entdeckte und den Rivalen zu einem inhaltlichen Streitgespräch herausforderte – das Kasselakis verweigerte, weil Inhalte in seiner PR-Strategie nicht vorgesehen waren.
Doch der Befund, die Entscheidung der Parteibasis sei weniger ein Sieg von Kasselakis als „eine Niederlage der alten Syriza-Bürokratie“ gewesen (Kathimerini vom 19. September) liegt daneben. Vielmehr wurde der Newcomer von einer einflussreichen Fraktion der Nomenklatura in den Sattel gehoben. Ohne diese gewieften Altvorderen hätte Kasselakis nicht kandidieren, geschweige denn gewinnen können. Schon für die Anmeldung seiner Kandidatur brauchte das Neumitglied die Unterstützung von 10 Prozent des Zentralkomitees, also 30 Unterschriften, die ihm nur gut vernetzte Parteibürokraten organisieren konnten. Zu den Unterstützern seiner Kandidatur gehörten acht Mitglieder der Parlamentsfraktion, darunter Giorgos Tsipras, Cousin von Alexis Tsipras und dessen ökonomischer Berater im Ministerpräsidentenamt.(6)
Effi Achtsioglou, die Ex-Favoritin für den Vorsitz, mit dem neuen Parteichef, 26. Oktober
© Giorgos Kontarinis/picture alliance/ANE/Eurokinissi
Diese Personalie nährte das Gerücht, Kasselakis genieße die heimliche Unterstützung des zurückgetretenen Parteichefs. Der Verdacht schien sich zu erhärten, als sich der langjährige Tsipras-Vertraute Nikos Pappas zwei Tage nach dem ersten Wahlgang klar für den „Amerikaner“ aussprach. Nach einem Treffen mit Kasselakis beschwor der Anführer der Gruppe, die als „Präsidentengarde“ firmiert, die Zukunft der Syriza als einer „patriotischen, modernen, regierungsfähigen“ Partei. Nur dieser neue Mann könne die Syriza „zum Sieg gegen die Nea Dimokratia“ führen.
Hexenjagd gegen Achtsioglou
Zwei Tage vor der Stichwahl setzte Pappas noch einen drauf. In einem Interview im staatlichen Sender ERT bezichtigte er Effi Achtsioglou der Sabotage an der notwendigen „Reform der Syriza“. Kasselakis stehe für „die Aktualisierung und Erneuerung des Unternehmens Parteireform“, die Alexis Tsipras begonnen habe. Achtsioglou dagegen stehe für die „Abkehr“ von dieser Erneuerungs-Strategie, mit der die Syriza die politische Mitte erobern könne.
Damit verklärte Pappas seinen Kandidaten zum Erwählten der Lichtgestalt Tsipras, während er Achtsioglou als „traditionalistische“ Altlinke dämonisierte, die das von Tsipras begonnene Reformprojekt torpedieren wolle. Pappas untergrub damit gezielt den Nimbus, der die ehemalige Arbeitsministerin für viele Syriza-Mitglieder zur ersten Wahl machte: ihren Ruf als legitime Nachfolgerin des schmerzlich vermissten Vorsitzenden Alexis. In der digitalen Eigenwelt der Fake News und Trolle kursierte auf einmal das Gerücht, Achtsioglou habe ihren politischen „Ziehvater“ nach den Wahlniederlagen der Syriza zum Rücktritt gedrängt. Die dreiste Lüge war auch eine Beleidigung für Tsipras, der stets betont hatte, dass sein Rücktritt eine sehr persönliche, souveräne und unwiderrufliche Entscheidung war.(7)
Wer in wessen Auftrag die Gerüchte über Achtsioglou gestreut hat, ist unklar. Klar ist nur, dass Pappas diese Gerüchte genutzt und verstärkt hat. Drei Tage vor der Stichwahl erklärte er auf Nachfragen eines Journalisten zum Tsipras-Rücktritt: „Ich bin nicht in der Lage, die genauen Umstände dieser Entscheidung zu kennen…“. Doch er, Nikos Pappas, habe seinen Freund noch am Abend vor dessen Rücktritt umstimmen wollen. Dann fügte er orakelnd hinzu: Warum Tsipras tags darauf doch zurücktrat, sei „eine äußerst interessante historische Frage“.
Achtsioglou setzte sich gegen diese „Verleumdung“ entschieden zur Wehr, doch gegen die sms-Kampagne mit der Botschaft „Die Demonteure von Tsipras dürfen nicht siegen“ hatte sie keine Chance.(8) Die Hexenjagd hätte nur der verhindern können, der es besser wusste. Damit stellt sich die Frage, warum Tsipras die Kandidatin Achtsioglou im Hagel der Verdächtigungen stehen ließ. Der hatte zwar nach seinem Rücktritt erklärt, er werde sich in der Frage seiner Nachfolge „strikt neutral“ verhalten. Aber das hätte ihn nicht daran hindern dürfen, eine Lüge zu entkräften, die über Achtsioglou in Umlauf war.
Tsipras als Mentor von Kasselakis?
Das Verhalten von Tsipras ist ein Indiz dafür, dass er sein Versprechen „strikter Neutralität“ nicht strikt eingehalten hat. Der Verdacht, dass er insgeheim doch Kasselakis unterstützt hat, wird durch eine weitere Merkwürdigkeit genährt: Der Ex-Vorsitzende hat der Behauptung von Kasselakis, sein „Vorbild“ Tsipras habe ihn auf die Idee seiner Kandidatur gebracht, nie widersprochen.
Die Aussage von Kasselakis gilt natürlich für die Unterstützung seiner Parlamentskandidatur auf der „nationalen Liste“ – aber gilt sie auch für die Kandidatur zum Syriza-Vorsitzenden? Es gibt ein Indiz, dass Tsipras von dem forschen Amerikaner beeindruckt war. Als er nach den ersten Wahlen vom Mai 2023 eine Task Force zusammenstellte, die die schockierende Niederlage der Partei analysieren und Ideen für die zweite Wahl vom Juni entwickeln sollte, berief er in diesen Kreis auch Kasselakis. Das heißt aber noch nicht, dass Tsipras den Amerikagriechen zu seinem Nachfolger ausersehen hätte, wie es Kasselakis suggerierte. Der erwähnte in privaten Gesprächen wiederholt, er habe in der Zeit vor den Parteiwahlen „täglich viele Male mit Alexis gesprochen“.
Kasselakis hat also seinen Vorgänger als seinen „Mentor“ dargestellt. Gegen diese Vereinnahmung hat sich Tsipras nie verwahrt, obwohl sie seiner Selbstdarstellung („strikt neutral“) den Boden entzog. Darauf zielt der bittere Vorwurf, den der Kopf der linken Ombrella-Fraktion, Ex-Finanzminister Efklidis Tsakalotos, seinem Ex-Vorsitzenden nach dem Austritt aus der Syriza gemacht hat: Tsipras hätte auch nach dem ersten Wahlgang explizit klarstellen müssen, „dass er keinen Kandidaten unterstützt und dass er es niemandem gestattet, die Syriza zu untergraben“.(9)
Tsipras selbst hat zur Klärung dieser Frage bislang nichts beigetragen.(10) Aber egal welche Rolle er gespielt hat: Zu seinem Nachfolger wäre Kasselakis nie geworden, wenn nicht ein Teil der Syriza-Nomenklatura den Newcomer adoptiert und für die eigenen Ziele instrumentalisiert hätte. Wer die Hintermänner dieser Kandidatur aufspüren will, schrieb ein bissiger Kommentator, wird weder auf „die Amerikaner“ noch auf griechische Oligarchen oder andere übliche Verdächtige stoßen, sondern auf „altbekannte, vertrocknete Syriza-Figuren wie Pavlos Polakis und natürlich Nikos Pappas“. (Kathimerini vom 21. September)
Die Kasselakis-Fraktion – eine gemischte Truppe
In der Tat ist die Kasselakis-Fraktion innerhalb der Nomenklatura eine merkwürdig gemischte Truppe prominenter Partei-Veteranen. Der genannte Polakis ist ein rabiater Poltergeist aus Kreta, den Tsipras 2021 aus der Partei ausschließen wollte, weil er in der Coronakrise den populistischen Impfskeptiker gab. Der Wahlkreis des Populisten ist der westkretische Bezirk Chania, aus dem auch die Familie von Kasselakis stammt. Aufgrund dieser landsmannschaftlichen Verbundenheit war Polakis der erste Syriza-Politiker, der den Heimkehrer unter seine Fittiche genommen hat. Ein weiterer prominenter Kasselakis-Anhänger ist Admiral a.D. Evangelos Apostolakis, den Tsipras im Januar 2019 für die letzten sechs Monaten seiner Regierung zum Verteidigungsminister berufen hatte.(11) Zu dieser Fraktion zählen mittlerweile viele, die früher zur „Präsidialgarde“ von Tsipras gehörten und jetzt die Präsidialgarde von Kasselakis bilden, darunter auch manche Funktionäre, die 2015 von der Pasok zum Wahlsieger Tsipras übergelaufen sind.
Die auf 47 Köpfe geschrumpfte Parlamentsfraktion ist dreigeteilt: Etwa ein Drittel zählt zum Kasselakis-Lager, ein Drittel hält eine (größere oder kleinere) Distanz zum neuen Parteivorsitzenden, ein Drittel wartet ab. Zu letzteren gehört der Fraktionsvorsitzende Sokratis Famellos, der seinen Posten behalten konnte, weil Kasselakis kein Parlamentsmandat hat. Der ursprüngliche Plan, dem neuen Parteichef einen Nachrücker-Sitz in der Vouli zu verschaffen, konnte nicht umgesetzt werden. Das hätte erfordert, dass mehrere Abgeordnete, die auf der nationalen Liste vor Kasselakis rangierten, ihr Mandat niederlegen. Das ist nicht geschehen.(12)
Hat Tsipras den Kandidaten Kasselakis unterstützt?
© Tataina Bolari/picture alliance/ANE/Eurokinissi
Die innere Spaltung der Fraktion trat bereits bei der Abstimmung über die Besetzung der wichtigsten Fraktionsposten zutage. Der Personalvorschlag von Kasselakis sah Giorgos Tsipras als Fraktionsgeschäftsführer vor, Pappas als einen von drei Fraktionssprechern und Polakis als Koordinator der parlamentarischen Agenda. Dieses Ticket wurde von nur 28 Abgeordneten abgesegnet; 16 enthielten sich der Stimme; die restlichen 3 waren nicht anwesend (darunter der Abgeordnete Alexis Tsipras).
Die Parteibasis zwischen Faszination und Kapitulation
Der Erfolg von Kasselakis ist ohne die geschilderte Fraktionierung auf der Syriza-Führungsebene nicht zu erklären. Das erspart uns jedoch nicht die Frage, welche Rolle die Parteibasis bei der Eroberung der Syriza durch einen Mister X gespielt hat. Die Parteilinke erweckt im Rückblick gern den Eindruck, „die Basis“ sei von einer Führungsclique überrollt oder hinters Licht geführt worden. Aber dieses Narrativ bleibt die Antwort auf zwei Fragen schuldig: Warum ließen sich auch erstaunlich viele „Altmitglieder“ für einen Kandidaten erwärmen, der keinerlei innerparteiliche Aktivitäten und Verdienste aufzuweisen hatte und dessen politische Vorstellungen bestenfalls undurchsichtig waren? Und warum ließen sich nach dem ersten Wahlgang nicht genügend Genossinnen und Genossen mobilisieren, um die Niederlage der weit erfahreneren und politisch „durchsichtigen“ Achtsioglou abzuwenden?
Die Reaktion der Parteibasis auf das „Phänomen Kasselakis“ bewegte sich zwischen den Polen Faszination und Kapitulation. Und das bei fast vollständigem Verzicht auf jede inhaltliche Auseinandersetzung mit einem Unbekannten, der die Parteimitglieder in seinem offiziellen Bewerbungs-Video wie ein kommerzieller Influencer ansprach: „Hallo, ich bin der Stefanos, und ich habe was zu sagen…”
Schon dieser Satz war eine hohle Phrase. Der fünfte Kandidat hatte in den vier Wochen bis zu seinem Wahlsieg nichts Substantielles über sein politisches Programm zu sagen. Man erfuhr zwar, dass er gay ist und einen 20-jährigen Lebenspartner namens Tyler hat. Man wusste bald, in welchem Fitnessstudio er trainiert und wie es seinem Hund geht. Aber schon über sein Berufsleben der letzten zehn Jahre erfuhr man nur das, was das PR-Profil des Kandidaten ausschmücken sollte. Und das zeichnete den Sproß einer Selfmademan-Familie, der bereits mit 35 Jahren kapiert hat, wie die Welt tickt.
Selbstbildnis eines Selfmademan
Das Selbstbildnis des selbstgefälligen „Ich bin der Stefanos“-Typen weist so viele dunkle Flecken auf, dass es auf die Frage, wer dieser Kasselakis eigentlich ist, wenig Antworten gibt und im Gegenteil weitere Zweifel weckt. Hier seien nur vier Beispiele angeführt:
1. Der Vater Theodoros Kasselakis wird präsentiert als Selfmademan und erfolgreicher Firmengründer, der durch einen üblen Geschäftspartner und eine Justiz-Intrige um sein Unternehmen gebracht wurde, was seine Familie zur Auswanderung in die USA gezwungen habe. Tatsächlich genoss die väterliche Firma, die Schiffsanstrichfarben produzierte, ein lukratives Monopol als exklusiver Lieferant für die griechische Kriegsmarine.(13) Vater Kasselakis unterhielt also enge Beziehungen zur Athener Regierung – ein klassischer Fall von politischer Protektion und Verflechtung.
2. Der Sohn Kasselakis bekam 2009, nach Abschluss seiner business studies an der University of Pennsylvania, einen Job bei der Investmentbank Goldman Sachs angeboten. Den hat er, nach eigener Darstellung, nach fünf Jahren hingeschmissen, weil er bei seiner Tätigkeit als „Risiko-Analyst der Rohstoffmärkte“ von ethischen Skrupeln ergriffen wurde: „Da habe ich von nahem gesehen, was KAPITAL bedeutet: Wie man die Mühe und Arbeit des anderen billig einkauft; zu welcher Arroganz das viele Geld führt. Deshalb habe ich diese Arbeit aufgegeben.“ (Navtemporiki, 29. August 2023) Tatsächlich ist aber unklar, ob Kasselakis 2014 selbst gekündigt hat, oder ob er von Goldman Sachs als „bad performer“ entlassen wurde.(14)
Ganz unwahrscheinlich ist freilich die Selbstdarstellung, wonach er sich am Ende seiner Goldman-Zeit vom kapitalistischen Saulus zum linken Paulus gewandelt hat. In den Kommentaren, die er als Yuppie zwischen 2012 und 2015 für die griechischsprachige New Yorker Zeitung Ethnikos Kiryx schrieb, verbreitete Kasselakis strikt neoliberale Ansichten. Der Herausgeber der Zeitung erzählt, sein junger Mitarbeiter habe in Wirtschaftsfragen stets Positionen „rechts von der Mitte“ vertreten und auf „Marktliberalismus und Kapitalismus“ gesetzt (Interview in MEGA-TV vom 20. Oktober 2023). Das erklärt auch, warum er in seinen Artikeln für die konservative ND warb und sich für den „Reformer“ Kyriakos Mitsotakis begeisterte. Noch kurz vor seiner Kandidatur betonte der heutige Syriza-Vorsitzende seine „hervorragende Beziehung zu Mitsotakis“, für den er „nach wie vor große Hochachtung“ hege. (Kathimerini vom 14. Juli 2023).
3. Vier Jahre nach der Goldman-Sachs-Episode gründete der 25-jährige Selfmademan ein eigenes Unternehmen namens Swift Bulk, aus dem er sich 2023 zurückzog, nachdem er sich nach eigener Aussage „mit viel Schweiß“ ein Vermögen erarbeitet hatte, das ihm „große ökonomische Freiheit“ verschaffe. Ermöglicht wurde die Firmengründung allerdings durch einen Kredit, der durch die persönliche Bürgschaft seines Patenonkels, des Reeders Markos Nomikos, abgesichert war. Da Swift Bulk mit einem der Firmen von Nomikos vernetzt war, betrieb der „Selfmademan“ genau besehen ein Subunternehmen seines Onkels, der ihn mit reichlichen Boni entlohnte. Solche „unternehmerischen Extra-Einkommen“ honorieren in der Regel ein besonderes Geschick, „die billige Arbeit anderer zu kaufen“. Und wie ein Jungmanager, der sich mit 35 Jahren ein Millionen-Vermögen verschafft hat, der „Arroganz des Geldes“ widerstanden haben soll, bleibt das Geheimnis des Stefanos Kasselakis.
4. Der neue Syriza-Vorsitzende behauptet, seine Erfahrungen als „Reeder“ hätten ihn befähigt, „eigene Anschauungen darüber zu gewinnen, welche Veränderungen für Griechenland nötig sind“. Swift Bulk war allerdings kein Schifffahrtsunternehmen, sondern eine Firma, die Transportkapazitäten für Frachtgut vermakelt. Gleichwohl fühlt sich Kasselakis den Reedern nahe, wie seine Vorstellungen über die Besteuerung dieser erzkapitalistischen Kaste zeigen, die in Griechenland lange Zeit von jeglicher Steuer befreit war. Wie er gegenüber der Wirtschaftszeitung Navtemboriki erklärte, sollten die jährlichen Gewinne, die 10 Prozent des Anlagekapitals nicht übersteigen, weiterhin unbesteuert bleiben. Für Gewinne über der 10-Prozent-Grenze schlägt er einen Steuersatz von 10 Prozent vor – deutlich weniger als die 22 Prozent, die für die anderen griechischen Unternehmen gelten.
Kein Wunder, dass Vater Theodoros Kasselakis im TV-Sender Mega am Tag nach dem zweiten Syriza-Wahlgang berichten konnte: „Alle Reeder haben mich angerufen und mir zum Sieg von Stefanos gratuliert.“(15)
Der amerikanische Traum von einer Demokratischen Partei Griechenlands
Unter Berufung auf seine Berufskarriere behauptete Kasselakis keck: „Meine Kandidatur ist genauso radikal wie mein ganzes Leben“, und das sei ein unentwegtes Lernen „von der Gesellschaft für die Gesellschaft“. Die wenigen wirtschaftspolitischen Vorstellungen, mit denen Kasselakis diese Leerformel auszufüllen versuchte, liegen auf der Linie jener „New Labour“-Ideologie, für die Namen wie Tony Blair und Gerhard Schröder stehen. Ein typisches Beispiel ist sein Vorschlag, Großunternehmen sollten ihre Belegschaft zum Teil mit Aktien entlohnen, damit sich die Belegschaft stärker mit dem Erfolg des Unternehmens identifiziert. Aber die Kapitalseite soll dabei nicht leer ausgehen: Ein Unternehmen, das seinem Personal „stock options“ gewährt, will Kasselakis mit „erheblichen steuerlichen Anreizen“ belohnen. Die einzige konkrete Idee, die der Kandidat in Sachen Wirtschaftspolitik präsentierte, sah also Steuergeschenke für Unternehmen vor. Zu der Forderung nach einer Sondersteuer zur Abschöpfung der Superprofite, die griechische Energiekonzerne in den letzten Jahren erzielt haben, sagte Kasselakis kein Wort.
Im Gegensatz zu seiner Wirtschaftspolitik hat der Kandidat seine politische Vision einer „neuen patriotischen Syriza“ präzise benannt: Die Partei müsse eine „catch-all Party“ nach dem Vorbild der Demokratischen Partei der USA werden. Sechs Wochen vor Ankündigung seiner Kandidatur schrieb Kasselakis in einem Meinungstext (Kathimerini vom 14. Juli 2023) über sein Verhältnis zur Tsipras-Partei: „Ich habe mich der Syriza angeschlossen, weil ich glaubte, das wir mit Tsipras so etwas wie die Demokratische Partei Griechenlands zustande bringen könnten“. Eine Partei also, die „genau wie in den USA ein großes Zelt bietet, und ein erfahrenes personelles Reservoir, das die staatliche Bürokratie zu managen vermag“. Die neue Syriza müsse, wenn sie wieder an die Regierung kommen wolle, „das US-amerikanische Rezept so bald wie möglich kopieren“. Deshalb müsse sie „vorbehaltlos auch die politische Mitte vereinnahmen, sich unbeirrt zu einer zurückhaltenden Finanzpolitik bekennen und die Management-Fähigkeiten ihrer künftigen Regierung herausstellen“.
Wahlhelfer für Biden und Wähler der Republikaner
Die naive Vision einer griechischen „Democratic Party“ geht auf das einzige politische Engagement zurück, das Kasselakis vor seinem Beitritt zur Syriza vorzuweisen hat: Als 19-jähriger Student engagierte er sich eine Zeitlang als Wahlhelfer für Joe Biden, der sich Anfang 2008 – ohne Erfolg – um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten bewarb. Als Biden dann von Obama zum US-Vizepräsidenten ausersehen wurde, bekam der 20-jährige Student angeblich das Angebot, einen Job im Umfeld von Biden anzutreten.(16) Stattdessen stieg er bei Goldman Sachs ein, was seine Bindung an die Demokratische Partei offenbar gelockert hat. Wie vor einigen Wochen – und nach seiner Wahl – herauskam, war der heutige Syriza-Vorsitzende von 2013 bis 2019 auf der New Yorker Wählerliste der Republikaner eingetragen, was bedeutet, dass er an deren Vorwahlen teilgenommen hat.
Zu diesem Ausflug ins Lager der Republikaner hat sich Kasselakis nicht klar geäußert.(17) All dies zeigt allerdings, dass er aufgrund seiner politischen und beruflichen Sozialisation tatsächlich jener „Amerikaner“ ist, als den ihn seine innerparteilichen Gegner sehen. Die Bestätigung dafür hat Kasselakis selbst geliefert. In seinem Gastbeitrag für die Kathimerini vom 14. Juli 2023, äußerte er sich unter anderem über seine Kandidatur zu den Parlamentswahlen vom Mai 2023, die ihm Tsipras angetragen hatte. In diesem Text bezeichnete er sein Engagement in der griechischen Politik noch als „ein kurzes Intermezzo zwischen zwei Kapiteln in meiner Business-Karriere“. Sechs Wochen später erklärte der Businessman plötzlich seine Absicht, die Führung der Syriza zu übernehmen. Weitere vier Wochen später hatte er sein Ziel erreicht.
Feindliche Übernahme – mit Hilfe der Parteibasis
Für die Syriza-Mitglieder, die sich in einer Linkspartei wähnten, kam der Sieg dieses Stefanos Kasselakis über Effi Achtsioglou einer „feindlichen Übernahme“ gleich. Dieses Gefühl hat am klarsten der Europa-Abgeordnete Stelios Kouloglou ausgedrückt, der Ende September als erster Mandatsträger die „neue Syriza“ verlassen hat. Seine Begründung: „Der neue Vorsitzende hat nur ein, zwei Mal das Wort links in den Mund genommen, und das nur ganz beiläufig. Was er anstrebt, ist klar zu erkennen: den Aufbau einer neuen Partei, die den Markennamen Syriza, die Büros und womöglich auch die Massenmedien der Partei übernimmt. Und dazu die staatlichen Gelder für die alte Syriza, die in jeder Hinsicht eine andere Partei ist.” (Skai-TV vom 27. September 2023)
Was Kouloglou vor sechs Wochen vorausgesehen hat, vollzieht sich inzwischen Schritt für Schritt. Der neue Vorsitzende, der in der „Linkspartei“ noch vor einem halben Jahr ein „Fremdkörper“ war, dirigiert den Umbau der Syriza zu einer Partei, in der die Linke zum Fremdkörper wird. Und doch ist dieser Vorgang mit dem Begriff „feindliche Übernahme“ unzureichend beschrieben, weil damit die Rolle der Parteibasis ausgeblendet wird. Über die Beweggründe und Stimmungslagen der „alten“ Parteimitglieder, die für den Newcomer gestimmt haben, wurde viel spekuliert. In dem ganzen Wirrwarr widerstreitender Gefühle sind zwei dominierende Bedürfnisse unübersehbar: die Sehnsucht nach einem „neuen Tsipras“ und der Wunsch, der Neue möge den Segen des alten Tsipras haben. Auf diese Gefühlslage zielte das Kasselakis-Lager innerhalb der „alten“ Syriza, das den Verratsverdacht gegen Achtsioglou inszenierte.
Dass diese Taktik erfolgreich war, verweist auf das eigentliche Problem der Syriza: Die Partei als politischer Resonanzkörper war nicht in der Lage, die Wahlniederlagen der letzten Jahre – die nicht erst 2023, sondern schon 2019 begonnen hatten – in einer politisch-strategischen Diskussion aufzuarbeiten. Auf eine solche grundsätzliche Debatte hätte Tsipras als derjenige, der die Widersprüche zwischen linker Rhetorik und harter Realität auf schmerzhafteste Weise durchlitten hatte, spätestens 2019 nach der Wahlniederlage gegen die ND von Mitsotakis drängen müssen. Da diese Debatte nie geführt wurde, setzte die Syriza auch in der Opposition auf die alte Rhetorik und das verblassende Charisma ihres Vorsitzenden – beides stumpfe Waffen gegen den zynischen Realpolitiker Mitsotakis und die regierungsfreundlich gestimmten Mainstream-Medien.
Führungsfrage und Programm – die falsche Reihenfolge
Alexis Tsipras war sich seit Jahren über die Notwendigkeit klar, die Kluft zwischen Realität und Rhetorik durch eine neue „reformistische“ Strategie zu überbrücken. Dass er trotz seines politischen Nimbus' nicht gewagt hat, diese Strategiedebatte voranzubringen, erklären die Kasselakis-Anhänger mit der „Realitätsverweigerung“ des linken Flügels. Aber das ist eine billige Ausrede. Auch die Syriza-Linke weiß, dass man die „progressive politische Mitte“ gewinnen muss, um wieder regierungsfähig zu werden. Die Frage ist nur, mit welchem Programm und mit welchen Koalitionspartnern.
Eine Antwort auf diese Fragen ist die Voraussetzung für eine rationale Entscheidung über die Führungsfigur. Dennoch haben alle Syriza-Fraktionen der Personalfrage den Vorrang vor der Frage über die Zukunft der Partei gegeben. Nach dem Rückzug von Tsipras entschied sich die gesamte Parteielite – mit wenigen Ausnahmen – für die „falsche“ Reihenfolge: Zuerst die Wahl der neuen Parteiführung und dann ein Programm-Parteitag, auf dem über die Fehler der Vergangenheit und die Zukunft der Syriza diskutiert werden soll.
Sprung ins Unbekannte
Die Scheu vor einer mühsamen Selbstfindungsdiskussion hat viele Tsipras-Fans auf einen weniger mühseligen Ausweg gelockt (das dürfte insbesondere für die Mitglieder gelten, die erst 2022 eingetreten waren, um am Parteiplebiszit für ihr Idol teilzunehmen). Warum nicht auf einen neuen Heilsbringer setzen, der die Niederlagen vergessen macht, indem er verspricht, Mitsotakis zu besiegen? Eine Meinungsumfrage unter Anhängern und Mitgliedern der Syriza, die drei Tage vor dem ersten Wahlgang veröffentlicht wurde, enthielt unter anderem die Frage: „Wer kann Ihrer Meinung nach gegen Mitsotakis gewinnen?“ Von den Mitgliedern, die erklärten, sie würden sich an den Parteiwahlen beteiligen, setzten 40 Prozent ihre Hoffnung auf Kasselakis und nur 29 Prozent auf Achtsioglou.(18) Der unbekannte Kandidat „nährt die politische Wahnvorstellung einer Rückkehr an die Macht“, befand der Politikwissenschaftler Nikos Marantzidis schon vor dem ersten Wahlgang und sah darin ein Beispiel für „magisches Denken in der Politik“, das sich immer weiter ausbreite.(19)
Dieses magische Denken hat Kasselakis konsequent bedient. Er sei der einzige, den Mitsotakis fürchten müsse, behauptete der Kandidat bei jedem seiner Auftritte: Ich habe von Ökonomie genauso viel Ahnung wie Mitsotakis, weil ich bei Goldman Sachs gearbeitet habe; ich als Selfmademan kann dem „golden boy“ und Erbprinzen einer politischen Dynastie selbstbewusst entgegen treten; ich kann sogar besser Englisch als Mitsotakis.
Angesichts solcher Siegerqualitäten schien die Frage unerheblich, wer dieser Kasselakis eigentlich ist. Die von dem Drachentöter faszinierten Mitglieder interessierten sich nicht einmal für die Spur des Geldes, also für die Frage nach dem Vermögen ihres Kandidaten und wie er es erworben hatte. Eine Stimme für Kasselakis war auch in dieser Hinsicht ein „Sprung ins Unbekannte“.(20) Da störte es keineswegs, dass der Unbekannte vor der Parteiwahl jede inhaltliche Diskussion vermied und auch die von Achtsioglou vorgeschlagene „freundschaftliche Debatte über die unterschiedlichen politischen Pläne“ verweigerte. Immerhin hatte Kasselakis ein paar progressive Forderungen als Duftmarken gesetzt: Stärkung der LGBTQ-Rechte, mehr Geld für Bildung und Gesundheit, strikte Trennung von Staat und Kirche. Das reichte, um darüber hinwegzusehen, dass der Kandidat in Sachen Wirtschafts- und Sozialpolitik – die Kernkompetenz einer linken Partei – jede konkrete Auskunft schuldig blieb.
Sieg eines Influencers?
Wenn die Interpretation von Marantzidis stimmt, verliert ein anderer Aspekt an Bedeutung, unter dem der Fall Kasselakis nicht nur in Griechenland diskutiert wird. Handelt es sich bei dem Sieg eines Quereinsteigers um den Coup eines ambitionierten Influencers, der Nachahmer ermutigen wird? Es gibt noch keine Studien darüber, welchen Anteil am Erfolg von Kasselakis dessen unentwegte Selbstinszenierung in den sozialen Medien hatte. Die offensichtlich erfolgreiche PR-Kampagne von Kasselakis verdankt sich allerdings eher den „strukturellen Defiziten“ einer Partei, die ein cleverer Influencer auf optimale Weise ausnutzen konnte.(21) Und was seine politische Zukunft betrifft, so dürfte Kasselakis mit amateurhaften TikTok und YouTube-Auftritten keine Chance gegen einen Mitsotakis haben, der für seine Imagepflege einen Trupp hochbezahlter PR-Profis beschäftigt.
Wie sieht die Zukunft für Kasselakis und die Syriza aus?
Wie es heute aussieht, dürfte sich der „Wunderknabe Kasselakis“ als Flop erweisen. Seine innerparteilichen Fans haben sich von dem „neuen Gesicht“ eine Initialzündung versprochen, die ihre Partei auf ihrem Kurs in Richtung politischer Mitte wieder auf die Überholspur bringen würde. Stattdessen haben sie eine krachende Fehlzündung erlebt, die wie die Ankündigung einer Implosion anmutet.
Tatsächlich ist die Partei in Auflösung begriffen. Nach der letzten Sitzung des 300-köpfigen Zentralkomitees am 12. November haben 46 ZK-Mitgliedern en bloc ihre Mitgliedschaft aufgekündigt. Es handelt sich um die gesamte linke Fraktion Ombrella, der außer dem ehemaligen Finanzminister Tsakalotos noch drei weitere Ex-Minister der Tsipras-Regierung (Skourletis, Filis, Vitsas) angehören. Weitere prominente Parteigrößen sind individuell ausgetreten, darunter der (keineswegs linksradikale) Ex-Wirtschaftsminister Giorgos Stathakis. Und von der unteren Parteiebene werden jeden Tag scharenweise Austritte gemeldet. Am 19. November erklärte die große Mehrheit der Syriza-Jugendorganisation von Thessaloniki ihren Auszug aus der Partei. (News 24/7 vom 19. November 2023)
Am 23. November erhielt der Auflösungsprozess einen weiteren Schub, als auch die Fraktion um Effi Achtsioglou (6+6 genannt) ihren Austritt aus der Syriza erklärte. Zusammen mit der gegen Kasselakis unterlegenen Kandidatin verabschieden sich auch zahlreiche Funktionsträger der mittleren Generation aus der Kasselakis-Partei. In der von 57 Funktionsträger unterzeichneten Austrittserklärung wird der neuen Parteiführung vorgeworfen, sie verweigere eine aufrichtige Diskussion um inhaltliche Fragen und verlege sich setze stattdessen auf Kampfbegriffe wie „innerer Feind“ und „fünfte Kolonne“.
Kasselakis hat die Spaltung vorangetrieben
Damit ergibt sich „das Bild einer Partei in Auflösung, was allen Indizien nach eine Erosion ihres politischen Einflusses bedeutet, der sich in den Wahlergebnissen niederschlagen wird“ (News 24/7 vom 20. November 2023). Diese Spaltungsdynamik hat Kasselakis selbst vorangetrieben, als er sich das Recht anmaßen wollte, alle seine Kritiker aus der Partei zu werfen – und damit den für Ausschlüsse zuständigen Ethikrat zu umgehen. Als dieses Gremium auf seiner Zuständigkeit beharrte, kündigte der Parteichef ein innerparteiliches Referendum an, mit dem Ziel, den Ethikrat zu entmachten und dem Vorsitzenden das Monopol auf Parteiausschlüsse zu gewähren. Mit diesem „bonapartistischen“ Plan stieß Kasselakis selbst seine engsten Berater (einschließlich Nikos Pappas) vor den Kopf. Und sein Vorgänger Tsipras sah sich zu der Mahnung genötigt, auch der Parteivorsitzende habe sich, wie jedes andere Mitglied, an das Parteistatut zu halten. Daraufhin gab Kasselakis sein Vorhaben auf.
Der Vorgang zeigt, dass Kasselakis das Statut seiner eigenen Partei entweder nicht kennt oder für beliebig dehnbar hält. Mit anderen Aktionen ließ er erkennen, dass er auch mit der Geschichte seiner Partei nicht vertraut ist. Bei seinem Auftritt vor dem Jahreskongress des griechischen Industriellenverbands (SEB) am 10. Oktober verkündete er im Stile von „New Labour“: Wir als „moderne Linke“ verzichten auf die „Dämonisierung“ des Wortes „Kapital“ und verstehen das Wort „Arbeit“ als Aufforderung zur „Mitarbeit“. Dabei verlor der moderne Linke kein Wort über eine zentrale Forderung seiner eigenen Partei: eine Sondersteuer, um die „Superprofite“ abzuschöpfen, die sich die griechischen Energiekonzerne in den vergangenen Jahren angeeignet haben.
Noch mehr Ärger machte sich Kasselakis mit seiner Kritik an der Politik der Tsipras-Regierung.(22) Die hatte bis Ende ihrer Amtszeit im Sommer 2019 ein „Finanzpolster“ von 37 Milliarden Euro angespart. Diese Rücklage war die Voraussetzung dafür, dass Griechenland aus der „Überwachung“ durch die Troika entlassen wurde. Von diesem Zusammenhang hatte Kasselakis offensichtlich keine Ahnung, als er dem damaligen Finanzminister Tskalotos eine der Troika gefällige „Sparpolitik“ vorwarf. Womit er eine Politik kritisierte, die Tsipras und die Partei stets als wichtigen Erfolg ihrer Regierungszeit dargestellt haben.
Der Abwärtstrend hat schon begonnen
Kasselakis hat die innerparteilichen Gegensätze mit einer Rhetorik verschärft, die an die populistische Demagogie seines kretischen Mentors Polakis erinnert. So bezeichnete er seine Kritiker als „fünfte Kolonne“ – ein Feindbild, das seine Gegner als Verräter denunziert. Offenbar schwebt Kasselakis eine gefügige Partei vor: ohne Opposition und ohne jede Diskussion über die vorgegebene Parteilinie. Dazu passt seine Ankündigung, dass künftig nur treue Gefolgsleute mit einem Sitz in der Vouli rechnen können.
Allerdings wird die Syriza, wenn der Zerfallsprozess weiter geht, nach den nächsten Wahlen (vermutlich erst im Sommer 2027) nicht mehr über viele Sitze in der Vouli verfügen. Schon die aktuelle Parlamentsfraktion ist im Schrumpfen begriffen. Derzeit sind von den 47 Abgeordneten zwar erst die neun Mitglieder der Ombrella (um Tsakalotos) abgesprungen, aber wenn sich auch die Achtsioglou-Gruppe verselbständigt, wird die Syriza-Fraktion mindestens sechs weitere Mitglieder verlieren.
Unübersehbar ist der Abwärtstrend auch bei der Wählergunst. Bei den Kommunalwahlen im Oktober kam die Syriza in den Gemeinden, in denen sie noch mit eigenen Kandidaten antrat, auf einen durchschnittlichen Stimmenanteil von 12 Prozent – deutlich weniger als die konkurrierende Pasok.(23) Allerdings ist dies nicht als Kasselakis-Effekt zu bewerten, weil die Partei auf kommunaler Ebene schon immer schwach abgeschnitten – und dieses Mal besonders schwach, weil sie mit der Wahl ihrer neuen Führung beschäftigt war.
Signifikanter sind die Zahlen der jüngsten Meinungsumfragen. Schon in den ersten Umfragen „nach Kasselakis“ (von Mitte Oktober) war die Partei gegenüber den 17,8 Prozent bei den Parlamentswahlen vom 25. Juni um weitere 3 Prozentpunkte abgesackt, lag aber noch knapp vor der Pasok. In den neuesten Umfragen von Mitte November – also schon unter dem Eindruck der Spaltungstendenzen – ist die Syriza hinter die Pasok auf den dritten Platz zurückgefallen. Bei der jüngsten Umfrage vom Sonntag, den 19. November, kommt die Pasok auf 12 Prozent, die Syriza nur noch auf 10,5 Prozent, gleichauf mit der KKE (Kommunistische Partei Griechenlands). Wenn sich diese Trends fortsetzen, dürfte die Syriza schon in nächster Zeit auf die vierte Position abrutschen.(24)
Die zuletzt genannte Umfrage bietet die bislang detailliertesten Hinweise auf die „Risiken und Nebenwirkungen“ des Phänomens Kasselakis für die gegenwärtige Syriza. 23 Prozent der Befragten, die noch im Juni 2023 Syriza gewählt haben, sehen den neuen Parteichef als Vorteil für die Partei, gegenüber 68 Prozent, die ihn für einen Nachteil halten. Auf die Frage, welche Partei von den Querelen in der Syriza unter der neuen Parteiführung am meisten profitieren wird, nennen 35 Prozent die Pasok, 33 Prozent die ND und 6 Prozent die KKE.
Was das Image und die Akzeptanz des Parteichefs betrifft, so ist das Ergebnis eindeutig. Ein positives Bild von Kasselakis haben nur 11 Prozent der Befragten, womit er unter den Parteivorsitzenden an 6. Stelle liegt, weit hinter Mitsotakis mit 33 Prozent. Und selbst bei den früheren Syriza-Wählern hat er nur bei 15 Prozent ein positives, bei 43 Prozent dagegen ein negatives Image.
Für Kasselakis am niederschmettterndsten fällt das Ergebnis bei der Frage aus, wem man eher das Amt Ministerpräsidenten anvertrauen würde. Hier kommt Mitsotakis auf 39 Prozent, der neue Syriza-Vorsitzende auf ganze 5 Prozent (39 Prozent erklären, dass kein Parteiführer ihr Vertrauen habe). Bei der entsprechenden Frage lag Alexis Tsipras früher zwar stets deutlich hinter Mitsotakis zurück, kam aber in der Regel immerhin auf 25 bis 30 Prozent.
Zwei Szenarien und ein drittes
Wie könnte es mit einer von Kasselakis geführten Rumpfpartei weitergehen und welche Wahlchancen hätten eine oder mehrere linke Gruppierungen, die aus der Syriza ausgeschieden sind? Das ist aus heutiger Sicht schwer zu sagen, argumentiert Kaki Bali, die Athener Korrespondentin der Deutschen Welle (DW). Dennoch entwirft sie zwei konkurrierende Szenarien:
Das erste läuft unter dem Titel „Auflösung und Rückkehr zur Bedeutungslosigkeit“: Sollte die Syriza bei den Europawahlen weitere Stimmen verlieren, insbesondere an die Pasok und die KKE, „könnte sie bei den nächsten Parlamentswahlen 2027 auf einstellige Werte sinken“. Damit hätte sie als potentielle Regierungspartei ausgespielt.
Das zweite wäre eine Art „Wunderheilung“: Mit Kasselakis an der Spitze könnte „eine neue Partei entstehen, eine Partei der Mitte, modern und populistisch, die wieder Wahlen gewinnen kann“.
Das zweite Szenario hält Kaki Bali für nicht sehr realistisch, aber auch nicht für unmöglich. Es setzt allerdings zwei Dinge voraus: Erstens, dass Kasselakis mit einer patriotisch-populistischen Partei auf dem umkämpften Feld der linken Mitte die Pasok besiegt; um den Verlust des linken Wähleranhangs mindestens zu kompensieren.(25) Und zweitens, dass der junge Mann nicht die Lust verliert.
Damit sind wir bei einem dritten Szenario, das ebenfalls nicht undenkbar ist. Es führt zurück zu der Frage, wer Stefanos Kasselakis ist. Mit seinem Auftreten und Gehabe eines autoritären Parteichefs bestätigt er folgendes Bild: Ein junger talentierter Mann, der zur Selbstüberschätzung neigt, fühlt sich nach dem unerwarteten Geschenk einer Parlamentskandidatur zu Höherem berufen. Dass es so flott ging, hat sein Ego weiter aufgepumpt. Aber die Luft könnte rasch entweichen, wenn die Erfolgsstory nicht reibungslos verläuft oder mit mehr Mühen verbunden ist als erwartet.
Was macht ein junger Selfmademan, wenn er merkt, dass sich das unternehmerische Risiko nicht auszahlt? Er beendet „das Intermezzo zwischen zwei Kapiteln meiner Business-Karriere“ (Zitat Kasselakis vom 14. Juli) und entwickelt eine andere Geschäftsidee. Oder er zieht sich mit seinem „auskömmlichen Vermögen“ wieder nach Florida zurück.
Die Folgen für die griechische Linke ...
Wie lange die Syriza danach noch weiter existiert, ist eine andere Frage. Aber schon heute zeichnet sich ab, was der Zerfall der Partei für die griechische Linke insgesamt bedeutet. In dem politischen Spektrum links der Mitte werden künftig mindestens fünf Parteien miteinander konkurrieren: die KKE, zwei oder mehr Syriza-Fragmente, die ebenfalls der Syriza entstammende Varoufakis-Partei MeRA24, und die Pasok. Und alle zusammen würden nach den jüngsten Umfragen nicht einmal mehr auf 40 Prozent der Wählerstimmen kommen.
...und für die Regierung Mitsotakis
Eine derart zersplitterte Linke ist ein Geschenk des Himmels (mittels Stefanos Kasselakis) an die seit 2019 regierende Nea Dimokratia des Kyriakos Mitsotakis. Die Rechte dominiert die politische Landschaft „wie noch nie zuvor seit 1974“, heißt es in der Kathimerini (7. Oktober 2023). Auf absehbare Zeit ist es so, als spiele die ND ein Fußballmatch ohne Gegner, schreibt die EfSyn (16. November). Mitsotakis und seine Partei können „unbehelligt tun, was sie wollen“ befindet die News 24/7 (13. November), weshalb sie Wahlen nicht zu fürchten haben. In den Umfragen liegt die ND um 24 Prozentpunkte vor der zweitstärksten Partei (mittlerweile die Pasok). Und das obwohl nur 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler mit ihrer Politik zufrieden sind. Und obwohl die Regierung Mitsotakis in den Krisen und Katastrophen der letzten sechs Monate so viel Schwächen gezeigt und so viel Fehler gemacht hat, dass der Mythos vom perfekt durchorganisierten Staat längst zertrümmert ist. Aber die Linke wird auf absehbare Zeit damit beschäftigt sein, ihre eigenen Trümmer zu sortieren.
Nachbemerkung
Manche Leserinnen oder Leser mögen enttäuscht sein, dass in diesem Text keine Theorien darüber geboten werden, welche Hintermänner oder ganze Kapitalgruppen das „Phänomen Kasselakis“ in die Welt gesetzt oder finanziert haben. Natürlich sind solche Theorien in Griechenland im Umlauf (sogar mit Namen); manche davon sind unwahrscheinlich, keine ist ganz ausgeschlossen. Aber solange es keine Beweise über verdächtige Figuren gibt, bietet das hier skizzierte Bild der Person Kasselakis eine hinreichende Erklärung.
Anmerkungen
1) Der Satzungsänderung stimmten 75 Prozent der Delegierten zu, Opposition kam damals nur von der Parteilinken um Efklidis Tsakalotos.
2) Eine selbstkritische Diskussion über die folgenreiche Satzungsänderung hat in der Syriza seit dem 24. September nicht stattgefunden. Nur einzelne Personen wie die Parlamentsabgeordneten Sia Anagnostopoulou bekannt sich zu einem mea culpa für diese Fehlentscheidung. (Ta Nea vom 7. November 2023)
3) Vor der Kandidatur von Kasselakis verlautete aus Parteikreisen, man sei schon mit einer Beteiligung von 50 000 zufrieden.
4) Bei der Stichwahl war nur stimmberechtigt, wer der Partei vor dem 17. September beigetreten war; vor dem zweiten Wahlgang konnten also keine neuen Mitglieder mehr dazukommen.
5) Beim zweiten Wahlgang blieben sogar noch mehr Altmitglieder zu Hause. Beim ersten Wahlang hatten noch 61,2 Prozent von ihnen abgestimmt, bei der Stichwahl sank ihre Beteiligung auf 53 bis 55 Prozent. Diese Prozentzahlen beziehen sich auf die Zahl von172 000 Altmitgliedern (Stand 2022).
6) Dem von linken Syriza-Mitgliedern geäußerten Verdacht, dass zwei der 30 Unterschriften gefälscht waren, wurde nie nachgegangen.
7) Tsipras hat mehrfach angedeutet, dass er schon nach der ersten Wahlniederlage im Mai zurücktreten wollte; er habe sich aber dem Argument gebeugt, dass er die Partei vor den zweiten Wahlen im Juni nicht noch weiter schwächen dürfe.
8) Diese Kampagne wird von Giorgos Stathakis beschrieben; siehe die Erklärung, die der ehemalige Wirtschaftsminister der Tsipras-Regierung zu seinem Parteiaustritt abgegeben hat (News 24/7 vom 7. November 2023).
9) So Tsakalotos im ersten TV-Interview nach seinem Parteiaustritt im TV-Sender Attica, zitiert nach: EfSyn vom 14. November 2023. Der Verdacht gegen Tsipras in der Parteilinke wurde aber schon früher artikuliert, siehe den Bericht in Kathimerini vom 11. Oktober 2023.
10) Genau das fordert der EfSyn-Redakteur Dimitris Psarras in seinem Text „Das Rätsel der Kasselakis-Wahl“ vom 27. September 2023.
11) Apostolakis ersetzte damals den Rechtspopulisten Kammenos, der aus Protest gegen das Prespa-Abkommens mit Nordmazedonien zurückgetreten war. Siehe dazu die Texte auf diesem Blog vom 19. Dezember 2018 und vom 21. Februar 2019.
12) Das könnte auch im Interesse von Kasselakis liegen, der als Parlamentsmitglied seine Vermögensverhältnisse offenlegen müsste. Das hat er bisher nicht getan. Auch nicht gegenüber der eigenen Partei, die ihn dazu allerdings auch nicht aufgefordert hat, obwohl die anderen Kandidaten für den Parteivorsitz als Parlamentsglieder die entsprechenden Auskünfte gegeben haben.
13) So der Rechtsanwalt von Vater Kasselakis in einem Interview mit MEGA-TV am 31. August 2023.
14) So die Darstellung seiner Karriere in der Wochenzeitung Proto Thema vom 28. September 2023, ebenso Kathimerini vom 4. September 2023.
14) Noch kurz vor seiner Kandidatur bekannte Kasselakis , er habe seit 2012 eine „hervorragende Beziehung zu Mitsotakis“ entwickelt und hege für seine Person „nach wie vor große Hochachtung“ (Kathimerini vom 14. Juli 2023).
15) Mega-TV vom 25. September, zitiert von Dimitris Psarras in EfSyn vom 21. Oktober 2023.
16) Nicht nachprüfbare Behauptung von Kasselakis in einem Interview mit Ethniko Kiryx vom 20. Mai 2023.
17) Kasselakis hat dem entsprechenden Bericht auf der Website The President.gr vom 12. Oktober 2023 in der Substanz nicht widersprochen. Man könnte zu seinen Gunsten annehmen, dass ihn die Präsidentschaft von Donald Trump auf den Pfad der Demokraten zurückgebracht hat.
18) Umfrage von Metron Analysis, präsentiert in MEGA-TV am 14. September 2023. Interessant ist auch ein weiteres Ergebnis dieser Umfrage: Die Zustimmungswerte für Achtsioglou lagen bei der Syriza-Wählerschaft deutlich höher als die von Kasselakis, bei den Syriza-Mitgliedern dagegen nur gleichauf mit Kasselakis.
19) In Radio Skai am 16. September 2023, zitiert nach: Parapolitika vom selben Datum. Marantzidis hat Tsipras im Wahlkampfjahr 2023 beraten; bei der Wahl des Tsipras-Nachfolgers hat er Effi Achtisoglou unterstützt.
20) Die „schiere Absurdität“ dieser Wahl eines Unbekannten hat der scharfsinnige Kolumnist Nikos Konstandaras (nach dem ersten Wahlgang) so beschrieben: „Die Mitglieder, die für ihn gestimmt haben, sahen es nicht als Problem, dass sie ihn nicht kennen – sie gaben ihm ihre Stimme gerade weil sie ihn nicht kennen.“ (Kathimerini vom 22. September 2023)
21) So die politologische Analyse von Philippa Chatzistavrou und Orestis Chatzijiannakis in News 24/7 vom 27. September 2023.
22) Im TV-Sender Antenna am 16. November, siehe EfSyn vom 18. November 2023.
23) Im Gegensatz dazu hat die Pasok bei den Kommunalwahlen gut abgeschnitten und stellt in Athen sogar den neuen Bürgermeister, der sich in der Stichwahl (mit den Syriza-Stimmen) gegen den ND-Bürgermeister (und Neffen von Mitsotakis) Kostas Bakoyannis durchsetzen konnte.
24) Die Umfrage von prorata wurde vom 15. bis 20. November erhoben. Die einzelnen Ergebnisse in der EfSyn vom 21. November 2023.
25) Nach der zitierten prorata-Umfrage hätte eine Partei, die sich um die aus der Kasselakis-Partei ausgeschiedenen Syriza-Fraktion bilden könnte, immer noch ein Wählerpotential von etwa 11 Prozent.