Khamenei neben Elvis
Die politischen Bilderwelten des Iran und ihre verborgenen Botschaften von Charlotte Wiedemann
Wer in diesen Tagen nach Teheran kommt, sieht am Valiasr-Platz einen erstaunlichen Beweis iranischen Selbstbewusstseins. Auf einer Kunststoffwand, die eine ganze Hausfront überspannt, durchquert eine Menschenmenge mit Porträts von Khomeini und Revolutionsführer Khamenei in Mosesmanier wogende Meeresfluten. „Unser Wille teilt die Wasser!“
So viel auftrumpfender Nationalstolz könnte zu einem neuen Iran passen – als Regionalmacht immer wichtiger und zugleich in vorsichtiger Annäherung an den Westen. Das Mosesbild hängt indes schon etwas länger an dem zentralen Teheraner Kreisverkehr, und deshalb lässt sich das Motiv auch so deuten: In Isolation und schweren Zeiten hilft nur Vertrauen in eine theokratische Führung.
Die Ansicht, der Islam verbiete Bilder, wird nirgendwo so vehement dementiert wie in Iran. Die Islamische Republik ist geradezu eine Republik der Bilder; sie lassen die Atmosphäre, die Anmutung dieses Systems spüren, oft – wie beim Mosesmotiv – durchaus mit einer gewissen Ambiguität. In einem Staat, der selbst ein Hybrid aus theokratischen und republikanischen Elementen ist, sind die Bilderwelten umkämpfte Landschaften; hier zeigen sich neue Spielräume der Gesellschaft ebenso wie die Machterhaltungsstrategien der Herrschenden.
Als ich vor mehr als zehn Jahren zum ersten Mal die riesenhaften Märtyrergemälde auf Teheraner Hauswänden sah, meinte meine iranische Begleiterin: „Wir sehen diese Bilder gar nicht mehr; sie sind für uns wie Bäume.“ Ein bemerkenswerter Satz, die Wirkung von Propagandabildern relativierend, die immerhin bis zu sechs Stockwerke hoch sind. Junge Männer, fotografisch genau porträtiert, vor blauem Himmel und weißen Wolken, das Paradies andeutend, zu ihren Füßen oft blutrote Tulpen, Symbol des Märtyrertums.
Mittlerweile sind diese Bilder auch für mich ein wenig wie Bäume geworden, Teil einer Stadtlandschaft, einer unverwechselbaren Ästhetik, wie die schlanken Silhouetten schwarz gekleideter Studentinnen. Und doch erzählen die Megabilder etwas Wesentliches über den heutigen Iran: wie stark sein ideologischer Überbau der Vergangenheit zugewandt ist.
Der opferreiche irakisch-iranische Krieg fand vor drei Jahrzehnten statt, er hat die Psychologie der damals jungen Republik stark geprägt. Obwohl in diese Phase auch die schlimmsten politischen Säuberungen fallen, erinnern viele Iraner die Kriegsjahre als eine Zeit der Solidarität, der Geschlossenheit, in der es noch möglich war, an das Ursprungsideal der Revolution, soziale Gerechtigkeit, zu glauben. Das Gedenken an die Kriegstoten verbindet sich dabei mit einem religiösen Märtyrerkult, der auf die Anfänge der Schia im 7. Jahrhundert zurückgeht, auf die Ermordung Husseins in der Schlacht bei Kerbela.
„Das Märtyrertum ist die Erbschaft des Propheten und seiner Familie an die Nachfolgenden“, verheißt ein drei Stockwerke hohes Gemälde, auf dem der Prophet mit Heiligenschein und verhängtem Gesicht zärtlich einen Toten im Arm hält.
Für die regierungsnahen Organisationen, die solche Bilder finanzierten, ging es natürlich immer auch um den Staat. Die Islamischen Republik erfährt im Märtyrerkult quasi eine doppelte Legitimierung: durch die Opfer im Krieg und durch die religiöse Ermächtigung. Neben dem Märtyrertum sind Antiamerikanismus und Israelfeindlichkeit die Motive der spektakulärsten Großbilder aus früheren Zeiten – ideologische Bindemittel, die heute nur noch bei einer Minderheit wirken. Doch ist es nicht leicht, als Ersatz neue Bindemittel zu finden. Dafür bräuchte die Islamische Republik einen positiven, in die Zukunft gerichteten Gesellschaftsentwurf.
In der Onlinebibliothek der Harvard-Universität kann man eine Sammlung von 130 Wandgemälden betrachten; fotografiert hat sie die amerikanische Politikwissenschaftlerin Fotini Christia.1 Das Motiv „Ich habe den Pharao von Ägypten getötet“ zeigt einen bärtigen Mann im grünen Pullover, der durch die Gitter seiner Gefängniszelle hindurch einen Koran hochhält. Es handelt sich um Chalid Islambuli, der 1981 Anwar as-Sadat ermordete, weil er das Camp-David-Friedensabkommen mit Israel unterzeichnet hatte. Iran hatte damals seine diplomatischen Beziehungen zu Ägypten abgebrochen und feierte den Präsidentenmörder nach seiner Exekution als sechs Stockwerke großen Märtyrer.
Es wurde auch eine Straße nach ihm benannt, die allerdings nach Wiederaufnahme der Beziehungen zu Ägypten höflich in Intifada-Straße umgetauft wurde. Das Gemälde hingegen blieb. So fungieren die Bilder, soweit sie nicht der Bauwut zum Opfer fielen, auch als visuelles Archiv früherer Phasen der Islamischen Republik. Politiker, die im Machtkampf nach der Revolution durch Attentate umkamen, blicken hier und da noch aus verwitterten Porträts, garniert mit Khomeini-Zitaten, die für junge Iraner völlig kryptisch sind.
Die farbenfrohe realistische Wandmalerei, die kurz nach der Revolution entstand, war weniger von islamischer Kunst geprägt als von den Traditionen der lateinamerikanischen und europäischen Linken – so wie manche damaligen Lieder leicht kubanisch klangen. Der Stil der Gemälde ist heute eines der letzten Zeugnisse, aus welch breiter Bewegung die iranische Revolution hervorging.
Die Sprache der Kunst wurde früh als Waffe entdeckt, als Instrument, um die eigenen Leute in einem nervösen Zustand der Mobilisierung zu halten und zugleich den Gegner zu demoralisieren. Der Klassiker dieses Genres ist die Bemalung der ehemaligen US-Botschaft: die Freiheitsstatue mit Totenschädel – von westlichen Medien viele Jahre als Symbolbild für Iran benutzt. Die Exbotschaft ist heute ein Ort, wo Hardliner ihre Anhänger versammeln; Kundgebungen von bescheidener Größe. Auch hier geht es vorrangig um die Produktion eines Bildes, um Medienwirkung. Die antiamerikanische Malerei im Hintergrund dient der Selbstvergewisserung gerade in Zeiten einer vorsichtigen Annäherung an die USA. Nach der Einigung auf ein Rahmenabkommen im Nuklearstreit wurde Barack Obama live im Staatsfernsehen übertragen, während von einer Hauswand immer noch US-Bomben herabregnen, mit Stars and Stripes als Schweif.
Porträts in der Moschee müssen zum Gebet verhüllt werden
Ein Prophetenwort, wonach die Engel kein Haus betreten, an dem sich Bilder von beseelten Wesen befinden, wird in Iran als ein sogenanntes schwaches Hadith betrachtet, dessen Überlieferungskette nicht ausreichend belegt ist. Das schiitische Onlineportal islamquest.net sagt dazu: „Nach Ansicht der meisten Juristen gibt es keinen Einspruch gegen Porträts, Skulpturen und (nichtprovozierende) Bilder in Häusern, öffentlichen Einrichtungen und auf Plätzen.“
Im Hinblick auf die beiden Lordsiegelbewahrer der Islamischen Republik gilt sogar ein Bildergebot, ein Bilderzwang: Die Porträts von Khomeini und von Ali Khamenei, dem geistlichen Führer, sind Pflicht in jedem öffentlichen Gebäude, in jedem Restaurant und selbst im kleinsten Café. Ein ungleiches Paar. Khomeini düster, der dunkle Blick in die Ferne gerichtet, seitlich am Betrachter vorbei. Ein Unerreichbarer, mit einer Aura von Einzigartigkeit. Khamenei hingegen schaut den Betrachter direkt an, durch eine dicke Brille, die ihm einen Anstrich von Harmlosigkeit verleiht. Khamenei ist seit dem Tod des Übervaters 1989 im Amt und wuchs nie in dessen Schuhe hinein. Die Bilder bringen das zum Ausdruck, obwohl sie stets in gleicher Größe auf gleicher Höhe hängen.
Khamenei leidet an Krebs. Wie die Bilderpolitik nach seinem Tod weitergeführt wird, ist ein Tabu. Natürlich gibt es Iraner, die diese Bilder aus Liebe aufhängen, zumal zu Khomeini. Andere können ihre Distanz allenfalls durch Ironie ausdrücken: In einem minimalistisch dekorierten Isfahaner Edelcafé hängen K. u. K. in Goldrahmen.
Bilder und Skulpturen von Wesen, die eine Seele besitzen, machen einen Ort religiös „unrein“, hatte Khomeini geschrieben. Unrein bedeutet: Der Ort ist nicht zum Gebet geeignet. Streng genommen dürften also die Porträts von Khomeini und Khamenei überall hängen außer in Moscheen. In der Tat markieren die Bilder der wichtigsten religiösen Führer gerade den säkularen Raum – eine der vielen Paradoxien der Islamischen Republik.
Doch gibt es im Iran keine Regel, die nicht verletzt würde. Und so hängen heute durchaus Bilder von K. u. K. in einigen Moscheen; wenn sie so angebracht sind, dass die Gläubigen sie beim Gebet sehen könnten, müssen sie allerdings zu diesen Zeiten abgedeckt werden. Was Märtyrerbilder betrifft, so hatte schon Khomeini entschieden: Sie sind in Moscheen erlaubt!
In den letzten Jahren ist die Todesmetaphorik der Wandgemälde allmählich zurückgetreten zugunsten lichterer Themen. In einem ärmeren Wohngebiet kann sich plötzlich hinter einem Müllcontainer die Aussicht auf einen betörend grünen Wald mit Rehen eröffnen, eine Verschönerungsmaßnahme seitens der Stadtverwaltung.
Andernorts halten lächelnde junge Menschen dem Betrachter ihre Zeugnisse entgegen: schulischer Erfolg als Vorbild. Die Besitzer von Privathäusern, deren Genehmigung erforderlich ist, bevor die Malerarbeit beginnen kann, bevorzugen heute oft Motive ohne offenkundige politische Botschaft.
Khomeini darf mittlerweile mit freundlicher Miene dargestellt werden, obwohl die klassisch düstere Variante weiter überwiegt. Es zählt indes auch das Umfeld des Porträtierten: Zeigt ein Foto einen Kontext von Armut, etwa einen mageren Schneider in einer Werkstatt, und an der Wand hinter ihm klebt ein Bild von Khomeini, dann hat dieses Foto kaum eine Chance auf Veröffentlichung. Denn es könnte als Anklage gegen den Staatsgründer verstanden werden.
Um eine kompromittierende Nähe zu anderen Bildern zu vermeiden, sind die K.- u. K.-Porträts in öffentlichen Gebäuden meist etwas isoliert angebracht. In der Teheraner Vahdat-Halle, dem wichtigsten Haus für Konzerte, Theater, gelegentlich Oper, hängen die beiden so hoch unter der Decke, dass es unmöglich ist, gleichzeitig das Geschehen auf der Bühne und die beiden Führer zu sehen. Im Museum für zeitgenössische Kunst hängen sie als Gemälde im Treppenaufgang, weit genug entfernt von allen ausgestellten Werken.
In einem privat betriebenen Boulevardtheater fand ich Khamenei hingegen nur wenige Meter von einem Elvis-Poster entfernt, auf gleicher Höhe! Der Kontrast zwischen öffentlichem und privatem Raum ist im Iran bekanntlich immens – nun gilt offenkundig auch in der privaten Wirtschaft mehr Laisser-faire. Ein Geschäft für Gemälde in bester Lage auf dem Valiasr-Boulevard: auf zwei Stockwerken Kitsch aller Art, der sich keineswegs an die Vorschrift hält, Frauen nur bedeckt darzustellen. Halb entblößte laszive Gestalten, verführerisch posierende junge Mädchen vom Typ Südländerin. Westlicher Orientalismus, iranisch kopiert. Auf meine Frage, ob es keine Probleme gäbe mit solchen Bildern, lachte der Verkäufer nur und sagte: „Ohne Rahmen lassen sie sich rollen.“
Andererseits kann es vorkommen, dass auf einer historischen Darstellung der Hidschab nachträglich hinzukomponiert wird. In einem Museum können die Besucher auf einem Display Fotos aus dem Archiv des Kulturministeriums betrachten; sie sehen Schauspielerinnen aus dem frühen 20. Jahrhundert, denen dilettantisch weiße Kopftücher aufgemalt wurden.
Wer an die Macht der Bilder glaubt, glaubt auch an die Macht des Verbergens. Kürzlich verkündete die Justiz, es sei den Medien verboten, Äußerungen und Bilder des reformorientierten früheren Präsidenten Mohammed Chatami2 zu zeigen. Die Justizbehörden sind eine Bastion der Konservativen; sie können Chatami seine Unterstützung der Demokratiebewegung des Jahres 2009 nicht verzeihen. Seine Anhänger beantworteten das Verbot in den sozialen Medien mit Bilderfluten. Zwei Websites wurden zeitweise gesperrt, weil sie das Verbot missachteten. Online wurden auch Fotos gezeigt, auf denen man sah, wie an Universitäten Chatami-Bilder hochgehalten wurden.
Wenige Tage nach Verkündung des Verbots im Februar starb Chatamis Schwester Fatemeh. Der Vater der beiden war ein berühmter Ajatollah, ein enger Freund Khomeinis – ein Trauerfall in einer solchen Familie ist im Iran ein offizielles Ereignis. Die staatstreuen Medien standen also vor der Herausforderung, den Beerdigungszug abzubilden, ohne dabei den Bruder der Verstorbenen in der ersten Reihe zu zeigen. Andererseits nutzte Präsident Rohani die Gelegenheit, durch eine Kondolenzbotschaft Chatamis Isolation zu durchbrechen, und das ermutigte wiederum einige Medien, doch ein Bild des Verfemten zu zeigen.
Wenn politische Häftlinge entlassen werden oder auf Hafturlaub sind, werden Fotos ins Netz gestellt, die zeigen, dass Freunde und Getreue zum Hausbesuch gekommen sind. Nur ein Stillleben mit Teegläsern, doch ein wichtiges Signal. Nach dem Amtsantritt von Rohani tauchten plötzlich wieder Bilder jener Reformpolitiker auf, die zuvor durch Schauprozesse und erzwungene Geständnisse gedemütigt worden waren. Sie hatten sich verborgen gehalten, nun zeigten ihre Bilder, dass sie der veränderten Atmosphäre trauten.
Ein Symbolbild besonderer Art entstand im Mai 2014: Man sieht darauf zwei Dutzend iranische Menschenrechtler und Journalisten, die sich in einem Wohnzimmer versammelt haben, in ihrer Mitte steht auf dem Teppich ein großes Schwarz-Weiß-Foto. Es zeigt den Vorstand der Bahai-Gemeinde, allesamt nun schon seit sechs Jahren im Gefängnis. Am Jahrestag der Verhaftung entstand das Wohnzimmerbild: als Ausdruck der Solidarität mit einer Minderheit, über deren Verfolgung sonst eine Decke des Schweigens liegt.
Natürlich ist die Bedeutung von Bildern im Iran nicht auf die politische Sphäre begrenzt. Design ist wichtig; Plakate und Buchcover werden mit Hingabe gestaltet, und die Werke bekannter Grafiker werden wiederum in Buchform gesammelt und im Museum verkauft.
Zu den offiziellen Festivals, mit denen der Staat jedes Jahr Fajr feiern lässt, die „Morgenröte“, den Sieg der Revolution, zählt auch eines für Visual Art. Dass die Islamische Republik kunstfeindlich sei und damit die Kulturgeschichte Persiens verrate, war immer nur ein Teil der Wahrheit. Staat und Kunst gleichen ineinander verkeilten Ringern; beide brauchen einander, und sie ringen zumindest heutzutage gelegentlich sogar auf Augenhöhe. Als iranische Künstler ein Plakat für ein internationales Festival wegen seines misslungenen Designs im Netz verspotteten, wurde es vom Kulturministerium hastig zurückgezogen.
Das Teheraner Museum für zeitgenössische Kunst will Picasso, Warhol, Pollack aus langer Dunkelhaft entlassen: Die wertvolle Sammlung moderner Werke, während der Schahzeit von Gattin Farah Diba zusammengekauft, soll in Europa und den USA auf Tournee gehen. Das Vorhaben passt zu Irans neuer Selbstdarstellung: als Kulturnation, die dem Westen auf Augenhöhe begegnet und einen Gegenpol zum kunstfeindlichen sunnitischen Extremismus darstellt.
Die Zerstörungen von Altertümern im Irak und die Ermordung der Zeichner von Charlie Hebdo haben im Westen der Vorstellung von einem generellen islamischen Bilderverbot neue Nahrung geliefert. Im Koran steht jedoch nichts Derartiges. Seit Beginn des Islam besteht lediglich Einigkeit, dass Gott nicht dargestellt werden dürfe. Muslimische Künstler haben zunächst auch den Propheten gezeichnet; erst im 15. Jahrhundert wurde es üblich, ihn ohne Gesichtszüge darzustellen.
Die berühmten persischen Miniaturen mit ihren figürlichen Darstellungen waren keine Ausnahmeerscheinungen in einer sonst bilderlosen muslimischen Welt, doch sie erzählen von einer besonderen künstlerischen Blüte. Zu den begünstigenden Faktoren zählte die Förderung durch die Fürstenhöfe: ein Mäzenatentum, das sich mit jenem in Florenz vergleichen lässt.3 Und: Die iranische Kunst sog zentralasiatische, fernöstliche und später europäische Einflüsse auf und blieb dennoch lange etwas Eigenständiges. Erst im 20. Jahrhundert überwog immer mehr westliche Machart. In der Kunst begann etwa ab 1940 eine Debatte, deren politisches Pendant schließlich zur Revolution führen würde: Die Suche nach einer Modernität, die etwas anderes sein sollte als eine (schlechte) Nachahmung des Westens.
Kürzlich zeigte das Museum für zeitgenössische Kunst, was in der Malerei als Ausdruck dieser Identitätssuche entstanden ist. Dazu zählten vorrevolutionäre Werke ebenso wie der später staatlich geförderte „islamische Stil“ – und beides wurde in der Ausstellung bemerkenswerterweise unter den Titel „Neotraditionalismus“ gestellt. In der Kunst wie in der Gesellschaft sind die Fragen aus der Zeit vor der Revolution eigentlich immer noch offen: Was ist genuin iranisch, und wie westlich wollen wir sein?
Die Islamische Republik mag Skulpturen. Das fällt heute besonders auf, da andernorts, etwa in Nord-Mali, extreme Salafisten selbst säkulare Halbreliefs abschlagen, weil sie vermeintlich vom Monotheismus ablenken. Iran schleust derweil möglichst viele Touristen zu den Reliefs von Persepolis. Und den Eingang zu Teherans wichtigstem Konzerthaus flankiert ein west-östliches Duo: Büsten von Chopin und von Rudaki, einem persischen Dichter.
Im Teheraner Golestan-Palast empfangen die einstigen Hausherren der Kadscharen-Dynastie4 als lebensgroße Wachsfiguren. An den Knöpfen ihrer knielangen Jacken funkeln Diamanten. Den prächtigsten Rock trägt Naser ad-Din Schah, fast 50 Jahre lang absoluter Regent, von 1848 bis 1896. Der Golestan-Palast ist ein faszinierender Ort, weil man hier, durch erschöpfend viele Gebäude und Säle wandernd, immer wieder aufs Neue sieht, wie sich der frühere Iran mit europäischen Einflüssen ästhetisch auseinandersetzte – ohne sich ihnen so zu unterwerfen wie später im 20. Jahrhundert.
Im Spiegelsaal des Palasts steht Irans berühmter Maler Kamal-ol-Molk5 als Wachsfigur vor seiner Staffelei; er malt hier noch einmal sein bekanntestes Werk: Naser ad-Din Schah im Spiegelsaal. Auf dem Gemälde ist der Saal allerdings gigantischer, höher, spiegelnder als in der schnöden, leicht verstaubten Wirklichkeit, in der man nun als Betrachter steht. Womöglich geht es vielen Iranern ähnlich, wenn sie auf ihre Geschichte blicken, die ihnen vom heutigen Standpunkt postrevolutionärer Erschöpfung aus so lichtdurchflutet erscheint.
Kamal-ol-Molk gilt als Begründer der modernen Malerei Irans, und es ist kein Zufall, dass er die Moderne auch politisch unterstützte und sich 1906 der Bewegung für eine konstitutionelle Revolution anschloss. Aus der Schule, die er gründete, gingen angesehene Maler und Malerinnen hervor, denen seit Kurzem der Flügel eines Museums gewidmet ist. Dies alles atmet die Normalität eines großen Landes; es ist nicht so, dass die Islamische Republik ständig auf Kriegsfuß mit der Vergangenheit steht.
Kürzlich wurde eine Statue für Yahya Adl enthüllt, einst Bridge-Partner des Schahs und heute trotzdem als „Vater der modernen Chirurgie“ verehrt. Zur Schahzeit führte er die erste Herzoperation durch; heute sind es im Iran jährlich 50 000.
Eine ganz andere Botschaft verkörpert die bronzene Büste einer verschleierten Frau am Rande des Teheraner Lale-Parks: Es handelt sich um Marwa al-Sherbini, die in einem Dresdner Gerichtssaal erstochen wurde; zuvor hatte sie sich juristisch gegen islamfeindliche Beleidigungen gewehrt. Hier steht die Ägypterin als „Märtyrerin für Würde und Hidschab“. Die Büste hat wenig Ähnlichkeit mit dem Opfer, auch die Informationstafel ist nicht korrekt. Propagandakunst; nahebei befindet sich die Hidschab-Straße, ein Hidschab-Hotel und der Hidschab-Frauensportkomplex.
Vor einigen Jahren lernte ich in Täbris einen älteren Bildhauer kennen, ein exaltierter, eitler Mann. Er hatte vor der Revolution den Schah modelliert, immer wieder den Schah. Er machte mir die Posen vor, Arm vorn, Arm hinten. Dann wurden die Statuen zerstört, und der Bildhauer vernichtete vorsichtshalber sogar die Fotos seiner Werke. Später war er eine Weile in Frankreich, kam dann zurück und machte nun Kunst im Auftrag der Regierung. Volkshelden, Märtyrer, Aufträge satt. „Dieses Regime“, sagte der Bildhauer, „ist eine große Chance für mich.“ Amüsiert fügte er hinzu: „Natürlich alles islamisch korrekt.“ Neben dem Esstisch stand eine vergoldete nackte Schöne, eines seiner Werke aus der Schahzeit, seit mehr als 30 Jahren im Haus verborgen. Der Bildhauer wollte sich damit nicht fotografiert lassen.
Während der Präsidentschaft von Mahmud Ahmadinedschad gab es den Versuch, für Männer eine Haartracht durchzusetzen, die eine bestimmte Länge nicht überschreiten durfte. Spötter verwiesen damals auf die Bilder zweier hochverehrter Langhaariger: Imam Ali, Vetter des Propheten, und sein Sohn Hussein, dessen Tod alljährlich am Aschura-Tag gedacht wird. Die beiden wichtigsten schiitischen Märtyrer werden stets als Inkarnation männlicher Schönheit dargestellt, leuchtender Blick, sanft gewelltes Haar und eine Halsmuskulatur wie aus dem Fitnesscenter. Die Bilder sind immens populär, werden im Trauermonat Muharram als Gemälde auf Rädern über die Straßen gezogen, sogar auf Motorhauben gesprüht.
Manches geht der Geistlichkeit zu weit: Ein Hussein mit kajaluntermaltem Schmelzblick und Popstar-Appeal ist angeblich untersagt, doch ignoriert der volkstümliche Islam solche Ermahnungen. Der Dekorreichtum heutiger Zeremonien ist ein erneutes Beispiel für die iranische Fähigkeit, Kulturen umzumodeln: Blutige Selbstgeißelungen sind seit der Revolution verboten; dafür hat die junge Generation in die Feierlichkeiten Popelemente eingeführt, von Soundeffekten bis zur Verbreitung neuer grafischer Icons. So tauchte letzthin plötzlich ein Schirm als Symbol für Hussein auf – wie immer der Schirm in die Wüste von Kerbela gekommen sein mag. Die Geistlichen schüttelten den Kopf.
Mitten im Streit über die Darstellung des Propheten trumpft der Iran mit einer neuen filmischen Trilogie über Mohammed auf; sie soll alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen. Majid Majidi, ein international bekannter Regisseur, hatte für den soeben fertiggestellten ersten Teil – 190 Minuten über Mohammeds Jugend – einen Etat von 30 Millionen Dollar, für iranische Verhältnisse eine Rekordsumme. In der Nähe der Stadt Ghom wurde für die Dreharbeiten ein Mekka des 6. Jahrhunderts gebaut. Mohammed selbst ist auf der Leinwand nicht zu sehen, dennoch passt der Film in die iranische Imageoffensive. Offizielle merken an: Nirgendwo in der sunnitischen Welt würde heute ein derartiges Projekt gewagt! Regisseur Majidi hat sich nicht gescheut, für die Produktion prominente nichtmuslimische Spezialisten zu holen.
George Clooney ist beliebt in Iran. Überhaupt stehen Filmstars hoch im Kurs, und Clooney könnte mit grauem Stoppelbart als Kommandeur der Revolutionsgarden durchgehen. Sein Gesicht wirbt in vielen Teheraner Schaufenstern für Omega-Uhren, doch als eine reformorientierte Zeitung ihn auf der Titelseite mit dem Zitat „Je suis Charlie“ abbildete, wurde sie verboten.
Es war schlechtes Timing. Am Tag, als das Blatt erschien, zeigte Charlie Hebdo auf seiner ersten Ausgabe nach dem Attentat erneut eine Mohammed-Karikatur. In dem Moment schlug im offiziellen Teheran die Stimmung um, von der Verurteilung der Morde an den Zeichnern hin zur Verdammung der Zeitschrift. So erklärt es mir jedenfalls Masud Schojai Tabatabai, der Leiter des „Hauses der Karikatur“, eines städtischen Instituts. Tabatabai hat einen Bachelor in Malerei und einen Master in Grafikdesign. Warum ruft so ein Mann, als Reaktion auf Charlie Hebdo, einen internationalen Karikaturenwettbewerb über den Holocaust aus? Und zwar schon zum zweiten Mal. Tabatabai erklärt das so: „Wir sind im Krieg, in einem Krieg der Bleistifte. Der Westen stellt unsere Religion infrage, also stellen wir infrage, was dem Westen heilig ist.“ Das Thema Holocaust scheint dabei nur ein Instrument zu sein. „Ich bezweifle nicht, dass es den Holocaust gab. Aber die Zahl der Opfer wurde übertrieben, im Interesse der Zionisten.“
Auf dem Wettbewerbsposter stapeln sich Stahlhelme – mit Hakenkreuz und mit Davidstern. Israelische und NS-Politik gleichzusetzen, Netanjahu mit Hitler, war bereits 2014 in einem Gaza-Wettbewerb durchgehendes Motiv. Ich fragte Tabatabai, ob für Karikaturisten in Iran die gleichen roten Linien, die gleichen Verbote gelten wie für Journalisten. „Es gibt mehr rote Linien“, antwortete er, „weil alles Visuelle so eindrücklich ist.“ So sei die Robe des Klerikers heilig an sich, kein Zeichner dürfe einen Geistlichen verspotten.
Zu Beginn des Gesprächs hatte der Grafiker die Opfer von Paris überraschenderweise „unsere Kollegen“ genannt; regimenahe Karikaturisten brachten direkt nach dem Attentat ihre Empathie zu Papier. Das zeigt, wie viel sich geändert hat seit dem Aufruf zum Mord an Salman Rushdie im Februar 1989. Heute gelten die Attentäter als Teil eines zu bekämpfenden sunnitischen Extremismus. Ein erneuter Wettbewerb, der den Judenmord ins Lächerliche zieht, ist die andere Seite. Sie zeigt, was sich nicht geändert hat.