Von der patriotischen Pflicht zum Huhn
DIE Vogelgrippe breitet sich in Thailand immer noch weiter aus. Zwar verspricht die Regierung, in Zukunft jeden Verdachtsfall sofort zu veröffentlichen, doch angesichts der Informationspolitik Bangkoks ist Misstrauen angebracht. Zu lange hatte es gedauert, bis die verantwortlichen Behörden reagierten. Denn schon Monate vor Ausbruch der Epidemie hatte man an Hühnerkadavern den Virustyp diagnostiziert, der dann die gefürchtete Geflügelpest verursacht hat.
Von ISABELLE DELFORGE *
Ob Thailand je sein ehrgeiziges Ziel erreichen kann, „die Küchen der Welt“ zu beliefern, sei dahingestellt. Der selbstbewusste Anspruch hat in jedem Fall unter den Folgen der Geflügelpest gelitten, die seit Mitte Dezember 2003 in Asien grassiert. Nachdem die japanischen, europäischen und südkoreanischen Aufsichtsbehörden die thailändischen Geflügelimporte gestoppt hatten, wurden seit Januar dieses Jahres 20.000 Tonnen ins Erzeugerland zurückgeschickt. Insgesamt mussten in acht asiatischen Ländern etwa 100 Millionen Vögel vorsorglich notgeschlachtet werden.1
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die schließlich Alarm schlug, hatte bereits 1997 den Verdacht bestätigt, dass der Virustyp H5N1 auch auf den Menschen übertragen werden kann. Besorgt sind die Gesundheitsbehörden vor allem wegen der Möglichkeit, dass eine gleichzeitige Infektion mit Vogel- und menschlichen Influenza-A-Viren zur Vermischung des Erbmaterials dieser Viren führen könnte. Das wiederum könnte die Konsequenz haben, dass das Virus künftig leichter von Mensch zu Mensch übertragbar wird. Als Präzedenzfall ist das schwere akute Atemwegsyndrom Sars noch in lebhafter Erinnerung.2 Von den 34 Personen, die im Frühjahr 2003 in Thailand und Vietnam an der Geflügelpest erkrankten, sind 24 gestorben.
Im April dieses Jahres veröffentlichte die WHO einen Bericht, in dem es heißt, „dass die in Teilen Asiens vorherrschenden Bedingungen eine Grippepandemie auslösen könnten. Pandemien, die in unvorhersehbaren Intervallen auftreten, sind stets von hoher Morbidität und Mortalität begleitet und führen zu schweren sozialen Verwerfungen und gewaltigen wirtschaftlichen Verlusten. Vorsichtige Schätzungen auf Grundlage mathematischer Modelle gehen davon aus, dass der nächsten Pandemie 2 bis 7,4 Millionen Menschen zum Opfer fallen könnten.“3
In Thailand, wo der Epidemie am meisten Menschen zum Opfer fielen, entwickelte sich die Geflügelpest in kürzester Zeit zu einer nationalen Krise. Denn die Geflügelzucht im Königreich Siam ist ein ausgesprochen lukratives Geschäft. Der weltweit viertgrößte Geflügelexporteur setzt 90 Prozent seiner Produkte, die ihm 981 Millionen Euro einbringen, im Ausland ab, vor allem in der Europäischen Union und in Japan.4 Der wirtschaftliche Verlust, der sich für den gesamten Produktionskomplex aus Futtermittelindustrie, Geflügelzucht, Weiterverarbeitung und Vermarktung ergibt, wird auf über 2 Milliarden Euro geschätzt. Nach Auskunft des demokratischen Oppositionsabgeordneten Tripol Jawjit waren insgesamt 670 000 Familienbetriebe von den Folgen der Epidemie betroffen.5
Das führende Unternehmen auf dem Geflügelmarkt ist Charoen Pokphand (CP), das größte Handelsimperium des Landes. Die multinationale Unternehmensgruppe mit Niederlassungen in über zwanzig Ländern ist hauptsächlich im Agrobusiness tätig. In Thailand dominiert sie neben dem Saatgutsektor aber auch die Telekommunikationsbranche, die Petrochemie und den Großhandel. Ihren Aufstieg verdankt die CP-Gruppe der in den 1970er-Jahren eingeführten intensiven Geflügelhaltung. Obwohl dieser Sektor heute nur noch 10 Prozent des Gesamtumsatzes erwirtschaftet, hat die Geflügelpest den Konzern nachhaltig erschüttert. Noch am selben Tag, an dem die Regierung den Ausbruch der Krankheit bekannt gab, fielen die CP-Aktien an der Börse von Bangkok um 12,5 Prozent, was einen Kursverfall auf breiter Front auslöste.
Die Geflügelpest stürzte das Land nicht nur in ökonomische Turbulenzen, sondern auch in eine tiefe politische Krise. Ministerpräsident Thaksin Shinawatra, einer der reichsten Unternehmer des Landes, setzte sich so offensichtlich für die Interessen der Exportwirtschaft ein, dass sich die Verbraucher und Kleinerzeuger verschaukelt fühlten. Seither beäugen sie nicht nur das Angebot auf dem Lebensmittelmarkt mit großem Misstrauen, auf Argwohn stoßen auch die Verlautbarungen der Staatsführung. Das wuchs sich zu einer Vertrauenskrise aus, die rasch auf die Haupthandelspartner des Landes übergriff.
Die thailändische Regierung reagierte auf die Epidemie mit Verschleierungsmanövern und Lügen, mit Inkompetenz und äußerst fragwürdigen Entscheidungen. Von offizieller Seite wurde viel zu spät anerkannt, dass es sich tatsächlich um eine Epidemie handelt. Und die Maßnahmen zur Eindämmung der Geflügelpest beschränkten sich auf selektive Eingriffe. Stattdessen veranstaltete man eine groß angelegte nationale Werbekampagne, in der der Konsum von Geflügel zur patriotischen Pflicht erhoben wurde. Die industrielle Geflügelzucht wurde weiterhin auf jede erdenkliche Weise unterstützt, was automatisch zu Lasten der bäuerlichen Kleinproduzenten ging.
Die Frauen im Schlachthaus wussten von nichts
UNTER dem Druck von Bürgerinitiativen und Oppositionsparteien räumte die Regierung am 23. Januar dieses Jahres die Existenz der Epidemie endlich ein – wobei sie sich zugleich gegen den Vorwurf verwahrte, sie habe die Angelegenheit vertuschen wollen. Wie inzwischen aus verschiedenen Quellen deutlich wurde, wussten die Verantwortlichen in der Industrie und in den Behörden aber durchaus, dass die Grippe sich schon seit Monaten ausbreitete. So hatte ein Veterinär von der Universität Chulalongkorn das Landwirtschaftsministerium bereits im November 2003 darüber informiert, dass er an Hühnerkadavern das Virus H5N1 festgestellt habe. Entsprechende Vorsichtsmaßnahmen waren aber ausgeblieben.6
Sichtlich frustriert zeigt uns Disathat Rojanalak, ein Biobauer in Nong Chok nahe Bangkok, seinen leeren Hühnerstall: „Im Dezember sind von meinen 800 Legehennen innerhalb weniger Tage 650 eingegangen. Ich habe die Kadaver von der Abteilung Tierzucht des Landwirtschaftsministeriums untersuchen lassen. Eine Angestellte teilte mir mit, die Hennen seien ‚ohne jede Krankheitsursache‘ verendet. Wie hätte ich glauben sollen, dass meine Tiere nicht krank waren? Da wurde mir klar, dass man uns nicht die Wahrheit sagt.“
Centaco, eine kommerzielle Schlachterei am Stadtrand von Bangkok. Die Firma exportiert Tiefkühlgeflügel, hauptsächlich nach Japan. Wir treffen uns mit 15 Arbeiterinnen, die gewerkschaftlich organisiert sind, in einem Wohnheim, das nur ein paar Schritte von der Fabrik entfernt liegt. In einem der kleinen Zimmer sitzen die Frauen auf dem Boden und berichten: „Vor der offiziellen Bekanntgabe der Epidemie mussten wir viel mehr Überstunden machen als sonst. Normalerweise schlachten wir ungefähr 90.000 Hühner am Tag. Aber zwischen November und dem 23. Januar haben wir am Tag bis zu 130.000 Hühner verarbeitet.“ Viele Tiere waren bei ihrer Ankunft krank. „Wir erhielten Anweisung, sie wie üblich zu behandeln, auch wenn sie bereits an dem Virus verendet waren. Also haben wir die Hühner zerlegt. Es war ganz deutlich, dass sie krank waren. Ihre Organe waren geschwollen. Wir wussten nichts von der Grippe, aber seit Oktober haben wir kein Huhn mehr gegessen.“
Als sie aus dem Fernsehen erfuhren, was es mit dem Virus auf sich hat, packte sie die Angst. Zwei Monate lang hatten sie ohne alle Vorsichtsmaßnahmen kranke Hühner geschlachtet und verarbeitet: „Wir haben die Geschäftsleitung dann gebeten, die Sicherheitsvorkehrungen zu verbessern. Wir haben Schutzkleidung verlangt, und wir haben welche gekriegt. Aber das reicht nicht aus. Wir tragen ein höheres Risiko als die Züchter, weil wir die Hühner den ganzen Tag lang anfassen müssen. Wir kommen mit dem Blut in Berührung, mit den Federn.“
Die Affäre wurde auf allen Ebenen der Gesellschaft vertuscht. Überaus peinlich für Thailand war dabei die Reaktion des Gesundheitskommissars der Europäischen Union, David Byrne. Noch wenige Tage vor der offiziellen Bestätigung der Epidemie hatte Ministerpräsident Shinawatra dem EU-Kommissar versichert, dass sein Land von dem Virus verschont geblieben sei. Wie die Presse berichtete, habe sich Byrne „in seiner Ehre verletzt“ gefühlt, zumal die thailändische Regierung erklärt hatte, sie habe die Angelegenheit nur deshalb unter der Decke gehalten, weil sie eine Panik vermeiden wollte.7
Das Wirtschaftsblatt Manager beschuldigte die Regierung daraufhin, sie habe die Epidemie verheimlicht, um die Interessen der Großzüchter zu schützen. Anstatt die Gebiete, in denen das Virus festgestellt wurde, unter Quarantäne zu stellen, zahlten die Behörden geringe Entschädigungssummen an die Geflügelzüchter aus, die sich im Gegenzug verpflichteten, Stillschweigen zu wahren und Notschlachtungen durchzuführen.8 Auf den Weltmärkten stieg der Tonnenpreis für Tiefkühlhuhn infolge der Epidemie von 1.600 Dollar auf 2.500 Dollar. Die thailändische Tiefkühlindustrie, so Manager, habe die fetten Monate für drastische Gewinnsteigerungen genutzt.9
Seinen spektakulären Höhepunkt erreichte die Unterstützungskampagne der Regierung für die Hühnerbarone, als der Ministerpräsident höchstpersönlich einen PR-Feldzug startete, um die Bevölkerung zum Verzehr von Hühnerfleisch zu animieren. Ständig sah man ihn im Fernsehen mit einem Hühnerschenkel zwischen den Zähnen oder bei einem festlichen Geflügelmahl. Auf riesigen Reklametafeln traktierte der Gouverneur von Bangkok die Bevölkerung mit der Botschaft: „Wenn die Thailänder kein thailändisches Huhn essen, brauchen wir nicht zu hoffen, dass andere es uns abkaufen.“
Höhepunkt dieser ungewöhnlichen Kampagne war das „Hühnerfest“, das die Regierung am 8. Februar veranstaltete. Charoen Pokphand und führende Industrielle verteilten tausende von kostenlosen Portionen. Am Ende eines wüsten Wettessens wurde der größte Hühnerverzehrer gekürt. Stars aus Showbusiness und Politik waren angetreten, um demonstrativ thailändisches Geflügel zu verschlingen. Die Bevölkerung blieb, nachdem sie über Monate nur Gerüchte und widersprüchliche Informationen vernommen hatte, dennoch skeptisch. Und in zahlreichen Restaurants standen wochenlang keine Gerichte mit Geflügel auf der Speisekarte.
Etwas widersprüchlich wirkt der staatlich verordnete Hühner-Patriotismus allerdings, wenn die Schlemmer-Patrioten den Verbrauchern raten, sich bei der Fastfood-Kette Kentucky Fried Chicken zu bedienen, weil deren Geflügel angeblich gesund sei. Zufällig heißt der Lieferant Charoen Pokphand.
Das Verhalten der Regierung zeigt deutlich, dass die Förderung der Exportindustrie Vorrang hatte. Nach den Unterlagen der Welthandelsorganisation war Thailand 2001 der weltweit fünftgrößte Lebensmittelexporteur.10 Die allermeisten Bürger des Königreichs profitieren allerdings nicht von diesem lukrativen Handel.
Die Gesundheit von Verbrauchern und Beschäftigten ist in den Augen der Regierung offenbar weit weniger wichtig als die Interessen der Exporteure. Angesichts dessen sah sich sogar die Welthandelsorganisation (WTO) genötigt, die fehlenden Schutzvorkehrungen für die Züchter und die Beschäftigten in der Geflügelindustrie zu rügen.11 So heftig die Regierung für den Konsum von Geflügel Reklame machte, so spärlich wurde die Bevölkerung über die Risiken des Verzehrs und darüber, wie man sich gegen eine mögliche Infektion schützen könnte, informiert.
Mittelfristig wird die aktuelle Krise paradoxerweise die Umstellung auf die industrielle Geflügelzucht befördern. Unter dem Vorwand, den Gesundheitsschutz verbessern zu wollen, schreiben die Behörden seit neuestem den Bau geschlossener Geflügelzuchtanlagen vor. Tausende von Kleinzüchtern, die für eine solche Investition kein Geld haben, mussten ihren Betrieb bereits schließen und den Hühnerbaronen das Feld überlassen.
Die Exporterfolge der thailändischen Lebensmittelindustrie haben nicht dazu beigetragen, dass die 20 Millionen Kleinzüchter und Beschäftigten der Agroindustrie ihre dürftige wirtschaftliche Lage verbessern konnten. Während die Nahrungsmittelexporte Thailands zwischen 1995 und 2000 um 52 Prozent anstiegen, nahm die durchschnittliche Verschuldung der Kleinbauern um 51 Prozent zu.12 Diese Bauern haben zwar maßgeblich zu diesen Exporterfolgen beigetragen und auch selbst ihre Produktion ausgeweitet. Aber ihre Gewinne sind geringer geworden, und die Überbeanspruchung des Bodens geht immer stärker zu Lasten der Umwelt. Die großen thailändischen Nahrungsmittelunternehmen dagegen profitieren vom Ehrgeiz des Landes, die „Küchen der Welt“ zu beliefern, aber das droht auf Kosten der Bevölkerung zu gehen.
deutsch von Bodo Schulze
* Journalistin, Forscherin beim „Focus on the Global South“, Bangkok, www.focusweb.org.