Die Entdeckung der Kolonisierten
DER Algerienkrieg, der am 1. November 1954 mit dem „Allerheiligenaufstand“ begann, war in Frankreich Gegenstand heftiger Kontroversen – die Ereignisse polarisierten die Medien: Namhafte Literaten, Wissenschaftler und Politiker unterstützten den mit Polizeigewalt aufrechterhaltenen „Nationalen Konsens“: „L’Algérie c’est la France“ (Algerien ist Frankreich). Andere Intellektuelle kämpften dagegen, darunter Jean-Paul Sartre, der damals die Zeitschrift „Les Temps modernes“ leitete. Er war schon früh eine Symbolfigur des Widerstands, erregte mit seinen Analysen und Appellen die Öffentlichkeit.
Von ANNE MATHIEU *
Im Mai 1955 brachte die von Jean-Paul Sartre gegründete und geleitete Zeitschrift Les Temps modernes eine Sondernummer zum Algerienkonflikt, in der sich der Herausgeber selbst jedoch ausschwieg. Auch der im November 1955 veröffentlichte programmatische Artikel: „Algerien ist nicht Frankreich“, stammte nicht aus seiner Feder. Erst im März 1956 erschien ein Artikel von Sartre persönlich: „Der Kolonialismus ist ein System“. Es war die schriftliche Fassung einer Rede, die Sartre am 27. Januar 1956 in Paris in der Salle Wagram bei einer Veranstaltung des „Aktionskomitees der Intellektuellen gegen die Weiterführung des Krieges in Algerien“ gehalten hatte. Der Artikel analysierte die politischen und wirtschaftlichen Mechanismen des Kolonialismus und schloss mit einem Angriff auf alle halben Lösungen (wie de Gaulles Schlachtruf der „Algérie française“), weil es nicht wahr sei, dass es gute Kolonialherren gebe und andere, die böse seien. „Es gibt Kolonialherren, das ist alles.“1
Doch Sartres Antikolonialismus ist älter als die algerischen Aufstände. Seit mehreren Jahren bereits unterstützte der Schriftsteller und Philosoph in Tunesien die Ziele des Néo-Destour2 und in Marokko die des Istiqlal (Unabhängigkeit), an dessen Kongress er 1948 teilgenommen hatte. 1952 hatte er sich in einem Interview mit Ferhat Abbas’3 Zeitung La République algérienne für die Unabhängigkeitsbewegung ausgesprochen, und seit Herbst 1955 unterstützte er das in Paris ansässige „Aktionskomitee der Intellektuellen gegen die Weiterführung des Krieges in Algerien“. Auch Francis Jeanson, ein ehemaliger Widerstandskämpfer und enger Mitarbeiter Sartres bei Les Temps modernes, der wiederholt nach Algerien gereist war und mit seiner Frau Colette Ende 1955 den auf Dokumenten und Originalberichten basierenden Band „L’Algérie hors la loi“ veröffentlichte, dürfte Sartres Haltung zu Algerien beeinflusst haben.
Sartres persönliches Engagement beginnt jedoch erst im Jahr 1956, als der neu gewählte sozialistische Ministerpräsident Guy Mollet, nachdem das Parlament ihn mit Sondervollmachten ausgestattet hatte, den Krieg im März intensivierte. Sartre war damals Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. Dass sich unter der Regierung der Linken der Krieg intensivierte und die Kommunisten den Krieg unterstützten, war für Sartre ein Stein des Anstoßes. Doch erst im November 1956, nach dem Einmarsch der Sowjets in Ungarn, kam es zum endgültigen Bruch. Von da an fand bei Sartre „eine ethische Verschiebung statt, die Schritt für Schritt dazu führte, dass er ein neues Subjekt der Geschichte entdeckte, das radikaler war als das Proletariat: die Kolonisierten. Algerien sollte davon profitieren.“4 Sartres zwischen März 1956 und April 1962 veröffentlichten Texte5 lassen einen heute rar gewordenen polemischen Furor und ungewöhnlichen Mut erkennen. Sein Leben war in Gefahr: Zweimal wurde seine Wohnung in der Rue Bonaparte Ziel von Bombenattentaten der aus Algerier-Franzosen und ranghohen Militärs bestehenden „Organisation de l’armée secrète“ (OAS).
Als im Jahr 1957 in Frankreich das „Portrait du colonisé“ des tunesischen Schriftstellers Albert Memmi erschien, verfasste Sartre im Vorwort das „Portrait du colonisateur“6 . Im Mittelpunkt dieses Textes steht die Gewaltfrage, die Sartre schon im März 1956 in „Der Kolonialismus ist ein System“ untersucht hatte. „Nur durch Gewalt konnte das Land erobert werden; zur Sicherung der gnadenlosen Ausbeutung und Unterdrückung bedarf es des ununterbrochenen Einsatzes von Gewalt, von Polizei- und Armeekräften. […] Der Kolonialismus verweigert den Menschen, die er mit Gewalt unterworfen hat und die er gewaltsam in Elend und Unwissenheit, Marx würde sagen, im Zustand der ‚Untermenschlichkeit‘, hält, die Menschenrechte. Der Rassismus prägt alle Vorfälle, alle Institutionen, alle Beziehungen und alle Produktionsweisen.“7
Dem für Sartres Texte so kennzeichnenden Gegensatzpaar „Unterdrücker/Unterdrückte“ entsprach nun das Paar „Kolonisator/Kolonisierte“. Die koloniale Unterdrückung war in Sartres Augen beides, eine ökonomische wie eine ideologische, weshalb die Kritik der „Untermenschlichkeit“ in allen seinen Texten zum Algerienkrieg anzutreffen ist.
Nachdem im April 1962 mit dem Evian-Abkommen die Unabhängigkeit Algeriens besiegelt war, schrieb Sartre unter dem Titel „Die Schlafwandler“: „Allerdings gibt es keinen Grund zur Freude, denn seit sieben Jahren gleicht Frankreich einem tollwütigen Hund, der mit einer Blechdose am Schwanz herumläuft und dem jeden Tag etwas mehr vor seinem eigenen Geschepper graut. Heute kann niemand mehr darüber hinwegsehen, dass wir ein Volk von Armen zugrunde gerichtet, ausgehungert und massakriert haben, nur damit es vor uns in die Knie geht. Das Volk hat sich aufrecht gehalten. Doch um welchen Preis!“8
In Frankreich, wo man sich so oft auf die Menschenrechte beruft, verweigerte man den Algeriern das Recht, Rechte zu haben, sowie das Recht auf die (eigene) Kultur, sodass Sartre in seinem „Porträt des Kolonisators“ davon sprach, dass in dem System der „Untermenschlichkeit“ die Kolonisierten „durch ein Unterdrückungssystem auf der Stufe von Tieren gehalten wurden“. Im Zentrum der „Untermenschlichkeit“ stehe die Tatsache, dass die Menschen „auf die Stufe von höheren Affen“ gedrückt würden. „So rechtfertigen die Kolonialherren, dass sie die Menschen wie Arbeitstiere behandeln. Die koloniale Gewalt hat zuallererst den Zweck, diesen unterdrückten Menschen Respekt einzujagen. Sie versucht sie zu entmenschlichen. Um ihre Traditionen zu vernichten, um ihre Sprache durch unsere zu ersetzen, um ihre Kultur zu zerstören, ohne ihnen die unsere zu geben, werden keine Ausgaben gespart; die Menschen werden bis zur Erschöpfung abgestumpft.“9
Auch in Sartres Beschreibung der Folterer taucht das „Tier“ wieder auf: Wann immer die Zeit es zulasse, würden die Henker ihre Opfer nicht einfach umbringen, sondern sie vorher „demütigen, ihnen den Stolz aus den Herzen reißen, und sie auf die Stufe des Tiers herabwürdigen“.10
Der erste Text von Sartre, der sich ausschließlich dem Thema Folter widmete, erschien im Mai 1957 unter dem polemisch-provokatorischen Titel „Ihr seid fabelhaft“11 . Eigentlich hatte Le Monde einen Artikel bei ihm bestellt, aber dann hatten sie Sartres Text als zu parteiisch und harsch abgelehnt. Sartre griff die kurz zuvor publizierten Erfahrungsberichte junger Rekruten auf und kritisierte eindringlich die Komplizenschaft der Franzosen mit der Gewalt in Algerien. Sein Angriff gegen die verbreiteten Foltermethoden, aber auch gegen andere Formen der Gewaltausübung mündete im Bild des „Krebsgeschwürs“, das sich in einem zynischen, systematischen Einsatz absoluter Gewalt offenbare. Tagtäglich gab es Plünderungen, Vergewaltigungen, Vergeltungsmaßnahmen gegenüber der Zivilbevölkerung, Massenerschießungen und Folter, um angebliche Geständnisse oder Informationen abzupressen. Der Begriff „Krebsgeschwür“ – zum semantischen Feld der Krankheit gehörig, auf das in diesen Texten häufig zurückgegriffen wird – tauchte in „Ihr seid fabelhaft“ zum ersten Mal auf, doch Sartre verwendet ihn wenig später in seiner Besprechung von Henri Allegs Buch „Die Folter“ erneut. Alleg, aktives Mitglied der algerischen KP, der von 1950 bis zum Verbot 1955 den Alger républicain herausgegeben hatte, war im Juni 1957 von Fallschirmjägern verhaftet und in El Biar gefoltert worden. Davon handelte der Bericht, der kurz nach seinem Erscheinen 1958 beschlagnahmt wurde. Sartre kommentierte die Vorfälle: „Sie wissen ja, was manchmal zur Rechtfertigung der Henker gesagt wird: dass man sich dazu durchringen muss, einen Mann zu foltern, wenn durch seine Geständnisse hunderte Menschenleben gerettet werden können. Scheinheiliges Geschwätz! Alleg war genauso wenig ein Terrorist wie Audin12 ; der Beweis ist, dass Alleg wegen ‚Landesverrats und Neubildung einer aufgelösten Vereinigung‘ angeklagt wurde. Ging es wirklich darum, Menschenleben zu retten, als man ihm die Brust und die Schamhaare verbrannte? Nein: Was man wollte, war die Adresse des Genossen, der ihn aufgenommen hatte. Wenn Alleg unter der Folter geredet hätte, hätte man einen weiteren Kommunisten einlochen können: sonst nichts. Im Übrigen werden die Verhaftungen völlig willkürlich vorgenommen: Sie befragen x-beliebige Muslime, und das Ergebnis ist, dass die meisten Gefolterten nicht reden, weil sie nichts zu reden haben.“ Und an anderer Stelle: „Im Übrigen hat sich das Krebsgeschwür ausgebreitet und mittlerweile auch das Meer überquert: Es gibt sogar das Gerücht, dass mittlerweile auch in Gefängnissen des ‚Mutterlandes‘ gefoltert werde.“13
Nachdem ab 1958 die Auseinandersetzungen um Algerien die französische Innenpolitik dominierten, übertrug Sartre im September 1958, als es um das Verfassungsreferendum ging, die Analogie auf Frankreichs Wählerschaft: „Die hiesige Wählerschaft ist ein einheitlicher Korpus; wenn das Krebsgeschwür sich erst eingenistet hat, wird es sich unweigerlich sofort auf alle Wähler ausbreiten.“14 Dasselbe Bild hatte auch der antillische Schriftsteller Aimé Césaire 1955 in seiner „Rede zum Kolonialismus“ benutzt: „Als Erstes sollte untersucht werden, auf welche Weise die Kolonialpolitik darauf abzielt, den Kolonisator zu entzivilisieren, […] eine Regression, die sich breit macht, ein Krebsgeschwür, das sich einnistet, ein Infektionsherd, der immer größer wird.“15
Noch klarer formuliert Sartre die Folgen der Kolonialpolitik und der Gewalt für die Franzosen selbst in seinem Vorwort zu Frantz Fanons berühmtem Pamphlet „Die Verdammten dieser Erde“: „Es ist nicht gut, meine Landsleute, Sie, die Sie all die in unserem Namen begangenen Verbrechen kennen, es ist wirklich nicht gut, dass Sie niemandem auch nur ein Wort davon sagen, nicht einmal Ihrer eigenen Seele, aus Angst, über sich selbst zu Gericht sitzen zu müssen. Anfangs haben Sie nichts gewusst, ich will es glauben, dann haben Sie gezweifelt, jetzt wissen Sie, aber Sie schweigen immer noch. Acht Jahre Schweigen, das korrumpiert. […] Jedes Mal, wenn sich heute zwei Franzosen begegnen, ist eine Leiche zwischen ihnen. Sagte ich ‚eine‘? Frankreich war einst der Name eines Landes. Wenn wir nicht aufpassen ist es 1961 der Name einer Neurose.“16
Schon in seinem ersten Artikel 1956 („Der Kolonialismus ist ein System“) hatte Sartre das Schweigen der Franzosen angesichts der Gräueltaten kritisiert, um deutlich zu machen, dass es eine kollektive Verantwortung für den Kolonialismus gibt, der sich alle Franzosen stellen müssen. „Alle redeten von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Liebe, Ehre, Vaterland, und so weiter. Und gleichzeitig verwandte man rassistische Bezeichnungen wie dreckiger Neger, dreckiger Jude, dreckiger Araber.“ Doch Sartre ging weiter: „Er [der Kolonialismus] ist unsere Schande, er missachtet unsere Gesetze oder macht sie lächerlich; er infiziert uns mit seinem Rassismus. [...] Er verpflichtet unsere jungen Männer dazu, gegen ihren Willen für Nazi-Prinzipien ihr Leben zu lassen, gegen die wir vor zehn Jahren gekämpft haben; zu seiner eigenen Aufrechterhaltung führt er hierzulande den Faschismus ein. Unsere Aufgabe ist es, seinen Untergang zu beschleunigen. Nicht nur in Algerien, sondern überall, wo er auftritt. […] Das Einzige, was wir hier und heute tun können und müssen – und das ist unabdingbar – ist, dass jeder auf seiner Seite darum kämpft, Algerier und Franzosen von der kolonialen Tyrannei zu befreien.“17
Vom Schweigen zur Komplizenschaft sei es nur ein Schritt, erklärte Sartre, und verglich die Lage mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges: „1945 haben wir all die falschen Naivitäten, die Ausflüchte und Unaufrichtigkeiten, das Schweigen, und die Komplizenschaft als Kollektivverantwortung angesehen. Wir haben den Deutschen das Recht abgesprochen, zu behaupten, dass sie nichts von den Lagern gewusst hätten. ‚Ach was!‘, sagten wir. ‚Sie wussten alles!‘ Und wir hatten Recht: sie wussten alles. Erst heute können wir etwas verstehen: denn auch wir wissen alles. […] Würden wir sie heute noch verurteilen? Können wir uns heute noch von Schuld freisprechen?“18
„1943 schrien in der Rue Lauriston Franzosen vor Angst und Schmerz; ganz Frankreich hörte sie“, begann Sartres Vorwort 1956 zu Allegs Folterbericht. „Der Ausgang des Krieges war ungewiss, und wir wollten nicht an die Zukunft denken; damals schien es uns völlig unmöglich, dass jemals in unserem Namen Menschen zum Schreien gebracht werden könnten. […] 1958 wird in Algier regelmäßig von uns systematisch gefoltert; und jeder weiß das.“19 Man spürt die Verzweiflung. Doch nicht nur bei Sartre, in vielen Medien, die sich für die algerische Unabhängigkeit aussprechen, wird diese Parallele gezogen. Der Journalist Claude Bourdet etwa titelte im Nouvel Observateur bereits im Januar 1955: „Eure Gestapo in Algerien“. Sartre urteilte: „Wir sind für die Verbrechen, die in unserem Namen begangen werden, persönlich mitverantwortlich, denn es stände in unserer Macht, sie zu beenden.“20
Die Irreführungen der Regierenden können mit der Unterstützung der Medien rechnen: „Die Nachrichtenverbreiter der Metropole scheinen sich das Verheimlichen, Täuschen und Lügen auf ihre Fahnen geschrieben zu haben, ganz so, als ob es nur ein einziges Verbrechen gäbe, nämlich die Ruhestörung.“21 Das Ganze wird dargestellt wie eine Dekadenz der Zivilisation. „Im Fieberwahn, besessen von den Träumen über den verflossenen Ruhm und von der Vorahnung der Schande, ringt Frankreich mit einem undeutlichen Albtraum, den es weder fliehen noch entziffern kann. Entweder wir finden den Durchblick, oder wir krepieren.“22 Mit dieser deutlichen Sprache reagiert der Philosoph auf den verbrecherischen Zynismus der Regierenden.
Die Krankheit – das Krebsgeschwür – wird nicht an den Grenzen des Abendlandes Halt machen, sondern auch die Kolonisierten befallen: „Die Idee des Eingeborenen ist eine Neurose, die der Kolonialherr unter den Kolonisierten mit deren Zustimmung verbreitet hat“, schreibt Sartre im Vorwort zu „Die Verdammten dieser Erde“. Der „Wahnsinn“, der inzwischen die französische Linke und die „Agenten des Kolonialismus“ befallen habe, werde auch die Kolonisierten erreichen: „Lesen Sie Fanon, und Sie werden erkennen, dass in Zeiten der Ohnmacht die Mordlust das kollektive Unbewusste der Kolonisierten ist.“
Indem Sartre wie Fanon sich hinter die gewalttätige Reaktion der Aufständischen stellt, nimmt er eine axiologische Umkehrung vor: Sartre verleiht dem „Wahnsinn“, den der Unterdrückte gegen den Unterdrücker richtet, um sich aus seiner Knechtschaft zu befreien, einen positiven Wert. „Kann man von dieser Knechtschaft genesen? Ja. Die Gewalt kann, wie die Lanze des Achill, die Wunden vernarben lassen, die sie geschlagen hat. […] Dies ist der Endpunkt der Dialektik: Sie verurteilen diesen Krieg, aber Sie wagen es nicht, sich mit den algerischen Kämpfern solidarisch zu erklären. Keine Angst! Verlassen Sie sich auf die Siedler und Söldner: sie werden Sie schon auf Vordermann bringen. Vielleicht werden Sie dann, mit dem Rücken zur Wand, die Ketten der neuen Gewalt sprengen, die die alten, wieder aufgewärmten Schandtaten in Ihnen heraufbeschworen haben. Aber das ist eine andere Geschichte. Die des Menschen. Eines nicht mehr fernen Tages, dessen bin ich sicher, werden wir uns denen anschließen, die heute diese Geschichte machen.“23
Sartres Kampf während des Algerienkriegs war nicht nur eine „Schlacht der Feder“. Er engagierte sich an allen Fronten, sprach auf Versammlungen (u. a. in Algerien und Rom), beteiligte sich am berühmten Schweigemarsch vom 1. November 1961 aus Protest gegen die Massaker vom 17. Oktober ebenso wie am Marsch vom 13. Februar 1962 gegen die blutige Niederschlagung einer Solidaritätsdemonstration. Er trat als Zeuge in Prozessen gegen Unterstützer der Unabhängigkeitsbewegung auf, unter anderem im September 1960 in dem als „Jeanson-Prozess“ bekannt gewordenen Schlüsselverfahren, in dem eine Gruppe um den Widerstandskämpfer Francis Jeanson wegen aktiver öffentlicher Unterstützung des bewaffneten algerischen Widerstandes angeklagt und verurteilt wurde. „Benutzen Sie mich, wozu Sie wollen“, hatte Sartre versichert, als er das „Manifest der 121“24 unterschrieb.
„Erschießt Sartre!“, skandierten Veteranenverbände bei einer Demonstration im Oktober 1960. Juli 1961 und Januar 1962 explodierten in seiner Wohnung Bomben. „Wer sind hier eigentlich die Wilden? Wo ist die Barbarei? Nichts fehlt, nicht einmal das Tamtam: Hupen im Rhythmus von ‚Algérie Francaise‘, während die Europäer Muslime bei lebendigem Leibe verbrennen“, empörte sich Sartre im Vorwort zu „Die Verdammten dieser Erde“.
„Wie viel einfacher ist es, von den gefährlichen Dingen kein Aufhebens zu machen, sondern sich damit zu begnügen, dem schönen universellen Werkzeug Vernunft den letzten Schliff zu geben! Sich im Schweigen zu ergehen, im glücklichen konformistischen Halbschlaf, derweil der Verstand alles schon richten wird“, hatte Paul Nizan, Sartres Kamerad an der École normale, 1932 in seinem Pamphlet „Die Wachhunde“ geschrieben.25
„Nicht wieder gutzumachen“ – Sartres Stimme stört noch immer. Sie erlaubt uns, jene Periode unserer Geschichte mit weniger Scham zu betrachten. Ein Intellektueller, der, getreu seiner Auffassung vom Engagement des Schreibenden, seine Feder und seine Bekanntheit in den Dienst einer von ihm für gerecht gehaltenen Sache stellte. Für ihn, wie für Jeanson übrigens auch, hat sich der Kampf gelohnt, denn am Ende wussten die Algerier, dass Frankreich nicht nur aus Menschen bestand, die mit Fallschirmen vom Himmel sprangen und in den Gefängnissen folterten.
Die Versöhnung zwischen Frankreich und Algerien erforderte nach Sartres Ansicht, dass die Franzosen sich der Realität ihrer algerischen Geschichte stellten: „Ihr wisst genau, dass wir Ausbeuter sind. Ihr wisst genau, dass wir den neuen Kontinenten Gold und Metalle und am Ende das Erdöl geraubt und in in die alten Mutterländer verbracht haben. […] Das mit Reichtümern gemästete Europa hatte allen seinen Einwohnern vor dem Gesetz das Menschsein zugesichert. Bei uns aber bedeutet Mensch nichts anderes als Komplize, denn wir alle haben von der kolonialen Ausbeutung profitiert.“25 Es ist nicht sicher, ob man diese Worte heute leichter anhören kann als 1962.
deutsch von Uli Aumüller
* Chefredakteurin der in Nantes erscheinenden Zeitschrift Aden.