11.02.2005

Vertane Chance nach dem Sturm

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Vertane Chance nach dem Sturm

WIEDERAUFBAU darf nicht zu Lasten von Reformen gehen“ – das nahm sich die internationale Gemeinschaft vor, nachdem der Hurrikan „Mitch“ 1998 Zentralamerika verwüstet hatte. Alte Fehler sollten vermieden, neue Wege in der Entwicklungspolitik eingeschlagen werden. Doch die Bilanz nach sechs Jahren fällt wenig positiv aus. Zwar ist die Infrastruktur von Honduras und Nicaragua, den beiden am stärksten betroffenen Ländern, weitgehend wiederhergestellt. Aber die sozialen Verhältnisse haben sich trotz der Katastrophenhilfe von 4,2 Milliarden Dollar nicht verbessert. Und von den großen Entschuldungsinitiativen kommt kaum etwas bei den Armen an.

Von ANGEL SALDOMANDO *

Fünf Tage lang, vom 26. Oktober bis zum 1. November 1998, fegte der Hurrikan „Mitch“ mit bis zu 300 Stundenkilometern über Zentralamerika. Honduras und Nicaragua versanken nach sintflutartigen Regenfällen in einem Meer von Schlamm. Resultat: 10 000 bis 15 000 Tote, 1,5 Millionen Obdachlose und direkte und indirekte Schäden in Höhe von schätzungsweise über 6 Milliarden Dollar.

In beiden Ländern wurden die mageren eigenen Ressourcen mobilisiert, zugleich aus aller Welt Lebensmittel, Medikamente und Zelte nach Managua und Tegucigalpa eingeflogen. Die internationalen Nothelfer stellten sich schnell und zahlreich ein und kümmerten sich erst einmal um die unmittelbaren Folgen der Katastrophe. Davon abgesehen, enthüllten die verheerenden Auswirkungen des Wirbelsturms den Zusammenhang von Naturkatastrophe, Armut und strukturellen politischen Mängeln.

Die hilfswilligen ausländischen Regierungen forderten umfassende Garantien, um sicherzugehen, dass ihre Lieferungen bei den Opfern ankommen würden. Auch die zahlreichen nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen handelten problembewusst: Sie stellten sich sogleich die Frage, wie der Wiederaufbau insgesamt aussehen sollte. Grob gesagt teilten sich die Hilfswilligen politisch in zwei Lager. Auf der einen Seite standen die multilateralen Organisationen, die vor allem strikt darauf bedacht waren, sich nicht in die internen Angelegenheiten, vor allem die liberalen Reformen, einzumischen. Auf der anderen Seite meldeten sich kritische Stimmen, die darauf hinwiesen, dass die betroffenen Länder noch nicht einmal vor der Katastrophe auf Hilfe von außen verzichten konnten.

Die Regierungen fanden, dass die Gelder in erster Linie für den Wiederaufbau der Infrastruktur eingesetzt werden sollten. Mitglieder von Kooperativen hingegen, die sich nach dem Hurrikan zusammengeschlossen hatten, sahen nun eine historische Chance, das bisherige Entwicklungsmodell neu zu überdenken. Darin wurden sie von einigen offiziellen Hilfsorganisationen diskret unterstützt.

Einige ihrer Ideen stiegen sogar bis in die oberste politische Ebene auf. Nach der Katastrophe formierte sich auf Initiative der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB)1 eine Beratende Gruppe „Zentralamerika“, an der sich rund 50 Staaten und Organisationen beteiligten, darunter der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und das UN-Entwicklungsprogramm. Auf drei Konferenzen – 1998 in Washington, 1999 in Genf und Stockholm – wurden unter dem Motto „Wiederaufbau, aber nicht zu Lasten von Reformen“ („Reconstruction must not be at the expense of transformation“) umfangreiche Hilfspakete ausgearbeitet. Auf dem Papier schien die Einsicht vorhanden, dass der Wiederaufbau mit einem neuen Typ von internationaler Kooperation verknüpft werden sollte.

Denn in den wenigen Jahren zwischen dem Ende der bewaffneten Konflikte um 1990 herum und dem Hereinbrechen von „Mitch“ hatte sich bereits das Scheitern des Entwicklungsmodells gezeigt, das den Ländern der Region abverlangt wurde und den zeitgenössischen internationalen Standards angepasst war: Demokratisierung, Strukturanpassung und Wirtschaftsliberalismus. Zwar flossen damals über internationale Finanzorganisationen jährlich 400 Millionen Dollar Entwicklungshilfe – rund ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts – nach Nicaragua und Honduras. Die Armut jedoch nahm weiter zu. In Nicaragua existierten 45,8 Prozent, in Honduras 71,6 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Man lebte von der Schattenwirtschaft, in prekären sozialen Verhältnissen, und wer konnte, wanderte ab – es waren Massen.

So verpflichteten sich die Regierungen der Region und die internationale Gemeinschaft in der Stockholmer Erklärung, „nicht dasselbe Zentralamerika wieder aufzubauen“, und setzten sich unter der Devise „Wiederaufbau und Wandel“ sechs Hauptziele: die soziale und ökologische Anfälligkeit zu verringern, die Demokratie in Zentralamerika zu konsolidieren, für die Einhaltung der Menschenrechte und politische Transparenz zu sorgen, den Schuldenabbau voranzutreiben und die Hilfsaktionen effizient zu koordinieren.2

Zunächst ergibt sich die Frage, ob die zur Verfügung gestellten Finanzmittel für das Nötigste reichten. Die Antwort fällt eher positiv aus: Die Hilfsgelder flossen in erheblicher Höhe, auch wenn sie nicht alles abdecken konnten. In Honduras beliefen sich die Schäden auf schätzungsweise 3,6 Milliarden Dollar, in Nicaragua auf 900 Millionen Dollar. Weit höher lagen die geschätzten Kosten des Wiederaufbaus: 5 Milliarden Dollar in Honduras, 1,2 Milliarden in Nicaragua.3

Nach Angaben der Weltbank erhielt Honduras zwischen 1999 und 2001, als die Kooperationshilfe wieder auf das frühere Niveau gesunken war, rund 2,7 Milliarden Dollar und Nicaragua 1,5 Milliarden Dollar – weit weniger als die 6,3 Milliarden Dollar, die die Beratende Gruppe bei ihrem ersten Treffen im Dezember 1998 in Washington zugesagt hatte, und weit weniger auch als die 9 Milliarden Dollar, die in Stockholm im Mai 1999 in Form von Hilfsgeldern, Krediten und Schuldenerleichterungen in Aussicht gestellt worden waren.

Wie die Erfahrungen mit anderen Katastrophen gezeigt haben und wie auch dieser Fall bestätigt, dauerte die Phase von Soforthilfe und Wiederaufbau zwischen sechs Monaten und zwei Jahren.4 Die spätere Bilanz zeigte, und darin stimmten alle Quellen überein, dass eine Menge erreicht wurde. Die zerstörte Infrastruktur war weitgehend wiederhergestellt. Die Menschen, denen Haus oder Wohnung zerstört worden war, hatten zu 75 Prozent wieder eine neue Bleibe. Es gab jetzt nationale Katastrophenschutzeinheiten. Und ein Frühwarnsystem war eingerichtet worden. Man besaß nun auch den Überblick darüber, welche Regionen als gefährdet einzuschätzen sind.

Doch was war aus den anderen Zielen geworden, die in der Stockholmer Deklaration formuliert worden waren – politische Reformen und die Verbesserung der sozialen und ökologischen Verhältnisse? Auch noch im Jahr 2004, nachdem sich die Zustände wieder einigermaßen normalisiert haben, leidet ein Großteil der Bevölkerung, vor allem auf dem Land, unter Armut. Die Einkommensschere hat sich weiter geöffnet, und die Staatsausgaben pro Kopf haben sich auf das Niveau von 1975 eingependelt. Nicaragua, wo knapp 25 Prozent der Kinder infolge von Mangelernährung erkrankt sind, gehört laut der UN-Landwirtschafts- und Ernährungsorganisation FAO zu den Ländern mit der höchsten Ernährungsunsicherheit.

Miguel Martínez, bei der IDB für Mexiko und Zentralamerika zuständig, erklärte einige Monate nach der Katastrophe: „ ‚Mitch‘ hat gezeigt, dass Zentralamerika wegen des Missbrauchs der Umwelt auf einer Zeitbombe sitzt.“5 Alle wussten, dass es nur deshalb so viele Todesopfer gab, weil sich viele Bauern in gefährdeten Zonen niedergelassen hatten. Ein Bündel von Ursachen – die exportorientierte Agrarpolitik sowie die ungleiche Verteilung von Grund und Boden und der Mangel an Ressourcen – hatte dazu geführt, dass sich die Ärmsten der Armen an Wasserläufen, Vulkanhängen und Hügeln niederließen. Auf der Suche nach Bau- und Feuerholz holzten sie ab, was zu finden war; zurück blieb vegetationsloses Bergland, das das Regenwasser nicht mehr zurückhalten konnte.

Methoden zur Identifizierung gefährdeter Zonen standen nun zwar zur Verfügung, doch viele Siedler waren an ihre alten Wohnorte oder in deren Nähe zurückgekehrt. Die Zerstörung der Umwelt ging unkontrolliert weiter. Die Hilfsgelder flossen nicht in die ursprünglich anvisierte Umstrukturierung; der Wiederaufbau widmete sich lediglich der beschädigten Infrastruktur und einigen kommunalen Sozialprojekten – ohne das bedingungslos exportorientierte Wirtschaftsmodell anzutasten oder die allgemein herrschende Armut wirksam zu bekämpfen.

Wenn es darum geht, Bilanz zu ziehen, ist die Debatte genauso konfliktbeladen, wie es schon die Diskussion um den Wiederaufbau gewesen war. Laut Weltbank sei das ursprüngliche Ziel zu „ehrgeizig“ gewesen: Die allgemeine Lage habe sich so kurzfristig nicht verändern lassen. Natürlich stimmt es, dass ein Wiederaufbau, der Armut deutlich verringern und sozial stabile Verhältnisse schaffen soll, viel Zeit in Anspruch nimmt und eine enorm vielschichtige Aufgabe darstellt. Aber zumindest hätte man in Ansätzen diese Richtung verfolgen können. Warum ist das nicht möglich gewesen?

Manche Versuche scheiterten an der unflexiblen Haltung der großen internationalen Organisationen, die an ihren Strukturanpassungsprogrammen und Standardreformen festhielten. Diese Starrheit verhinderte, dass die anfangs ins Auge gefassten Reformziele von den einzelnen Regierungen übernommen wurden. In Honduras zum Beispiel kündigte die Regierung an, sich auf die Privatisierung der ohnehin vom Sturm beschädigten Strom- und Telefonnetze zu konzentrieren – eine zynische Interpretation des allgemein geteilten Grundsatzes, das Ausmaß der Katastrophe sei als Chance zu nutzen, um „auf neuen Grundlagen wieder aufzubauen“.

Die internationale Hilfe folgte überall den gleichen Prinzipien und ging insgesamt sehr kleinteilig vor. Man hielt an dem Althergebrachten fest und unternahm keinerlei Anstrengungen, daran etwas zu ändern. In Nicaragua zum Beispiel blockierten die internationalen Finanzinstitutionen den Aufbau eines öffentlichen Finanzierungssystems zur Bekämpfung der ländlichen Armut. Wie verlautete, würde jeder Neuansatz in diesem Bereich die Haushaltsstabilität in Frage stellen und den Schuldenabbau behindern.

Eine Verringerung der Schuldenlast hätte natürlich auch unabhängig von der Katastrophe Ressourcen für die Armutsbekämpfung freigesetzt. Doch dazu kam es nicht. Zwar beschlossen einige Gläubiger (Frankreich, Kuba, die Niederlande), ganz oder teilweise auf ihre bilateralen Forderungen zu verzichten. Doch der Pariser Club, ein Zusammenschluss der wichtigsten Gläubigerstaaten, bewilligte lediglich ein dreijähriges Schuldenmoratorium, keine Annullierung der Schulden.

Im Übrigen hatten sich Nicaragua und Honduras bereits vor der Hurrikankatastrophe bei der „Initiative zugunsten der hoch verschuldeten Armutsländer“ (HIPC) beworben, die eine Reduzierung der Schuldenlast auf ein „erträgliches Maß“ anstrebte. Doch erst im September 1999 wurde Nicaragua als „förderwürdiges Land“ anerkannt, und es dauerte noch weitere vier Jahre, bis das vorbereitende Verfahren abgeschlossen war.6 Alle Kandidatenländer müssen drei, manche sechs Jahre lang ein drakonisches Sparprogramm umsetzen, das einen Abbau der Staatsverschuldung, das Einfrieren der Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst und beschleunigte Privatisierungen vorsieht. Honduras sollte den so genannten completion point erst Anfang 2005 erreichen.7 Es versteht sich, dass die HIPC-Initiative nur die alte Strukturanpassung zugunsten des Weltmarkts fortschreibt und im Wesentlichen Schulden betrifft, die sowieso nicht zurückgezahlt werden können.

Die entlastenden Effekte des Schuldenabbaus für Honduras (Gesamtschuld: 4,3 Milliarden Dollar oder 71,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) und Nicaragua (Gesamtschuld: 6,6 Milliarden Dollar oder 169 Prozent des BIP) gingen schnell wieder verloren. Die erhebliche Verringerung der Zinslast verpuffte, denn teils flossen die freigesetzten Gelder in die Finanzierung der Binnenverschuldung bei Privatbanken, teils dienten sie dazu – Stichwort: makroökonomische Stabilität –, das Niveau der Devisenreserven beizubehalten.8 Am Ende blieb von den „freigesetzten“ Geldern nur verschwindend wenig für soziale Reformprojekte übrig.

Die „umsteuernden“ Indikatoren für das Follow-up, die im Anschluss an die Stockholmer Erklärung entwickelt wurden, kamen nie zum Einsatz. Wie hohe Regierungsbeamte ungeachtet des regierungsamtlichen verbalen Aktionismus einräumten, zählten allein die Indikatoren, die im Rahmen der neoliberalen Reformen festgelegt worden waren. Überdies war der in Stockholm geschaffene Überprüfungsausschuss zu schwach. Es fehlte ihm eine geeignete Strategie, um den Pressionen der multilateralen Organisationen zu widerstehen und den nationalen Dialog in den betroffenen Ländern effektiv zu begleiten.

Sechs Jahre sind jetzt seit dem Hurrikan „Mitch“ vergangen. Die guten Vorsätze verschwanden unter einem Wust von Dokumenten über den „Abbau der Armut“. Wer möchte da behaupten, dass eine weitere Katastrophe solchen Ausmaßes nicht ähnliche Folgen zeitigen würde?

deutsch von Bodo Schulze

* Ökonom, Autor (mit anderen) von „Qu‘allons nous faire des pauvres?“, erscheint 2005.

Fußnoten: 1 Die IDB mit Sitz in Washington, 1963 gegründet, ist die älteste der weltweit vier regionalen Entwicklungsbanken (neben der Osteuropa-, der Afrikanischen und der Asiatischen Entwicklungsbank). Sie ist vor allem für die Finanzierung langfristiger Investitionen zuständig. 2 Stockholmer Erklärung vom 28. 5. 1999, im Internet: www.iadb.org/regions/re2/consultative_group/summary .htm. 3 Wirtschaftskommission für Lateinamerika (Cepal), Bilan du coût des dommages provoqués par le cyclone Mitch, Santiago (Chile), 15. 12. 1998. 4 Honduras: Learning Lessons from Disaster Recovery: The Case of Honduras, von John Telford, Margaret Arnold u. a., Disaster Risk Management Series Nr. 8, Weltbank, Juni 2004. Im Internet: www.disasterwatch.net/Readings/honduras_wps.pdf. 5 Interamerikanische Entwicklungsbank (IDB), En prévision d‘un prochain Mitch, www.iadb.org/idbamerica/ archive/stories/1999/fre/6f2.htm. 6 World Bank and IMF Support US-$ 4.5 Billion in Debt Service Relief for Nicaragua, Presseerklärung der Weltbank vom 23. 1. 2004. Kritisch: Entschuldung für die Armen? Fünf Jahre nach Köln – eine Bilanz der HIPC-Initiative. Inkota-Texte 2, Juli 2004, www.inkota.de. 7 Im Rahmen der verstärkten HIPC-Initiative vereinbarte der Pariser Club mit Honduras am 14. 4. 2004, die zwischen dem 1. 1. 2004 und dem 30. 5. 2005 fälligen Schuldenrückzahlungen von 405 Millionen Dollar auf 49 Millionen Dollar zu senken. 8 Die Binnenverschuldung hat in Nicaragua und Honduras nach dem Hurrikan „Mitch“ drastisch zugenommen.

Le Monde diplomatique vom 11.02.2005, von ANGEL SALDOMANDO