10.02.2012

Der globale Minotaurus

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Der globale Minotaurus

Die USA und die Ursprünge der Finanzkrise von Yanis Varoufakis

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Nichts macht uns menschlicher als eine Aporie – der Zustand massiver Verwirrung, in den wir geraten, wenn unsere Gewissheiten zu Bruch gehen, wenn wir auf einmal in einer Sackgasse stecken, nicht mehr erklären können, was unsere Augen sehen, unsere Finger berühren, unsere Ohren hören. In diesen seltenen Momenten, in denen unsere Vernunft darum ringt, zu begreifen, was die Sinnesorgane ihr melden, lässt unsere Verwirrung uns demütig werden und stellt den so vorbereiteten Geist auf bis dahin unerträgliche Wahrheiten ein. Und wenn die Aporie ihr Netz sehr weit auswirft, sodass sich die ganze Menschheit darin verfängt, wissen wir, dass wir einen besonderen historischen Augenblick erleben. Der September 2008 war ein solcher Augenblick.

Die Welt hatte sich gerade auf eine Weise selbst in Erstaunen versetzt, die es seit 1929 nicht mehr gegeben hatte. Gewissheiten, die eine jahrzehntelange Konditionierung uns eingebläut hatte, waren schlagartig weg, und mit ihnen Vermögenswerte im Wert von 40 Billionen Dollar weltweit, davon allein 14 Billionen Vermögen privater Haushalte in den Vereinigten Staaten, 700 000 amerikanische Arbeitsplätze pro Monat, unzählige Häuser und Wohnungen überall, die ihre Besitzer nicht mehr halten konnten … Die Liste ist ebenso lang, wie die Zahlen unvorstellbar sind.

Die kollektive Aporie wurde durch die Reaktion der Regierungen noch verstärkt, die bis dahin unbeirrt den fiskalischen Konservatismus – die vielleicht letzte Massenideologie des 20. Jahrhunderts – hochgehalten hatten: Auf einmal schütteten sie Billionen von Dollar, Euro, Yen und so weiter in ein Finanzsystem, das noch wenige Monate zuvor glänzend gelaufen war, sagenhafte Gewinne angehäuft und behauptet hatte, den Goldtopf am Ende des globalisierten Regenbogens gefunden zu haben. Und als das nicht ausreichte, begannen unsere Präsidenten und Regierungschefs, Männer und Frauen mit untadeligen neoliberalen Überzeugungen, die Staatsinterventionismus ablehnten, mit einem Eifer, der Lenins Großtaten nach 1917 in den Schatten stellte, Banken, Versicherungen und Autohersteller zu verstaatlichen.

Im Gegensatz zu früheren Krisen wie dem Platzen der Dotcom-Blase 2001, der Rezession von 1991, dem Schwarzen Montag1 , dem Debakel in Lateinamerika in den 1980er Jahren, dem Abgleiten der Dritten Welt in eine tückische Schuldenfalle und sogar der verheerenden Depression in Großbritannien und Teilen der Vereinigten Staaten in den 1980er Jahren war die Krise von 2008 nicht auf eine geografische Region, eine soziale Schicht oder bestimmte Branchen beschränkt. Alle Krisen vor 2008 waren in gewisser Weise lokal begrenzt. Diejenigen, die langfristig unter ihnen litten, hatten für die amtierenden Mächte meist keinerlei Bedeutung, und wenn (wie beim Schwarzen Montag, dem Zusammenbruch des Hedgefonds Long-Term Capital Management, LTCM, 1998 oder dem Platzen der Dotcom-Blase zwei Jahre später) doch auch die Mächtigen den Schock spürten, eilten die Behörden rasch und wirksam zu Hilfe.

Demgegenüber hatte der Crash von 2008 sowohl global wie im neoliberalen Kernland verheerende Folgen. In Europa hallt der gesamte Kontinent vom Getöse einer Krise wider, die nicht vergehen will und europäische Illusionen bedroht, die sechs Jahrzehnte unerschüttert überstanden hatten. Migrationsströme kehrten sich um, als polnische und irische Arbeiter Dublin und London verließen und nach Warschau oder Melbourne zogen. Selbst China, das wundersamerweise mit einer gesunden Wachstumsrate der Rezession entging, als weltweit die Wirtschaft schrumpfte, steckt in der Klemme, weil der Konsumanteil seines Volkseinkommens zurückgeht und der hohe Anteil staatlicher Investitionsprojekte eine gefährliche Blase nährt – zwei Omen, die nichts Gutes verheißen in einer Zeit, in der fraglich ist, ob der Rest der Welt langfristig Chinas Exportüberschüsse aufnehmen kann. […]

„Vor allem hat das kollektive Vorstellungsvermögen vieler kluger Leute … dabei versagt, die Risiken des Systems insgesamt zu begreifen.“ Das war die Kernaussage eines Briefs, den die Queen am 22. Juli 2009 von der Britischen Akademie erhielt als Antwort auf eine Frage, die sie einer Versammlung von Professoren mit hochroten Köpfen an der London School of Economics gestellt hatte: „Warum haben Sie es nicht kommen sehen?“ Fünfunddreißig britische Spitzenökonomen antworteten in ihrem Brief: „Ups! Wir haben die Große Spekulationsblase für die Schöne Neue Welt gehalten.“ Der Kern ihrer Antwort lautete, sie hätten zwar den Finger am Puls der Zeit gehabt und die Augen fest auf die Zahlen geheftet, bei der Diagnose aber zwei miteinander zusammenhängende Irrtümer begangen: den Irrtum, zu extrapolieren, und den (eher noch schlimmeren) Irrtum, auf ihre eigene Rhetorik hereinzufallen. Jeder konnte sehen, dass die Zahlen verrückt spielten. In den Vereinigten Staaten war die Verschuldung des Finanzsektors von bereits beachtlichen 22 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (oder BIP) im Jahr 1981 auf 117 Prozent im Sommer 2008 in die Höhe geschossen. Unterdessen stieg die Verschuldung der amerikanischen Haushalte von 66 Prozent im Jahr 1997 auf 100 Prozent des Volkseinkommens zehn Jahre später.

Alles zusammengenommen, lag die Gesamtverschuldung der Vereinigten Staaten 2008 bei 350 Prozent des BIP, während sie 1980 bei 160 Prozent und damit auch schon sehr hoch gelegen hatte. In Großbritannien häufte die Londoner City (der Finanzsektor, in den die britische Gesellschaft nach der rapiden Deindustrialisierung Anfang der 1980er Jahre den größten Teil ihrer Eier platziert hatte) eine kollektive Verschuldung auf, die sich auf das Zweieinhalbfache des britischen BIP belief, und die britischen Familien standen gleichzeitig mit einer Summe in der Kreide, die größer war als das jährliche BIP.

Wenn also die unkontrollierte Akkumulation von Schulden mehr Risiken aufhäufte, als die Welt ertragen konnte, warum sah dann niemand den Crash kommen? Das war letztlich der Tenor der ganz vernünftigen Frage, die die Queen gestellt hatte. Die Mitglieder der Britischen Akademie bekannten sich in ihrer Antwort zähneknirschend zu der doppelten Sünde arroganter Rhetorik und linearer Extrapolation. Beide Sünden zusammen hatten zu der selbstgefälligen Überzeugung geführt, ein Paradigmenwechsel habe stattgefunden und die Welt sei in der Lage, risikolos unbegrenzte, harmlose Schulden zu machen.

Die erste Sünde kam in der Gestalt mathematisch verbrämter Rhetorik daher. Sie wiegte Politiker und Wissenschaftler in dem Irrglauben, durch Finanzinnovationen sei es gelungen, das Risiko aus dem System zu eliminieren; die neuen Finanzinstrumente ermöglichten eine neue Art der Verschuldung, die die Eigenschaften von Quecksilber aufwies. Darlehen wurden geschaffen, in kleine Stücke aufgeteilt und zu Paketen zusammengeschnürt, die unterschiedlich große Risiken enthielten,2 und dann weltweit verkauft. Durch die breite Streuung des finanziellen Risikos, so das Mantra, lief kein einzelner Akteur nennenswert Gefahr, betroffen zu sein, wenn ein paar Schuldner ausfallen sollten.

Es war ein esoterischer Glauben an die Macht des Finanzsektors, „risikoloses Risiko“ zu erzeugen, und er kulminierte in der Ansicht, der Planet könnte künftig Schulden tragen (und Wetten auf diese Schulden), die ein Vielfaches des aktuellen globalen Einkommens ausmachten. Vulgärempirismus stützte solche mystischen Überzeugungen: 2001, als die „New Economy“ kollabierte und einen Großteil des nur auf dem Papier bestehenden Reichtums vernichtete, den die Dotcom-Blase und Gauner vom Schlag von Enron geschaffen hatten, hielt das System stand. Wenn es gelang, einen so großen Schock so gut abzufangen, konnte das System doch sicher kleinere Schocks wie 500-Milliarden-Dollar-Verluste mit Subprime-Hypotheken in den Jahren 2007/2008 verdauen.

Nach der Erklärung der Britischen Akademie (die, das muss betont werden, von vielen geteilt wird) passierte der Crash von 2008 – ohne dass Heerscharen superschlauer Männer und Frauen, deren Job es war, es besser zu wissen, ihn vorausahnten –, weil mittlerweile die angeblich risikolosen Risiken alles andere als risikolos waren. Banken wie die Royal Bank of Scotland, die 4 000 „Risikomanager“ beschäftigte, versanken in einem schwarzen Loch von Risiken, die schiefgegangen waren. Nach dieser Lesart zahlte die Welt den Preis dafür, dass sie ihrer eigenen Rhetorik geglaubt und angenommen hatte, die Zukunft werde nicht viel anders aussehen als die jüngste Vergangenheit.

[…] Was wäre aber, wenn wir weder der menschlichen Natur noch der ökonomischen Theorie die Schuld am Crash geben können? Wenn er nicht deshalb passiert ist, weil die Banker gierig waren (obwohl die meisten gierig sind) oder weil sie mit toxischen Theorien operierten (obwohl die meisten das zweifellos taten), sondern weil der Kapitalismus in eine Falle geraten war, die er sich selbst gestellt hatte? Was wäre, wenn der Kapitalismus kein „natürliches“ System ist, sondern vielmehr ein ganz spezielles System mit einer Tendenz zum Systemversagen? Die Linke mit ihrem ursprünglichen Propheten Marx hat immer davor gewarnt, dass der Kapitalismus als System danach strebt, uns zu Automaten zu machen und unsere Marktgesellschaften in Dystopien im „Matrix“-Stil zu verwandeln. Aber je näher der Kapitalismus diesem Ziel kommt, desto näher kommt er seinem Ende – so ähnlich wie Ikarus in der Mythologie. Nach dem Crash rappelt er sich im Gegensatz zu Ikarus wieder auf, schüttelt den Staub aus seinen Kleidern und fängt wieder von vorn an.

Unsere kapitalistischen Gesellschaften scheinen dazu bestimmt, regelmäßige Krisen zu produzieren, die immer schlimmer werden, je weiter sich die menschliche Arbeitskraft vom Produktionsprozess entfernt und das kritische Denken uns von der öffentlichen Debatte. All jenen, die menschlichem Geiz, menschlicher Gier und menschlichem Egoismus die Schuld geben, entgegnete Marx, ihr Instinkt sei richtig, aber sie suchten an der falschen Stelle. Das Geheimnis des Kapitalismus sei seine Neigung zur Widersprüchlichkeit: seine Fähigkeit, zugleich gewaltigen Reichtum und unerträgliche Armut zu produzieren, großartige neue Freiheiten und die schlimmsten Formen der Sklaverei, schimmernde mechanische Sklaven und elende menschliche Arbeit.

Der menschliche Wille mag nach dieser Lesart dunkel und geheimnisvoll sein, doch im Zeitalter des Kapitals ist er eher eine abgeleitete Kraft als ein erster Beweger. Denn das Kapital hat die Rolle der ursprünglichen Kraft usurpiert, die unsere Welt gestaltet, unseren Willen eingeschlossen. Die selbstreferenzielle Dynamik des Kapitals macht den menschlichen Willen, den Arbeitgeber und den Arbeitnehmer gleichermaßen zunichte.

Den Kapitalismus hat niemand entworfen

Obwohl das Kapital – das Kürzel für Maschinen, Geld, verbriefte Derivate und alle Formen, in denen sich Wohlstand kristallisiert hat – unbelebt ist und keinen Verstand hat, entwickelt es sich rasch so, als wäre es selbst ein Akteur in der Wirtschaft, und benutzt menschliche Akteure (Banker, Bosse und Beschäftigte gleichermaßen) als Bauern in seinem Spiel. Genau wie unser Unbewusstes erzeugt auch das Kapital in unseren Köpfen Illusionen– vor allem die Illusion, dass wir, wenn wir ihm dienen, wertvoll, außergewöhnlich, mächtig werden. Wir sind stolz auf unsere Beziehung zum Kapital (entweder als Finanziers, die an einem einzigen Tag Millionen „schaffen“, oder als Arbeitgeber, von denen zahllose Arbeitnehmerfamilien abhängen, oder als Arbeitnehmer, die privilegierten Zugang zu der schimmernden Maschinerie haben oder zu kümmerlichen Dienstleistungen, die illegalen Migranten verwehrt bleiben) und ignorieren die tragische Tatsache, dass in Wahrheit das Kapital uns alle besitzt und wir ihm dienen.

Der Philosoph Arthur Schopenhauer warf uns modernen Menschen vor, wir würden uns selbst täuschen, wenn wir meinten, unsere Überzeugungen und Handlungen würden von unserem Bewusstsein gesteuert. Nietzsche pflichtete ihm bei und sagte, alles, woran wir irgendwann glaubten, spiegele nicht die Wahrheit wider, sondern die Macht eines anderen über uns. Marx fügte in dieses Bild noch die Wirtschaft ein und tadelte uns alle, weil wir die Realität ignorierten, dass das Kapital und sein Drang zur Akkumulation unsere Gedanken okkupiert hätten. Natürlich entwickelt sich das Kapital ohne Verstand, auch wenn es seiner eigenen stahlharten Logik folgt. Niemand hat den Kapitalismus entworfen, und niemand wird ihn bändigen, jetzt, wo er seine volle Dynamik entfaltet.

Indem der Kapitalismus sich einfach entwickelt hat, ohne dass jemand zustimmte, hat er uns von den primitiveren Formen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisation befreit. Er hat Maschinen und (materielle und finanzielle) Instrumente hervorgebracht, die uns erlaubten, die Herrschaft über den Planeten zu übernehmen. Er versetzte uns in die Lage, uns eine Zukunft ohne Armut vorzustellen, in der unser Leben nicht länger der Gnade einer feindlichen Natur ausgeliefert ist. Doch wie die Natur mit denselben Mechanismen Mozart und Aids hervorbrachte, produzierte der Kapitalismus zugleich auch katastrophale Kräfte mit einer Tendenz, Unfrieden, Ungleichheit, industrielle Kriegführung, Umweltzerstörung und natürlich auch finanzielle Zusammenbrüche hervorzubringen. Also gleichzeitig – ohne Logik und Grund – Reichtum und Krisen, Entwicklung und Entrechtung, Fortschritt und Rückständigkeit.

War der Crash von 2008 womöglich nichts anderes als unsere regelmäßig wiederkehrende Chance zu erkennen, wie sehr wir bereits zugelassen haben, dass unser Wille vom Kapital unterjocht wird? War es ein Stoß, der uns aufrütteln sollte, damit wir einsehen, dass das Kapital die Kraft ist, „der wir uns beugen müssen“, eine Macht, die eine „kosmopolitische, allgemeine, jede Schranke, jedes Band umwerfende Energie entwickelt, um sich als die einzige Politik, Allgemeinheit, Schranke und Band an die Stelle zu setzen“?3

Die Erklärungen lassen uns unbefriedigt zurück, mit dem nagenden Gefühl, etwas Wichtiges zu verfehlen – dass wir zwar viele wichtige Manifestationen des Crashs erkannt haben, seine Quintessenz sich uns aber immer noch entzieht. Warum ist er wirklich passiert? Und wie konnten Heerscharen eifriger und motivierter, technisch hochgradig versierter Marktbeobachter schiefliegen? Wenn nicht Gier und Gaunerei, lockere Moral und noch lockerere Regulierung den Crash und die nachfolgende Krise verursacht haben, was dann? Und wenn die Erwartung der Marxisten, dass die inneren Widersprüche des Kapitalismus immer zum Ausbruch drängen, zu simpel ist als Erklärung der Vorgänge, die zu den Ereignissen von 2008 führten, was ist dann das fehlende Bindeglied?

Meine bildlich ausgedrückte Antwort lautet: Der Crash von 2008 passierte, als ein Ungeheuer, das ich den globalen Minotaurus nenne, lebensgefährlich verwundet wurde. Solange es den Planeten regierte, war seine eiserne Faust mitleidlos, und seine Herrschaft kannte kein Erbarmen. Trotzdem: Solange es sich robuster Gesundheit erfreute, hielt es die Weltwirtschaft in einem Zustand des ausgeglichenen Ungleichgewichts. Es sicherte ein gewisses Maß an Stabilität. Aber als das unausweichliche Schicksal es ereilte und es 2008 in einen komatösen Zustand verfiel, stürzte die Welt in eine schwelende Krise. Solange wir keinen Weg gefunden haben, um ohne das Ungeheuer zu leben, werden radikale Ungewissheit, anhaltende Stagnation und immer wieder aufflammende erhebliche Unruhe an der Tagesordnung sein.

Der Zusammenbruch des Kommunismus 1991 war der Schlusspunkt einer Tragödie mit klassischen Untertönen, ein verhängnisvoller Wendepunkt (eine Peripetie, wie Aristoteles gesagt hätte), der begann, als die hehren Absichten der revolutionären Sozialisten zunächst von machthungrigen Zeloten usurpiert wurden und in der Folge sich ein auf die Dauer nicht lebensfähiger industrieller Feudalismus entwickelte, in dem es nur Opfer und Bösewichte gab. Im Gegensatz dazu hatte der Crash von 2008 die Aura einer vorklassischen, geradezu mythologischen und daher kruderen Abfolge von Ereignissen. Aus diesem Grund spielt der Titel dieses Buchs, „Der globale Minotauros“, auf eine Zeit vor der Erfindung der Tragödie an.

Wie ein globaler Staubsauger

Ich hätte das Buch auch anders nennen können, zum Beispiel „Der globale Staubsauger“. Der Begriff beschreibt ziemlich gut das Hauptmerkmal der zweiten Nachkriegsphase, die 1971 mit einer kühnen strategischen Entscheidung der amerikanischen Regierung begann: Statt das doppelte Defizit abzubauen, das sie in den späten 1960er Jahren aufgebaut hatten (das Haushaltsdefizit des amerikanischen Staats und das Handelsbilanzdefizit der amerikanischen Wirtschaft), beschlossen Amerikas führende Politiker, beide Defizite absichtlich großzügig weiter zu erhöhen. Und wer sollte für die roten Zahlen aufkommen? Ganz einfach: der Rest der Welt! Wie? Durch einen anhaltenden Tsunami von Kapital, der ununterbrochen über die beiden großen Meere rauschte, um das doppelte Defizit Amerikas zu finanzieren.

So wirkte das doppelte Defizit der amerikanischen Wirtschaft jahrzehntelang wie ein gigantischer Staubsauger, der die Überschüsse anderer Völker an Waren und Kapital aufsaugte. Dieses „Arrangement“ war die Verkörperung des größten denkbaren Ungleichgewichts auf dem Planeten und erforderte, wie Paul Volcker es anschaulich beschrieb, die „kontrollierte Desintegration der Weltwirtschaft“. Trotzdem entstand etwas, das einem globalen Gleichgewicht ähnelte: ein internationales System sich rapide beschleunigender asymmetrischer Finanz- und Handelsströme, die den Anschein von Stabilität und stetigem Wachstum erweckten. Angetrieben durch das doppelte Defizit Amerikas, spuckten die führenden Überschussökonomien der Welt (Deutschland, Japan und später China) Güter aus, und die Amerikaner verschlangen sie. Fast 70 Prozent der Gewinne, die diese Länder weltweit einstrichen, wurden dann in Form von Kapitalströmen an die Wall Street zurück in die Vereinigten Staaten transferiert. Und was machte die Wall Street damit? Sie verwandelte die Kapitalströme sofort in Direktinvestitionen, Aktien, neue Finanzinstrumente, neue und alte Formen von Anleihen, und nicht zuletzt fiel auch ein „hübscher Verdienst“ für die Banker ab.

Durch dieses Prisma betrachtet, ergibt auf einmal alles Sinn: der Aufschwung des Finanzmarktkapitalismus, der Triumph der Gier, der Rückzug der Regulierer, die Dominanz des anglo-keltischen Wachstumsmodells. All diese für die Ära typischen Phänomene erscheinen auf einmal als bloße Nebenprodukte der massiven Kapitalflüsse, die nötig waren, um das doppelte Defizit der Vereinigten Staaten zu kompensieren. Der „globale Staubsauger“ hätte das Thema des vorliegenden Buchs tatsächlich treffend wiedergegeben.

Die bescheidene Herkunft des Begriffs aus dem Reich der Haushaltsgeräte hätte sich beim Marketing vielleicht als hinderlich erwiesen, ihn aber nicht per se disqualifiziert. Doch auf einer symbolischeren Ebene hätte der Staubsauger den dramatischen, geradezu mythologischen Aspekten der internationalen Konstruktion, unter der wir alle vor dem verhängnisvollen Jahr 2008 hart arbeiteten, nicht Rechnung getragen – eine Konstruktion, die zu instabil war, um auf Dauer Bestand zu haben, die aber zugleich über Jahrzehnte weltweit für Ruhe sorgte, während ein konstanter Strom von Tributzahlungen von der Peripherie ins Zentrum des Reichs floss, Tributzahlungen, die bewirkten, dass das doppelte Defizit in Amerika und die weltweite Nachfrage nach den Gütern und Dienstleistungen der Überschussnationen sich wechselseitig stärkten. So sah es aus – das globale Untier, das von 1970er Jahren bis vor Kurzem so laut brüllte.

Ich glaube, zu seinem Erscheinungsbild passt die Metapher vom Minotaurus besser als eine, die an Hausarbeit erinnert. Ein kurzer Blick auf den antiken Mythos bestätigt, dass er sich gut zur Schilderung eines Machtungleichgewichts eignet, das durch einseitige Tributleistungen aufrechterhalten und stabilisiert wird. Eine Hegemonialmacht dehnt ihre Kontrolle über das Meer aus, gebärdet sich als Hüterin des Friedens in vielen Ländern und des internationalen Handels und erhält als Gegenleistung regelmäßige Tributzahlungen, die dazu dienen, das Ungeheuer im Inneren zu ernähren.

In der nebelumwobenen Welt der kretischen Mythologie war das Ungeheuer eine traurige, ungeliebte, bösartige Kreatur, und die Tribute waren junge Menschen, deren Opferung einen hart erkämpften Frieden sichern sollte. Um die Herrschaft des Ungeheuers zu beenden, musste ein tapferer Prinz, Theseus, die unschöne Tat vollbringen – den Minotaurus töten und eine neue, nachkretische Ära einleiten.

In unserer komplizierteren Welt waren solche Heldentaten nicht nötig. Die Rolle des Ungeheuers spielte das doppelte Defizit in Amerika, und die Tributzahlung erfolgte in Form von Zuflüssen von Waren und Kapital. Das Ende unseres globalen Minotaurus kam plötzlich, ohne dass ein konkreter Akteur ihm einen Schlag versetzt hätte. Die potenziell tödliche Wunde wurde ihm durch den feigen, spontanen Kollaps des Bankensystem zugefügt. Der Schlag war jedoch genauso schwerwiegend. Er beendete ein für alle Mal die zweite Nachkriegsphase des Weltkapitalismus; doch die neue Ära weigert sich beharrlich, ihr Gesicht zu zeigen. So lange verharren wir alle weiter in dem Zustand der Aporie, in den uns das Jahr 2008 gestürzt hat.

Fußnoten: 1 Am Montag, dem 19. Oktober 1987, erlitten die Aktienmärkte weltweit den größten Tagesverlust in ihrer Geschichte. 2 Die Pakete hatten den geheimnisvollen Namen Collateralized Debt Obligations, CDOs (verbriefte Schuldverschreibungen). 3 Karl Marx 1844 im dritten seiner Pariser Manuskripte, „Privateigentum und Arbeit“, MEW, Ergänzungsband, Teil 1, Ostberlin (Dietz) 1968, S. 531. Aus dem Englischen von Ursel Schäfer Yanis Varoufakis ist Professor für Ökonomie an der Universität Athen. Das Buch „Der globale Minotaurus. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft“, dem dieser Text entnommen ist, erscheint im März 2012 im Verlag Antje Kunstmann. Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte. © Antje Kunstmann Verlag, München, und Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.02.2012, von Yanis Varoufakis