11.01.2024

Rechtsruck in Neuseeland

zurück

Rechtsruck in Neuseeland

Nach dem Rücktritt von Jacinda Ardern haben die Konservativen mit Christopher Luxon die Wahlen am 14. Oktober für sich entschieden. Dass jetzt eine der rechtesten Regierungen seit den 1990er Jahren an der Macht ist, hat auch mit dem politischen Versagen der Labour-Partei zu tun.

von Oliver Neas

Neuseelands neuer Premier Christopher Luxon MARK MITCHELL/picture alliance/ap
Audio: Artikel vorlesen lassen

Es war ein echter Überraschungssieg, als Neuseelands Labour-Partei (NZLP) nach neun Jahren auf der Oppositionsbank im Oktober 2017 wieder an die Macht kam. Wenige Wochen zuvor hatte sie noch in den unteren Regionen der Beliebtheitsskala vor sich hin gedümpelt. Die vierte Wahlschlappe in Folge schien unausweichlich. Da versuchte Parteichef Andrew Little zu retten, was noch zu retten war: Er warf das Handtuch und machte den Weg frei für seine Stellvertreterin Jacinda Ardern.

Dieser Schritt zeigte sofort Wirkung: Labours Popularitätskurve schnellte nach oben. Landauf, landab strömten die Menschen zu Arderns Kundgebungen, die in den Umfragen ihren Rivalen von der Mitte-rechts-Partei NZNP (Neuseeländische National-Partei) schon bald überholte.

Jacinda Ardern war charismatisch, wusste sich in den sozialen Medien perfekt in Szene zu setzen und versprach einen echten Wandel: „Der Neoliberalismus ist gescheitert“, erklärte sie im Wahlkampf und versprach Maßnahmen gegen Kinderarmut und Wohnungsnot. Unterstützt von der nationalistischen Partei New Zealand First (NZ First) und der linken Green Party of Aotearoa wurde sie mit 37 Jahren die jüngste Regierungschefin in der neuseeländischen Geschichte.

Bei den Parlamentswahlen am 14. Oktober 2023 erlitt die Labour-Partei nun eine schmähliche Niederlage: Nicht einmal 27 Prozent konnte sie für sich verbuchen. Der neue Premierminister Christopher Luxon, Millionär und ehemaliger CEO, hat inzwischen eine Regierung gebildet, die als die rechteste seit den 1990er Jahren eingestuft wird. Neben seiner eigenen NZNP gehören seiner Koalition die ultraliberale Partei ACT und NZ First an.

Jacinda Ardern war im Januar 2023 überraschend zurückgetreten. Ihr fehle die Kraft für weitere vier Jahre, erklärte sie bei ihrem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Amt. Chris Hipkins, Aderns Nachfolger als Premier und vorheriger Polizeiminister, führt die Wahlschlappe seiner Partei auf die Folgen der Coronapandemie und die Explo­sion der Lebenshaltungskosten zurück. Doch es ist auch politisches Versagen: Ardern hatte sich bemüht, ihren ambitionierten Reden auch Taten folgen zu lassen, doch 2023 war von diesem Ehrgeiz nicht mehr viel übrig – die Labour-Partei hatte die historische Chance verpasst, den von ihr selbst einst eingeschlagenen neoliberalen Kurs zu korrigieren.

Bis in die 1980er Jahre hatten die Labour-Regierungen ein mit dem schwedischen Sozialstaat vergleichbares Modell „von der Wiege bis zum Grab“ vertreten. Die Wirtschaft war durch höhere Zölle geschützt als in den meisten anderen Ländern der Welt. Doch 1984 sagte sich Labour von dieser Tradition los und machte das Land zum Spielfeld des freien Marktes. In kürzester Zeit deregulierte sie den Finanzsektor und privatisierte Staatsbetriebe.

1990 gaben die Wählerinnen und Wähler der Labour-Partei den Laufpass. Die National-Partei, die sie ablöste, setzte dieselbe Politik noch energischer fort. Die Armut stieg rapide, die gesellschaftlichen Gräben vertieften sich.1 Einige besonders krasse Auswüchse wurden nach und nach korrigiert, vor allem von der Labour-Regierung unter Helen Clark (1999–2008), aber an den Grundpfeilern des neuen neoliberalen Staatsverständnisses wurde nicht gerüttelt. 2017 blieben die Sozialausgaben unter den OECD-Standards, die Preise für Wohnraum zählten zu den höchsten weltweit.2

In dieser Situation trat Ardern auf den Plan und warb für einen radikalen Kurswechsel. Sie warf dem Kapitalismus „eklatantes Versagen“ vor – zumindest in der Wohnungsfrage. „Was nützt eine wachsende Wirtschaft, wenn es bei uns mehr Obdachlose gibt als in jedem anderen Industrieland?“, fragte sie im ersten Interview nach ihrem Wahlsieg.3 Ihre Regierung verkündete, sie werde die Kinderarmut halbieren und innerhalb von zehn Jahren 100 000 Wohnungen bauen.

Arderns Projekt hatte allerdings einen Konstruktionsfehler. Einerseits sollte der Neoliberalismus überwunden werden, andererseits wollte man sich aber auch an die „Regeln einer verantwortungsvollen Haushaltspolitik“ halten, um die Märkte zu beruhigen. Ardern wollte Überschüsse erwirtschaften, die Staatsausgaben auf ein Volumen von 35 bis 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) beschränken4 und die Verschuldung unter der Marke von 20 Prozent des BIPs halten – also auf einem im Vergleich zu den meisten europäischen Ländern ausgesprochen niedrigen Niveau.

Auch ihr Vorhaben einer Kapitalertragssteuer ließ Ardern fallen, obwohl es in allen OECD-Ländern eine solche Steuer gibt und ihre eigene Partei sie lange als Mittel gegen die Immobi­lien­spekulation gepriesen hatte. Damit nahm die Regierung sich selbst den Wind aus den Segeln. Das Regierungsprogramm sah unter anderem vor, den Mindestlohn anzuheben, die Sozialausgaben zu erhöhen, den Verkehrssektor CO2-neutral umzugestalten und eine Milliarde Bäume zu pflanzen. Doch finanzieren durfte Arderns Koalition dieses Programm weder durch neue Schulden noch durch eine höhere Besteuerung der Reichen; das hatte sie sich selbst verboten.

Die Fallstricke dieser Politik wurden schon bald sichtbar. Als mit dem medienwirksam inszenierten Wohnungsbauprogramm „KiwiBuild“ – 1000 neue Wohnungen im ersten Jahr, danach bis zu 12 000 jährlich – nach einem Jahr gerade einmal 258 Wohneinheiten fertig waren, verabschiedete sich die Regierung von ihrer ursprünglichen Zielvorgabe.5

Die Premierministerin und ihr Kabinett machten das Gegenteil von dem, was die Labour-Regierungen der 1970er Jahre getan hatten: Während Letztere ihre Wohnungsbauprogramme aus öffentlichen Mitteln finanziert hatten, bemühte Ardern dafür lieber die Privatwirtschaft, die nach hehren Absichtsbekundungen vor dem überhitzten Markt zurückschreckte und sich nach Alternativen umsah, die größere Profite versprachen.

In Arderns erste Amtszeit fielen zudem zwei folgenschwere Ereignisse: Am 15. März 2019 erschoss ein Rechtsextremist in der Moschee von Christchurch 51 Gläubige. „Unsere Geschichte hat sich für immer verändert. Auch unsere Gesetze werden sich verändern“, erklärte Jacinda Ardern noch am selben Tag. Kurz danach stimmte das Parlament für ein Verbot halbautomatischer Waffen; 62 000 dieser Waffen wurden eingezogen. Die Bilder der Premierministerin, die im Hidschab den Angehörigen der Opfer ihr Mitgefühl ausdrückt, gingen um die Welt.

Schon vor der Tragödie von Christchurch war Ardern zu weltweiter Berühmtheit gelangt. Die internationale Presse wertete ihren Wahlsieg als Teil einer globalen Gegenbewegung zu Donald Trump und stellte sie in eine Reihe mit Justin Trudeau und Emmanuel Macron. Zwei Monate nach dem Massaker initiierte die Premierministerin gemeinsam mit dem französischen Präsidenten den „Appell von Christchurch“, der auf die Löschung terroristischer und extremistischer Inhalte in den sozialen Netzwerken abzielte.

Als im März 2020 – ein Jahr nach der Tragödie von Christchurch – Corona über den Planeten hereinbrach, reagierte Arderns Regierung mit einer rigiden Null-Covid-Strategie. Nach einem strengen zweimonatigen Lockdown erklärte sich das Land für coronafrei. Während im Rest der Welt die Todeszahlen weiter stiegen, ging das Leben in Neuseeland fast wieder seinen gewohnten Gang. Am Ende fiel die coronabedingte Sterblichkeit 80 Prozent geringer aus als in den USA, was einer aktuellen Studie zufolge 20 000 Menschenleben gerettet hat.6

Für ihren Umgang mit diesen beiden Krisen wurde die Labour-Partei bei den Wahlen 2020 mit 50 Prozent der Stimmen belohnt – das beste Resultat der Partei in 74 Jahren. Seit der Einführung des Verhältniswahlrechts im Jahr 1996 war es noch nie vorgekommen, dass eine Partei die absolute Mehrheit erreicht hat und allein regieren konnte. Doch Labour wusste dieses politische Kapital nicht zu nutzen.

Für weite Teile der Bevölkerung verschlechterte sich ab Mitte 2021 die Gesamtlage. Während der Pandemie unternahm die Regierung fiskalisch und haushaltspolitisch zwar größere Kraftanstrengungen als die meisten anderen OECD-Staaten, aber statt die in die Klemme geratenen privaten Haushalte direkt zu unterstützen, griff Arderns Regierung vor allem den Unternehmen mit großzügigen Steuerentlastungen und Subventionen unter die Arme. Damit sicherte sie einerseits den Beschäftigten ihre Arbeitsplätze, sorgte aber andererseits dafür, dass schätzungsweise 872 Milliarden Neuseeland-Dollar (496 Milliarden Euro) in die Taschen von Kapitaleigentümern umverteilt wurden.7 Auf diesem Wege trug sie zum neuerlichen massiven Anstieg der Immobilienpreise bei.

Im Sommer 2022 kletterte die Inflation in Neuseeland auf 7,3 Prozent. Eine so hohe Teuerungsrate hatte es seit 30 Jahren nicht gegeben.8 Die Labour-Partei unterstützte die aggressive Zinserhöhungspolitik der Zentralbank, ohne deren Auswirkungen abzufedern: Mie­te­r:in­nen bekamen als Unterstützung einen kleinen Scheck über 350 Dollar, aber Rentnerinnen und die meisten Empfänger von So­zial­leistungen gingen leer aus; die Fahrpreisverbilligung für den öffentlichen Verkehr wurde nach einem Jahr zurückgenommen. Die Übergewinne der Unternehmen, insbesondere der großen Handelsketten, tastete die Regierung dagegen nicht an.

Als Jacinda Ardern im Januar 2023 vorzeitig ihr Amt aufgab, war der Glanz von 2020 stark verblasst. Wachsende Kriminalität und steigende Infla­tion bestimmten die Schlagzeilen. Ob Krankenversicherung oder Wasserversorgung – wichtige Reformvorhaben lösten mehr Kontroversen als Begeisterung aus. Die allgemeine Meinung zum Thema Corona hatte sich gewandelt: Die 2021 neuerlich verhängten Lockdown-Maßnahmen wurden nicht mehr ohne Weiteres hingenommen, sondern sorgten für Frustration. Anfang 2022 protestierten Impf­geg­ne­r:in­nen wochenlang vor dem Parlamentsgebäude in Wellington. In Teilen der Wählerschaft – besonders in ländlichen Regionen – entstand eine regelrechte Anti-Ardern-Stimmung.

Chris Hipkins, der neue Labour-Premier, beschloss, auf mehrere Umweltschutzprogramme zu verzichten und mit dem eingesparten Geld die Kaufkraft zu stärken. Doch seine Wahlkampfreden, in denen er vor einem Comeback der Rechten warnte, blieben im Vergleich zur Labour-Kampagne von 2017 fantasielos. Entsprechend katas­trophal schnitt die Labour-Partei bei der Wahl ab.

Und das ist die Bilanz von zwei Amtszeiten Labour: Die Mitte-links-Partei hat die Sozialleistungen und den Mindestlohn erhöht, die Arbeitnehmer- und Mieterrechte gestärkt und dafür gesorgt, dass es mehr Sozialwohnungen gibt. Trotzdem ist Wohnen heute teurer als bei Arderns Regierungsantritt. Die Vermögensungleichheit ist auf einem ähnlichen Niveau geblieben; die reichsten 1 Prozent besitzen rund ein Viertel des Reichtums im Land.9 Beim Kampf gegen die Klimakrise hat die Labour-Regierung den Lobbyisten nachgegeben und darauf verzichtet, die Vorzugsbehandlung der Landwirtschaft beim Emissionsausstoß zu beenden. Und das, obwohl der Agrarsektor mehr Treibhausgase emittiert als jeder andere Wirtschaftszweig.

Doch haben die Wäh­le­rin­nen und Wähler mit ihrem Votum auch das Programm der National-Partei abgesegnet? Anfang Dezember gingen bereits landesweit tausende Menschen gegen die neue Regierung auf die Straße. Zu den Protesten hatte die linke Partei Te Pāti Māori aufgerufen, alarmiert durch die Ankündigung der neuen Regierung, den Vertrag von Waitangi neu aufzusetzen. In dieser verfassungsähnlichen Gründungsurkunde Neuseelands wurden 1840 unter anderem die Eigentumsrechte der Maori festgeschrieben.

Darüber hinaus will die Koalition den öffentlichen Sektor verschlanken, Branchentarifverträge abschaffen, die Grundsteuer senken, Mieterrechte beschneiden und die Offshore-Öl- und Gasexploration wieder aufnehmen. Für Neuseelands Linke brechen finstere Zeiten an.

1 Siehe Serge Halimi, „Der leuchtende Pfad der Wettbewerbsgesellschaft“, LMd, April 1997.

2 Siehe „Social Expenditure Database“, OECD; sowie „Global Housing Watch“, IWF, Juli 2016.

3 Dan Satherley und Lisa Owen, „Homelessness proves capitalism is a ‚blatant failure‘ – Jacinda Ardern“, Newshub, 21. März 2017.

4 Vernon Small, „Labour-Greens have signed up to a joint position on surpluses, cutting debt“, Stuff, 24. März 2017.

5 Zane Small, „Labour’s flagship policy: Where did KiwiBuild go wrong?“, Newshub, 4. September 2019.

6 Serena Solomon, „New Zealand Covid response saved 20,000 lives, study says“, The Guardian, 6. Oktober 2023.

7 „Our counterproductive Covid ‚rekovery‘“, The Kākā by Bernard Hickey, 30. November 2021.

8 „Annual inflation at 7.3 percent, 32-year high“, Stats NZ Tatauranga Aotearoa, 18. Juli 2022.

9 Max Rashbrooke, „Has Labour worsened inequality?“, The Spinoff, 13. Juni 2023.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Oliver Neas ist Journalist und Anwalt in Wellington.

Le Monde diplomatique vom 11.01.2024, von Oliver Neas