09.05.2019

Die Türkei auf dem Weg zur Seemacht

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Die Türkei auf dem Weg zur Seemacht

In der Verteidigungs- und Energiepolitik verfolgt die türkische Regierung im Mittelmeer einen zunehmend aggressiven Kurs. Damit isoliert sie sich gegenüber der Nato und ihren Nachbarn. Gleichzeitig setzt Präsident Erdoğan auf Russland als neuen Bündnispartner – und kann damit innenpolitisch punkten.

von Günter Seufert

Nick Dawes, 5, 2019, Öl auf Leinwand, 60 x 80 cm
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Weitgehend unbeachtet von der europäischen Öffentlichkeit hat die Türkei in der letzten Februar- und der ersten Märzwoche 2019 das größte Seemanöver ihrer Geschichte durchgeführt. Damit demonstrierte Ankara in doppelter Hinsicht die Erfolge einer ehrgeizigen Flottenpolitik: Die türkische Marine operierte gleichzeitig im Schwarzen Meer, in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer und führte dabei das ganze Spektrum der einheimischen Rüstungsproduktion vor.

Zum Einsatz kamen nicht nur Zerstörer, Fregatten, Korvetten, Landungsboote, U-Boote und Minensuchschiffe, sondern auch lenkbare Schiffsabwehrraketen und eine besondere Novität: unbewaffnete und bewaffnete Drohnen, bei deren Entwicklung die Türkei mittlerweile in der ersten Liga spielt. An dem groß inszenierten Marinespektakel nahmen erstmals auch Einheiten der Luftwaffe und Heeresflieger teil.

Nach Meinung von Experten ist die „Türk Deniz Kuvvetleri“ im Begriff, sich von einer besseren Küstenwache zu einer Hochseemarine zu mausern, die ihre Macht demnächst auch weit über die Region hinaus demonstrieren will. Als Beleg dafür gelten vor allem Erwerb und Ausbau der TCG „Anadolu“. Dieses amphibische Angriffsschiff wird zu einem leichten Flugzeugträger aufgerüstet, von dem aus nicht nur Hubschrauber, sondern auch Kampfjets starten sollen.1

Der Schwerpunkt der Frühjahrsmanöver lag nicht – wie man vermuten sollte – im Schwarzen Meer, wo Russland seine erweiterten Fähigkeiten demonstriert, sondern im Mittelmeer. Dort sieht sich die Türkei im Verteilungskampf um die Gasreserven auf dem Meeresgrund diplomatisch heute so gründlich isoliert, dass ihr außer militärischem Muskelspiel kaum Op­tio­nen bleiben.

Beim Streit ums Gas steht Ankara allein da

Schon im Februar 2018 hatten türkische Kriegsschiffe eine Explorationsplattform der italienischen Energiegesellschaft ENI vertrieben, die innerhalb der international anerkannten ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) der Republik Zypern Probebohrungen durchführte.

Noch 2012 hatte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan den Einsatz militärischer Gewalt im Streit um die Gasfelder kategorisch ausgeschlossen. Von solcher Selbstbeschränkung ist heute in Ankara nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: Mitte Februar 2019 erklärte Er­do­ğan, die Kriegsschiffe und die Luftwaffe der Türkei hätten im östlichen Mittelmeer die Befugnis, alle notwendigen Mittel einzusetzen.

Der Präsident verwies auf die militärischen Interventionen seines Landes in Nordzypern und drohte Griechenland und Zypern mit einem ähnlich offensiven Vorgehen seiner Streitkräfte.2 Schon im August 2018 beschloss die Türkei, im nordzyprischen Famagusta/Gazimağusa einen Marinestützpunkt zu errichten; auch der Militärflughafen von Geçitkale (Lefkoniko) bei Famagusta soll ausgebaut werden.3

Es ist keineswegs verwunderlich, dass Ankara beim Streit um das Gas im östlichen Mittelmeer ziemlich allein dasteht. Die Türkei liegt mit sämtlichen Anrainerstaaten über Kreuz: Mit Kairo sind die Beziehungen vergiftet, seit der heutige Machthaber Abdel Fattah al-Sisi im Juli 2013 die von der Türkei geförderte Mursi-Regierung der Muslimbrüder gestürzt hat (siehe dazu auch den Artikel von Chérif Ayman auf Seite 8). Inzwischen ist Istanbul zu einen Zentrum der ägyptischen Opposition geworden.

Was das Verhältnis zu Israel betrifft, so haben die Palästinapolitik der Regierung Netanjahu und die Unterstützung der Türkei für die Hamas im Gazastreifen die 2016 begonnene türkisch-israelische Annäherung wieder abgewürgt.

Und mit Griechenland streitet sich Ankara schon seit Jahrzehnten über Luft- und Seegrenzen sowie den Status griechischer Inseln in der Ägäis.4 Und für die Zyperngriechen ist die Türkei schlicht eine Besatzungsmacht.

Es gibt ein weiteres Faktum, das noch wichtiger sein dürfte als die Zerwürfnisse Ankaras mit den einzelnen Nachbarländern: Die türkische Regierung  fühlt  sich  nicht  an  die  Vorgaben

des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (Unclos) von 1992 gebunden. Diese UN-Konvention ist seit 1994 in Kraft und hat heute den Status eines etablierten Gewohnheitsrechts. Um Auseinandersetzungen über die Nutzung der Meeresbodenschätze vorzubeugen, sieht Unclos die Proklama­tion ausschließlicher Wirtschaftszonen (AWZ) der einzelnen Anrainerstaaten vor, die sich bis auf 200 Seemeilen jenseits der Küsten erstrecken können. Wenn sich die Ansprüche von Nachbarn überlappen, soll das Pro­blem auf dem Verhandlungsweg gelöst werden.

Die Republik Zypern hat in diesem Sinn 2003 ein entsprechendes Abkommen mit Ägypten geschlossen, das 2013 überarbeitet wurde. 2007 hat Nikosia einen ähnlichen Vertrag mit Beirut vereinbart – der allerdings bislang vom libanesischen Parlament nicht ratifiziert wurde –, und seit 2010 gibt es eine entsprechende Vereinbarung zwischen Nikosia und Tel Aviv. Griechenland hat AWZ-Abkommen mit Ägypten und Libyen unterzeichnet.

Die Türkei ist dem Seerechtsübereinkommen aufgrund des Ägäisstreits mit Griechenland nicht beigetreten. Im Gegensatz zu allen anderen Staaten der Region behauptet Ankara, dass als Basis für die Abgrenzung ausschließlicher Wirtschaftszonen nur die Küstenlinien der Festlandmasse – und nicht von Inseln – heranzuziehen seien. Deshalb habe die Republik Zypern als Inselstaat keinerlei Rechte auf eine eigene AWZ.

Hinzu kommt, dass die Türkei im Gegensatz zu allen anderen Staaten der Republik Zypern die Anerkennung verweigert, wogegen sie die nur von ihr selbst anerkannte Türkische Republik Nordzypern (TRNZ) als souveränen Staat behandelt. Im Widerspruch zur eigenen These, wonach Inseln keine ausschließlichen Wirtschaftszonen beanspruchen können, hat Ankara mit der TRNZ ein Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von AWZs geschlossen und das staatseigene Energieunternehmen TPAO mit Probebohrungen in der Meereszone zwischen Nordzypern und der türkischen Südküste beauftragt.5

Die Entscheidung, dem Seerechtsübereinkommen nicht beizutreten, dient der Türkei als Begründung dafür, dass sie keinen der bilateralen Verträge anerkennt, die die übrigen Anrainerstaaten auf der Grundlage von Unclos abgeschlossen haben. Ankara hat sich eine eigene Rechtsauffassung gebastelt, die quer zum Verständnis aller anderen Staaten liegt, die eine friedliche Aufteilung der Gasfelder im östlichen Mittelmeer vereinbart haben.

Durch die Infragestellung aller bilateralen Übereinkünfte hat Ankara eine Zusammenarbeit der restlichen Anrainerstaaten gegen die Türkei nachgerade erzwungen. Das Ergebnis ist eine Allianz, deren Partner vor allem die Skepsis gegenüber Ankara verbindet. Am 14. Januar 2019 hoben die Energieminister Griechenlands, Israels, der Republik Zypern, Ägyptens, Jorda­niens und der Palästinensischen Autonomiebehörde sowie Italiens in Kairo das „Gas-Forum östliches Mittelmeer“ (EMGF) aus der Taufe.

Noch ist das Forum nur ein loser Zusammenschluss, doch Kairo arbeitet bereits an den Statuten einer formalen Organisation, die Regeln für einen gemeinsamen Erdgasmarkt in der Region etablieren soll.6 Absprachen und eine engere Kooperation sollen die Kosten für Investitionen senken und für Preise sorgen, die das Gas aus dem östlichen Mittelmeer (EastMed) auch auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig machen.

Das Gründung des Gasforums ist eindeutig gegen die Türkei gerichtet. Sein strategisches Ziel ist es, so der ägyptische Energiefachmann Ramadan Abu al-Ala, „alle Versuche der Türkei zu vereiteln, Forschungen und Probebohrungen der Mitglieder des Forums zu stören“. Nach Professor Gamal al-Galyubi von der Amerikanischen Universität Kairo geht es auch darum, die Pläne Ankaras zu durchkreuzen, die Türkei zum bestimmenden Verteilungszentrum (Hub) für Erdgas im östlichen Mittelmeer zu machen. Diese Rolle falle nunmehr Ägypten zu.7

Dabei hatte die Türkei vor einigen Jahren noch viel bessere Karten. Während der Präsidentschaft von Mohammed Mursi hatte sich eine enge Zusammenarbeit auch im Energiebereich abgezeichnet. Und mit Israel hatte Ankara in den 1990er Jahren eine umfassende sicherheitspolitische Kooperation vereinbart, die Rüstungsgeschäfte und militärische Ausbildung einschloss, so etwa Übungsflüge israelischer Piloten in Anatolien, gemeinsame Seemanöver und eine sehr enge Kooperation zwischen den Geheimdiensten. All das endete abrupt, nachdem im Mai 2010 eine von türkischen islamischen Vereinen angeführte Flottille internationaler NGOs versuchte, die israelische Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen.

Erdoğan will mit Putin Waffen produzieren

Die türkische Regierung stellte sich damals hinter die Aktion der NGOs, in deren weiteren Verlauf israelische Kommandos auf der „Mavi Marmara“ neun Aktivisten töteten, und berief seinen Botschafter aus Israel ab.8 Nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Ankara orientierte sich Tel Aviv – nach langem Zögern – in Richtung Athen und Nikosia. Seit einiger Zeit führen die See-, Luft- und Landstreitkräfte der drei Staaten regelmäßig gemeinsame Manöver durch.9

Im Juni 2018 wurde beim zweiten trilateralen Treffen der Verteidigungsminister die Kooperation auf Cybersicherheit und Rettungsmanöver für Explorations- und Förderanlagen ausgeweitet. Ähnliche Initiativen kamen auch mit Ägypten zustande. Auf einem trilateralen Gipfel im Oktober 2018 in Kreta vereinbarten Athen, Nikosia und Kairo eine engere energiepolitische Zusammenarbeit, zudem schwenkte Ägypten in der Zypernfrage voll auf die Position der Zyperngriechen ein.

Die spektakuläre maritime Waffenschau, die Ankara vom 27. Februar bis 8. März 2019 in den drei Meeren veranstaltet hat, kann nur als Reaktion auf diese Front verstanden werden. Ob die Türkei damit ihre Position im östlichen Mittelmeer wirklich stärken konnte, ist jedoch zweifelhaft.

Die erste Reaktion auf die Drohkulisse kam aus Washington. Nachdem sich die USA bislang im Streit ums Gas im Mittelmeer zurückgehalten hatten, bezogen sie erstmals klar Position: Am 20. März 2019 nahm Außenminister Mike Pompeo an einem Treffen der Regierungschefs von Israel, Griechenland und der Republik Zypern in Jerusalem teil. Laut offiziellem Kommuniqué haben sich die vier Staaten verpflichtet, „Frieden, Stabilität, Sicherheit und Wohlstand im östlichen Mittelmeer zu fördern“. Und zwar explizit zu dem Zweck, „die Unabhängigkeit in energiepolitischen Entscheidungen und die Sicherheit im östlichen Mittelmeer gegen schädlichen externen Einfluss zu verteidigen“.10

In der griechischen wie in der türkischen Presse wurde dies als Ansage an die Türkei interpretiert.11 Das bestätigte sich drei Wochen später, als in Washington der republikanische Senator Marco Rubio und sein demokratischer Kollege Bob Menendez einen parteiübergreifenden Gesetzentwurf einbrachten, der die USA im östlichen Mittelmeer auf eine antitürkische Haltung festlegen soll.12

Die beiden Senatoren fordern unter anderem die Aufhebung des Waf­fen­embargos der USA gegen die Republik Zypern, das 1987 erlassen worden war, um griechische und türkische Zyprer an den Verhandlungstisch zu zwingen. Sie schlagen die Integration der Republik Zypern in das Partnership-for-Peace-Programm der Nato vor und befürworten eine Vertiefung sowohl der energie- als auch der verteidigungspolitischen Zusammenarbeit zwischen Washington und Nikosia. Die Republik Zypern und Griechenland sollen – wenn auch in bescheidenem Rahmen – finanzielle Militärhilfe erhalten, und in Griechenland sollen weitere US-Waffensysteme stationiert werden. Zudem will der Gesetzentwurf die Regierung verpflichten, eine starke Präsenz der US-Marine im östlichen Mittelmeer aufrechtzuerhalten.

Ein letzter Punkt ist besonders brisant: Der Türkei soll das Spitzenprodukt der US-Rüstungsindustrie, der Tarnkappenjet F-35, vorenthalten werden, von dem Ankara bereits 124 Exemplare geordert hat. Damit verknüpfen die Senatoren ihren Vorstoß zur Unterstützung Israels, Griechenlands und Zyperns mit einer Angelegenheit, die nicht nur die Beziehungen zwischen Washington und Ankara in ihren Grundfesten erschüttern kann, sondern auch die Zukunft der Türkei in der Nato und ihr Verhältnis zum Westen generell infrage stellt.

Es geht um die Absicht der Türkei, das russische Raketenabwehrsystem S-400 zu erwerben, das als das ausgereifteste der Welt gilt. Die F-35 zeichnet sich wiederum dadurch aus, dass sie auf dem Radar nur schwer erfasst werden kann. Das Flugzeug gilt überhaupt als das absolute Spitzenprodukt digitaler Kriegsführung, weil es in der Lage ist, in Echtzeit den Einsatz von Kriegsschiffen, Landstreitkräften und anderem militärischen Fluggerät zu steuern.13

Ankara hat bei den Russen zwei Batterien der S-400 bestellt, die bereits im Juni dieses Jahres ausgeliefert werden sollen. Parallel dazu will man die F-35 erwerben, bei denen die Türkei sogar Koproduzent ist: Angeblich haben zwölf türkische Firmen bisher schon 1,25 Milliarden Dollar in das Projekt investiert.

In Washington ist man über den bevorstehenden Erwerb der S-400 durch die Türkei höchst beunruhigt. Vor allem im Pentagon stellt man sich viele Fragen: Wie steht es um die Verlässlichkeit des Nato-Partners, wenn sich die Türkei rüstungstechnisch in die Abhängigkeit eines Gegenspielers des Bündnisses begibt? Welche Auswirkungen hat die langfristige Stationierung russischer Berater auf türkischem Boden für die Haltung des türkischen Militärs gegenüber der Nato? Und gegen wen will sich die Türkei mit russischen Abwehrraketen verteidigen? Schließlich ist es unwahrscheinlich, dass Moskau Waffen liefert, um sie gegen russische Jets und Raketen einzusetzen.

Die größte Befürchtung ist jedoch, dass Moskau womöglich die streng geheime Computersoftware des Tarnkappenjets dechiffriert. Damit würde das „beste Kampfflugzeit der Welt“ die wichtigsten seiner Fähigkeiten einbüßen. Das Weiße Haus und das Pentagon, aber auch das US-Außenministerium haben seit Monaten harsche Reaktionen angekündigt, falls Ankara die S-400 tatsächlich installieren sollte.

Im November 2018 ließ das Pentagon wissen, dass die Türkei in diesem Falle nicht nur riskiert, keine F-35 zu bekommen, sondern auch als Zulieferer aus dem ganzen Programm auszuscheiden. Außerdem drohen Strafen nach dem „Gesetz zur Abwehr von Gegnern der USA mit Hilfe von Sanktio­nen“ (Caatsa), das den Präsidenten verpflichtet, Abnehmer und Partner der russischen Rüstungsindustrie und des russischen Geheimdienstes mit Sank­tio­nen zu belegen.14

Darüber hinaus drohen die USA mit einem Lieferstopp für weitere Waffensysteme, der die Einsatzfähigkeit des türkischen Militärs deutlich beeinträchtigen würde. Genannt werden das Raketenabwehrsystem Patriot, der Transporthubschrauber CH-47F Chinook, der Helikopter Black Hawk und die F-16-Falcon-Jets. Anfang April kam es bereits zu einem ersten Lieferstopp von Gerätschaften und Technik, die für die Stationierung der F-35 erforderlich sind.

Wenn die Türkei aus dem Programm für den Jet herausfallen würde, könnte dies die Machtbalance in der Ägäis zuungunsten Ankaras verändern. Das Pentagon nennt als möglichen Abnehmer der F-35 unter anderem Griechenland, das seit Langem an dem Flugzeug interessiert ist, es sich aber bisher nicht leisten konnte.15 Schon drängt der einflussreiche israelische Thinktank Besa die USA dazu, den Griechen günstigere Konditionen einzuräumen.

Bisher hält Ankara trotz aller Drohungen am Deal mit Russland fest. Im März 2019 ging Erdoğan sogar noch einen Schritt weiter, als er erklärte, die Türkei könne in Zukunft mit Russland gemeinsam Waffen produzieren und sich am Nachfolgeprojekt für das S-400, das geplante S-500, beteiligen.16

Was macht das russische System für die Türkei so unverzichtbar? General­stabs­chef Hulusi Akar nennt als mögliche Stationierungsorte des S-400 nicht die Ägäis und auch nicht die syrische oder die iranische Grenzregion, sondern vor allem Ankara, aber auch Istanbul.17 Das bestätigt offenbar jene Experten, die davon ausgehen, dass der Kauf des russischen Systems einem tiefsitzenden Misstrauen der türkischen Regierung gegenüber dem Westen entspringt.20

Erdoğan und die türkische Regierung waren nach dem Putschversuch von Teilen ihres Militärs am 15. Juli 2016 sofort überzeugt, dass die Putschisten von Kräften in den USA gesteuert worden seien. Noch heute ist das türkisch-US-amerikanische Verhältnis auch deshalb schwer belastet, weil Washington sich weigert, den Prediger Fethullah Gülen auszuliefern, den Ankara zum Drahtzieher des Putschversuchs erklärt hat.19

Unübersehbar ist jedenfalls, dass sich in Ankara der Ton gegenüber Washington und dem Westen insgesamt in den letzten Jahren stark radikalisiert hat. Auch in der Kampagne der Regierungspartei AKP für die Kommunalwahlen am 31. März 2019 wurden Europa und die USA als Bedrohung für das Land bezeichnet. Dabei dominiert insbesondere ein Thema: die Kooperation der USA mit der syrischen Kurdenpartei PYD und deren mit der PKK verbandelten Milizen.

Die Interventionen der Türkei in Syrien, etwa in der mehrheitlich kurdisch-besiedelten Region Afrin vom März 2018, sind Teil eines neuen türkischen Konzepts der Vorneverteidigung, das für die Gewährung der eigenen Sicherheit notwendig sei. Jetzt kommt diese Strategie auch im östlichen Mittelmeer zur Anwendung. Und auch hier gilt für Ankara, wie im Falle Syrien, dass nur ein schlagkräftiges Militär die nationalen Interessen sichern kann.

Der regierungsnahe Thinktank Tasam verweist auf die „vitalen geopolitischen Interessen“ der Türkei nicht nur in der Ägäis und bei den Dardanellen, sondern auch auf Zypern: Die türkischen Experten für die nationale Marinepolitik seien sich einig, „ dass die Sicherheit der anatolischen Halbinsel infrage steht, wenn der Norden Zyperns nicht in türkischer Hand bleibt“.20

Cem Gürdeniz, ehemals Direktor im Hauptquartier der türkischen Marine, sieht für sein Land im 21. Jahrhundert drei geopolitische Herausforderungen, denen die Türkei nur begegnen könne, wenn sie zur Seemacht werde: erstens „die Energievorkommen auf dem Meeresgrund“ des östlichen Mittelmeers; zweitens „die Zukunft des sogenannten Kurdistans“, das einen Hafen am Mittelmeer anstrebe; drittens „die Zukunft von Nordzypern“.21 Nach Ansicht von türkischen Strategen steht „der Westen“ in allen diesen Fragen gegen die Interessen der Nation. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung: Die Türkei muss sich nach Russland und China orientieren.22

Beim Streit um das Gas im östlichen Mittelmeer geht es um Vorkommen, die im Weltmaßstab eher bescheiden sind (siehe dazu den nebenstehenden Beitrag von Niels Kadritzke). Aber dieser Streit kann zum endgültigen Bruch in den Beziehungen der Türkei mit dem Westen führen.

Niemals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs lagen sich Washington und Ankara wegen so vieler Streitpunkte in den Haaren. Noch nie war die Türkei im Mittelmeer so isoliert. Auch die Beziehungen Ankaras zur EU waren schon lange nicht mehr so festgefahren wie heute. Und in wenigen Fragen sind die verschiedenen politischen Lager in der Türkei so sehr geeint wie in der skeptischen Sicht auf den Westen.

1 Die Abkürzung TCG steht für „Schiff der türkischen Republik“, siehe, Can Kasapoglu, „The Blue Homeland: Turkey’s largest naval drill, AA Analysis, 27. Februar 2019.

2 Siehe Diken, 13. Februar 2019.

3 Siehe die Berichte von Metin Gürcan auf Al-Monitor vom 12. September 2018 und 24. Januar 2019.

4 Siehe dazu Niels Kadritzke, „Kriegsgeheul in der ­Ägäis“, LMd, April 2017.

5 Salim Kahraman, „Turkey is determined, but alone in the Mediterranean to hunt for oil and gas“, Ahval News, 1. November 2018.

6 Joe Macaron, „The Eastern Mediterranean Gas Forum Reinforces Current Regional Dynamics“, Arab Center, Washington, D. C., 25. Januar 2019.

7 Mohammed Saied, „Is new energy league an alliance against Ankara?“ Al-Monitor, 24. Januar 2019.

8 Zum Hintergrund siehe Thomas Keenan und Eyal Weizman, „Die dritte Bedrohung Israels“, LMd, Juli 2010.

9 Siehe The Jerusalem Post, 28. März 2019.

10 Siehe Kathimerini (engl. Ausgabe), 21. März 2019.

11 Siehe etwa Ta Nea (Athen), 20. März 2019, und die Internetzeitung T24 (Istanbul), 22. März 2019.

12 Siehe die Presserklärungen auf den Websites beider Senatoren.

13 Siehe die Analyse von Can Kasapoglu und Sinan Ülgen, „Is Turkey sleepwalking out of the Alliance?” EDAM, August 2018.

14 Siehe die Executive Summary des Pentagon vom 26. November 2018.

15 Zum griechischen Interesse an der F-35: Niels Kadritzke, „Tsipras in Trumps Rosengarten“, LMd, Blog Griechenland vom 22. November 2017.

16 Siehe Daily Sabah, 8. März 2019.

17 Bericht in: Duvar, 16. April 2019.

18 Michael Young, „How will Turkey’s purchase of Russia’s S-400 air defense system affect ties with Nato?“ Diwan (Middle East Insights From Carnegie), 21. März 2019.

19 Siehe Günter Seufert, „Anatomie eines Putsches“, LMd, August 2016.

20 Dies und das Folgende nach Tasam, Marine and Mari­time Security Forum 2019 (Girne), 23. Januar 2019.

21 Cem Gürdeniz, „Blue Homeland shows Turkey has become a maritime power“, Hürriyet Daily News, 4. März 2019.

22 Cem Gürdeniz, „Dogu Akdeniz’de çatisma rotasina giriyoruz”, Gündogdu 1/7, 15. November 2018.

Günter Seufert ist Forscher bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.05.2019, von Günter Seufert