11.05.2017

Planlos in Brüssel

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Planlos in Brüssel

von Günter Seufert

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Glaubt man dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu, ist zwischen seinem Land und der Europäischen Union wieder alles im Lot. „Es herrschte eine eher positive Atmosphäre, und es wurde nicht negativ über die Türkei gesprochen“,be­richtete Çavuşoğlu strahlend, als er nach seinem Treffen mit den EU-Außenministern am 28. April auf Malta von einer türkischen Reporterin interviewt wurde. Seine Amtskollegen hätten endlich ihre Fehler eingesehen und gefragt, was sie für bessere Beziehungen mit Ankara tun können, erklärte er stolz: „Wir haben ihnen klipp und klar gesagt, was sie falsch gemacht ­haben.“1

Tatsächlich hätte es in Malta für die Türkei nicht besser laufen können. Die Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik erklärte, die Union erkenne das Ergebnis des türkischen Verfassungsreferendums vom 16. April an. Und auch die Verhandlungen über den EU-Beitritt des Landes würden weitergehen, versicherte Frederica Mogherini, worauf in Ankara das große Aufatmen einsetzte.

Vor Malta hatten sich nur wenige Politiker dazu durchgerungen, Präsident Erdoğan zu seinem Sieg in der Volksabstimmung zu gratulieren, mit der das Parlament weitgehend entmachtet, die Justiz unter den Einfluss der Regierung gebracht und so die Gewaltenteilung praktisch aufgehoben wird.

Zu den ersten Gratulanten zählte Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew, der Ende Februar – ebenfalls nach einer Verfassungsänderung – seine Frau zu seiner Stellvertreterin ernannt hat. Es folgten Wladimir Putin und Donald Trump, die beide in der Syrienkrise auf die Kooperation mit Erdoğan angewiesen sind.

Von den Staatenlenkern der islamischen Welt kamen Glückwünsche nur aus Katar und aus Bahrain, wo man die Türkei als Sicherheitspartner gegen den Einfluss Teherans betrachtet. Umso größer war die Begeisterung bei den treuesten Erdoğan-Anhängern in der arabischen Welt: bei der palästinensischen Hamas, bei der islamistischen Ennahda-Bewegung in Tu­ne­sien, bei Ägyptens Muslimbruderschaft und bei mehreren salafistisch-­dschihadistischen Rebellengruppen in Syrien.2

Dagegen reagierte man in Europa anfangs mit Zurückhaltung und Skepsis. Die Venedig-Kommission des Europarats hatte der Türkei schon im Januar 2017 bescheinigt, die jüngste Verfassungsänderung bedeute „einen Rückschritt für die demokratische Verfassungstradition“ des Landes und werde „einer autoritären personalen Herrschaft“ Tür und Tor öffnen. Zudem wurde kritisiert, dass die Volksabstimmung unter Ausnahmezustandsrecht stattfinden soll, wie es dann auch geschah.3 Ebenfalls im Januar hatte das Europäische Parlament den Europäi­schen Rat zur Aussetzung der Beitrittsverhandlungen aufgefordert, als Reaktion auf den massiven Rückbau des Rechtsstaats, mit dem Erdoğan auf den versuchten Militärputsch vom Sommer 2015 reagiert hatte.

Noch am 25. April, drei Tage vor den versöhnlichen Tönen von Malta, hatte die Parlamentarische Versammlung des Europarats erneut ein Monitoring der türkischen Entwicklung beschlossen. Diese Überprüfung soll so lange andauern, bis die „ernsten Bedenken“ über die Einhaltung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit „auf zufriedenstellende Weise ausgeräumt werden“.4

Direkter Anlass für diesen Beschluss war die Weigerung der türkischen Regierung, die gerichtliche Überprüfung der Verordnungen zuzulassen, die zur Entlassung von hunderttausenden Beamten, darunter nahezu 8000 Akademikern, geführt hatten. Aber es gibt viele weitere Gründe: Seit neun Monaten regiert Erdoğan mit Notstandsverordnungen. Mehr als 200 Fernseh- und Radiosender sowie Zeitungen und Periodika wurden verboten. Zurzeit sind etwa 150 Journalisten in Haft. Die Selbstverwaltung in den kurdisch besiedelten Gebieten ist praktisch aufgehoben, führende kurdische Parlamentarier sitzen im Gefängnis. Untersuchungshaft wird oft willkürlich angeordnet und ist längst zum Straf- und Einschüchterungsmittel für jegliche Opposition geworden.

Türkische Lippenbekenntnisse

Zudem gibt es dokumentierte Fälle von Folter und menschenunwürdiger Behandlung. All dies zeigt, dass die Türkei die politischen Kriterien von Kopenhagen, die als Beurteilungsgrundlage für die Aufnahme und Fortsetzung von Beitrittsverhandlungen dienen, heute auf keinen Fall mehr erfüllt.

Womöglich hegen die EU-Außenminister die Hoffnung, Erdoğan werde, nachdem er mit dem Referendum seine Macht festigen konnte, schrittweise zur Demokratie und zur Kooperation mit dem Westen zurückkehren. Doch für einen solchen Optimismus gibt es keinerlei Anlass, es sei denn, man lässt sich von wohlfeilen Lippenbekenntnissen türkischer Politiker täuschen, die den EU-Beitritt nach wie vor als „strategischen Ziel“5 ausgeben.

Die Fakten sprechen eine klare Sprache: Der Staatspräsident wischte alle Belege für massive Wahlfälschungen beim Referendum vom Tisch. Sein Justizminister erklärte, eine gerichtliche Überprüfung des Wahlergebnisses werde nicht zugelassen. Außenminister Ça­vuş­oğlu drohte noch vor Malta, man werde dem Europarat als Strafe für dessen Entscheidung zunächst die Beiträge kürzen und später weitere Sank­tio­nen verhängen. Außerdem kündigte Ankara eine verstärkte Zusammenarbeit mit Russland an und sandte ein Signal nach Washington, indem man gegen den Willen der USA Stellungen kurdischer Kämpfer im Irak und in Syrien bombardierte.

Das einzige plausible Motiv für die nachgiebige Haltung der Europäer ist die Sorge, die Türkei könnte die Zusammenarbeit beim Antiterrorkampf und bei der Flüchtlingspolitik aufkündigen.6 Aber so erwecken sie den Eindruck, dass sie nicht nur ihre Werte vergessen, sondern auch, dass die Türkei in Europa viel zu verlieren und viel zu gewinnen hat – wenn auch nicht die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, an der die heutige Regierung ohnehin kein Interesse hat.

Für Erdoğans Regierung sind die Beitrittsverhandlungen heute nur noch ein Hebel für die Durchsetzung eigener Interessen. Der Abbruch der Verhandlungen würde den Zufluss von Kapital aus Europa in die Türkei entscheidend verringern. Aus der EU kommen 80 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen, 70 Prozent der Käufer türkischer Staatsanleihen und 56 Prozent der langfristigen Privatkredite.7 47 Prozent der türkischen Exporte gehen in den gemeinsamen Markt8. Damit das so bleibt, muss die Zollunion mit der EU erhalten bleiben.

Und nicht nur das: Um der stagnierenden Wirtschaft zu weiterem Wachstum zu verhelfen, setzt Ankara auf die Ausweitung dieser Zollunion auf die Bereiche Landwirtschaft und Dienstleistungen. Zudem will man im Rahmen der Beitrittsverhandlungen darauf drängen, dass türkische Bürger für Reisen in die Schengenstaaten Visumfreiheit erlangen.

An diesen Stellschrauben könnte die Europäische Union drehen. Sie müsste also Ankara entgegenkommen und dafür sowohl Kooperation verlangen als auch rote Linien ziehen, insbesondere in Sachen Todesstrafe und Folterverbot. Doch in diesen Bereichen eine gemeinsame Türkeipolitik zu entwickeln, ist schwer und mühsam. Leicht ist es dagegen, Verhandlungen fortzusetzen, von denen ohnehin niemand mehr etwas erwartet. Eine zielgerichtete europäische Politik sieht anders aus.⇥Günter Seufert

1 Website Diken, 28. April 2017.

2 Al Monitor, 19. April 2017.

3 Council of Europe, On the Amendments to the Constitution Adopted By The Grand National Assembly, January 2017.

4 Hyperlink:= Siehe Veröffentlichung im Newsroom des Council of Europe, 25. April 2017.

5 So Erdogans Sprecher Ibrahim Kalın am 29. April nach Cumhuriyet Online.

6 So explizit der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault: siehe den Bericht bei DW News, 28. April 2017. ­

7 Al-Monitor, 27. Januar 2017.

8 Cumhuriyet, 14. März 2017.

Günter Seufert ist Forscher bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.05.2017, von Günter Seufert