10.11.2016

Der Dritte Kolonialismus

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Der Dritte Kolonialismus

von Wladislaw Inosemzew​ und Alexander Lebedew

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Die europäischen Staaten haben über Jahrhunderte ein globales System aufgebaut, das auch als „verwestlichte“ Welt beschrieben wird. Hinter dieser „Revolution der Verwestlichung“1 stand die militärisch-technische Überlegenheit der Europäer, die ihnen den Zugang zu den entferntesten Weltre­gio­nen sicherte und die Eroberung aller Territorien ermöglichte, die sie brauchen konnten.

Der auf hard power gestützte direkte Kolonialismus stieß jedoch an ökonomische Grenzen. Er konnte sich halten, solange es dafür „geopolitische“ Gründe gab und der Besitz der überseeischen Territorien den Eroberern wirtschaftliche Vorteile einbrachte, die größer waren als die militärischen und personellen Kosten für die Sicherung der Gebiete.

In den 1950er Jahren wurde zunehmend klar, dass die „Kolonialwaren“, die nur wenige Prozent der Verbrauchsgüter der normalen Engländer oder Franzosen ausmachten, weder die Menschenleben noch die gewaltigen Militärausgaben wert waren, die für die fortgesetzte Kontrolle über Afrika oder Indochina angefallen wären. So kam es zur mehr oder weniger friedlichen weltweiten Entkolonialisierung – mit dem Ergebnis, dass es Mitte der 1970er Jahre mehr als doppelt so viele unabhängige Staaten gab als vor 1914. Der Erste Kolonialismus war von der Erde verschwunden.

Doch die westlichen Länder blieben abhängig von Gütern aus ihrer Peripherie. Obwohl es ihnen gelang, einige davon zu ersetzen – etwa Kautschuk durch synthetisches Gummi –, brauchten sie von dort Produkte wie Erdöl, Erze, Kaffee oder Kakao. Deshalb begann die westliche Welt nach ihrem „organisierten Rückzug“, der bis in die frühen 1980er Jahre andauerte, mit dem Aufbau eines neuen Systems, für das sich der Begriff Neokolonialismus eingebürgert hat.

Dieser von Kwame Nkrumah, dem ersten Präsidenten Ghanas, geprägte Begriff2 hebt auf zwei wesentliche Merkmale ab: Das eine ist die wirtschaftliche Durchdringung der Dritten Welt durch transnationale Unternehmen, was den neu entstandenen Staaten zwar die dringend benötigten Investitionen und technologischen In­no­va­tio­nen brachte, aber den Aufbau eigener komplexer Strukturen erschwerte. Das zweite ist die finanzielle Geiselnahme vieler Länder durch internationale Banken, die ihnen in den 1970er Jahren – in Zeiten hoher Rohstoffpreise und niedriger Zinsen – viel Geld liehen, das sie in den 1980ern, als sich die Marktbedingungen plötzlich geändert hatten, zurückhaben wollten.

Diese finanzielle Herrschaft des Nordens über den Süden kann man als Zweite Kolonisierung bezeichnen. Sie war zwar weniger blutig als die erste, aber gewiss nicht weniger brutal. Bei beiden Arten des Kolonialismus ging es um Reichtümer und Geld, und es ist schwer zu sagen, welcher von beiden für den Westen einträglicher war.

Im 19. Jahrhundert machte der Handel zwischen den Großmächten und ihren Kolonien etwa 40 Prozent des gesamteuropäischen Handelsvolumens aus – ein erzwungener Austausch, der in den peripheren Territorien viele Probleme verursacht hat. Die ehemaligen Kolonien beziffern den Schaden, der ihnen durch die Kolonisierung der Europäer entstanden sein soll, auf 777 Billionen Dollar.3

Armutsländer in der Schuldenfalle

Aber auch der Zweite Kolonialismus hat sich gelohnt: Obwohl ein Teil der Kredite, die sich bei den ärmsten Ländern, den sogenannten LDCs (least ­developed countries) angesammelt hatten, mehrere Male abgeschrieben wurde, lag die Gesamtsumme, die die Dritte Welt der Ersten Welt schuldete, im Jahr 2000 noch immer bei 1960 Mil­liarden Dollar. Die an den Norden zurückfließenden Zinsen werden auf netto 220 Milliarden Dollar jährlich geschätzt.4

In diesem Fall sahen die Menschen in den Armutsländern selbst – anders als beim Eroberungskolonialismus – die Schuld weniger bei den westlichen Mächten als vielmehr bei ihrer eigenen Obrigkeit.5 Das mag zwar berechtigt sein, und doch war auch der neue, kreditgetriebene Kolonialismus ohne jeden Zweifel von den Machtzentren der Ersten Welt gesteuert.

Dieser Zweite Kolonialismus war das große Thema der 1980er Jahre. Es verlor seinen Reiz, als sich das Wachstum in den Ländern des globalen Südens beschleunigte und viele Millionen Menschen die extreme Armut hinter sich ließen – was vor allem mit dem kometenhaften Aufstieg der Wirtschaftsmacht China zu tun hat. Aber seither ist ein neues Phänomen entstanden: der sogenannte Dritte Kolonialismus.

Dessen zerstörerische Wirkung beruht auf raffinierteren Mechanismen als die seiner beiden Vorläufer. Der Erste Kolonialismus wurde mit militärischer Macht, der Zweite mit finanzieller Macht durchgesetzt. Der Dritte Kolonialismus setzt auf die Macht der Verführung. Den allermeisten Ländern der Dritten Welt gelingt es nicht einmal annähernd, einen Lebensstandard zu erreichen, der dem der Ersten Welt entsprechen würde, doch ihre Eliten sind versessen auf einen luxuriösen westlichen Lebensstil.

Da die politischen Verhältnisse in den meisten dieser Länder undemokratisch oder nur teilweise demokratisch sind, leben diese Eliten in der Furcht, ihre angehäuften Reichtümer mit einem Regierungswechsel zu verlieren. Unter den obersten Machthabern, die zumeist durch Korruption zu ihrem Vermögen gekommen sind, würden nur wenige es wagen, ihr Geld im eigenen Land zu parken. Deshalb kaufen immer mehr Reiche dieser Länder teure Immobilien in Europa oder in den USA, sie gründen Offshore­unternehmen, ­eröffnen geheime Auslandskonten und vieles mehr.

Damit wird Korruption, nachdem sie über Jahrhunderte eine nationale Erscheinung war, zu einem globalen Phänomen, das mit den in den meisten Entwicklungsländern alltäglichen Bestechungspraktiken nicht mehr viel gemein hat. Wir sollten deshalb den Begriff Bestechung für die Korrup­tion an der Basis reservieren, bei der es auch um riesige Summen gehen kann, die aber innerhalb eines Landes angehäuft und ausgegeben werden. Dagegen setzt die internationale Korruption eine enge Verbindung der Eliten bestimmter Länder mit den interna­tio­nalen Finanzzentren voraus.

Der Dritte Kolonialismus ist auf eine Infrastruktur angewiesen, zu der ein Heer von Anwälten und Beratern an Finanzplätzen wie London, Zürich oder Luxemburg gehört; des Weiteren Privatbanken und Consultingfirmen, die gestohlene Gelder verwalten, sowie staatliche Behörden, die korrupten Politikern und Bürokraten einen sicheren Aufenthaltsstatus verschaffen.

Die Internationale der korrupten Eliten

Dieses neue Empire hat beeindruckende Dimensionen angenommen. Der Nettozufluss von Geldern aus der Dritten in die Erste Welt liegt heute – vorsichtig geschätzt – bei rund 1000 Mil­liarden Dollar pro Jahr; um die Jahrtausendwende waren es 200 Milliarden.6 Korrupte Politiker schleusen Geldströme in die globalen Finanzzentren, die das Vierfache der Summen ausmachen, die ihre Länder in Form von Zinsen an die internatio­na­len Banken zahlen. Gegen diese Praktiken protestiert keine der großen internationalen Organisationen, die für mehr Transparenz auf den Finanzmärkten kämpfen und doch immer nur kleine Schritte wagen.

Die globalen Korruptionsnetze sind die schädlichste Folge der Globalisierung. Diesen Schaden können und müssen die entwickelten Industrieländer selbst beheben. Der Schlüssel für den Kampf gegen die globale Korrup­tion liegt nicht in korrupten Ländern wie China, Ukraine, Brasilien oder Kongo. Er liegt in Europa und in Großbritannien, dort, wo schon die beiden ersten Formen des Kolonialismus ihren Ausgang nahmen.

Die heutige Erste Welt hat ganz bewusst eine neue Finanzarchitektur geschaffen, die es den Herrschern von armen und, noch entscheidender, schlecht regierten Staaten ermöglicht, sich zu Hause zu bereichern, aber im Ausland zu investieren, also sowohl von der im globalen Süden herrschenden Unordnung als auch von der im globalen Norden aufgebauten Ordnung zu profitieren. Unter diesen Umständen lässt sich die Korruption nicht erfolgreich von unten bekämpfen, wenn ihr nicht zugleich von oben entgegengetreten wird.

Dieses System zementiert die Überlegenheit des Westens über den Rest der Welt mit Methoden, die besser wirken als alle früheren. Allerdings ist diese neue Art des Kolonialismus für Europa viel gefährlicher als alle anderen Formen der Kontrolle überseeischer Besitzungen, denn in dem Maße, in dem die Verschleierung der Korruption zum täglichen Geschäft von zigtausend Europäern geworden ist, sind auch die europäischen Staaten und ihre Regierungen und Bürokratien korrumpiert.

Allein deshalb müssen wir als Europäer diesen neuen Typus des Kolonialismus bekämpfen. Aber es gibt noch zwei weitere, ebenso wichtige Gründe: Zum einen wird der Zustand der Rechtlosigkeit im globalen Süden viel wirksamer zementiert, als es unter den europäischen Statthaltern der Fall war, weil korrupte Praktiken nicht angetastet und lokale Antikorruptionsinitiativen eingeschüchtert werden. Zum anderen hat der Dritte Kolonialismus ein internationales Netz korrupter Politiker geschaffen – und damit etwas, was zuvor undenkbar gewesen wäre: ein enges Bündnis zwischen den Kolonialherren der Ersten und der Dritten Welt. Es gibt also genug Gründe, dass sich alle Menschen guten Willens, im Norden wie im Süden, diesem neuen Kolonialismus widersetzen.

1 Siehe Theodore H. von Laue, „The World Revolution of Westernization. The Twentieth Century in Global Perspective“, Oxford, New York (Oxford University Press) 1987.

2 Kwame Nkrumah, „Neo-colonialism, the Last Stage of Imperialism“, London (Panaf Books) 1969.

3 African World Reparations and Repatriation Truth Commission, Bericht von 1999.

4 Pierre Gottiniaux u. a., „World Debt Figures 2015“, S. 35.

5 Bericht der Commission for Africa „Our Common Interest: An Argument“, London (Penguin Books) 2005.

6 Siehe Laurence Cockcroft, „Global Corruption. Money, Power, and Ethics in the Modern World“, Philadelphia (University of Pennsylvania Press) 2012, S. 137.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Wladislaw Inosemzew ist Austrian Marshall Plan Foundation Fellow der John Hopkins University, Washington (DC); Alexander Lebedew ist Herausgeber der Moskauer Nowaja Gaseta und des Londoner The Independent.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.11.2016, von Wladislaw Inosemzew​ und Alexander Lebedew