12.05.2016

Vom Kosovo in den Dschihad

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Vom Kosovo in den Dschihad

Zwei Imame predigen gegen die Radikalisierung junger Muslime

von Franziska Tschinderle

In der Moschee MARTIN VALENTIN FUCHS
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Angeblich verlässt Zuhdi Haj­zeri seit jener Nacht im August 2014 seine Moschee nur noch mit einer Pistole. Ein Freitag muss es gewesen sein, denn das ist der Tag, an dem der Imam die Chutba1 hält. Zuhdi – 35 Jahre, eins neunzig groß, schlaksig und glattrasiert – stand damals in seinem langen Gebetsgewand auf der Kanzel und sprach zu seiner Gemeinde. Zugegeben, sarkastischer als sonst: „Ihr wollt euch gegenseitig die Köpfe einschlagen? Dann müsst ihr kein Ticket nach Syrien kaufen. Geht rauf in die albanischen Berge, da könnt ihr das in Ruhe tun.“

Aus dem Kosovo sind einige selbst ernannte Gotteskämpfer in den Heiligen Krieg gezogen. Lavdrim Muhaxheri2 zum Beispiel, der eine albanische Einheit in Syrien angeführt und auf Facebook mit Enthauptungen und Geiselnahmen geprahlt hat. Oder der 19-jährige Blerim Heta, der bei einem Selbstmordattentat 52 Iraker mit in den Tod riss. Immer öfter geht es in Hajzeris Chutbas darum, dass die Gemeinde solche Männer von ihrem Weg abbringen muss. Um 22.30 Uhr war er an besagtem Freitag fertig. Wie jeden Abend schwang er sich auf sein Fahrrad und fuhr nach Hause. Nur diesmal war etwas anders. Die Scheinwerfer eines Pkws blendeten ihn. Der Fahrer gab Gas und raste direkt auf ihn zu. Alles ging sehr schnell.

Zuhdi Hajzeri hat überlebt. Und er kennt seine Feinde, „die Wahhabi“, wie die Leute hinter vorgehaltener Hand sagen. Anderthalb Jahre nachdem er beinahe überfahren worden wäre, sitzt Zuhdi nun auf der Terrasse des Hotels Dukagjini und blinzelt in die Sonne. Er bestellt sich einen Cappuccino und lehnt höflich die angebotene Zigarette ab. Auch gemäßigte Imame rauchen nicht. Dann senkt er die Stimme: „Die Wahhabiten3 legen den Koran wortwörtlich aus und wollen strikt nach den Aussagen des Propheten leben.“ Auf dem Balkan gelten ihre Anhänger als Bindeglied zwischen dem IS und potenziellen Rekruten, weil sie die dschihadistische Propaganda ins Albanische übersetzen. In einem Video ruft der IS dazu auf, im Fastenmonat Ramadan „möglichst viele Ungläubige auf dem Balkan zu töten“.

Hajzeri hat in Kairo Theologie studiert, mit dem Schwerpunkt Koraninterpretation. Er versteht nicht, dass jemand im Namen seines Gottes mordet. Dafür, dass er eigentlich nicht mit Journalisten sprechen soll, hat er sich einen ziemlich prominenten Ort für unser Treffen ausgesucht, eines der bekanntesten Panoramaplätzchen Pejas. Neben dem Hotel plätschert der Weiße Drin, der 25 Kilometer weiter nördlich in den schneebedeckten Bergkuppen entspringt. Sie thronen über der Stadt wie weiße Riesen. Peja liegt im Westen des Kosovo, an der Grenze zu Montenegro und Albanien. Es ist mit etwa 100 000 Einwohnern die drittgrößte Stadt im jüngsten Staat Europas. Nirgendwo sonst im Kosovo, sagen die Stadtbewohner stolz, sei die Luft frischer, das Wasser klarer als hier.

In diesem Idyll lebt Zuhdi Haj­ze­ri gefährlich, seit er sich 2013 erstmals öffentlich zu den kosovarischen Gotteskämpfern äußerte. „Damals“, erzählt er, „haben die Leute gesagt, dass ihre Kinder nicht gehen werden.“ Drei Jahre später sind dem kosovarischen Amt für Terrorismusbekämpfung zufolge mehr als 300 Landsleute aufgebrochen.4 „Mit dieser Dichte liegt Kosovo im europäischen Spitzenfeld“, sagt der Islamwissenschaftler Thomas Schmidinger. Gemessen an der Einwohnerzahl von 1,8 Millionen gibt es tatsächlich kein Land in Europa, das mehr Dschihadisten „exportiert“.

Der Balkanexperte Konrad Clewing vom Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg warnt vor einer Fehlinterpretation der Zahlen. Man müsse als Maßstab nicht die Gesamtbevölkerung, sondern den Anteil der Muslime im Land heranziehen, der mit 90 Prozent weit höher liegt als in anderen Staaten Europas. Nur in der Türkei leben prozentual mehr Muslime als im Kosovo. Und doch fallen die absoluten Zahlen bei einem so kleinen Land ins Gewicht. Bei 300 Ausgereisten heißt das, dass aus jeder der knapp 30 politischen Gemeinden zehn Leute in den Dschihad gezogen sind.

Um zu verstehen, warum der Imam von Peja regelmäßig Drohanrufe bekommt, muss man sich die größte religiöse Institution im Kosovo genauer ansehen: die Islamische Glaubensgemeinschaft. Dort hat im Lauf der letzten zehn Jahre ein Machtwechsel stattgefunden. Thomas Schmidinger bezeichnet die Entwicklung als „eine Art Putsch“, bei dem konservative Geistliche das Ruder übernommen haben. An der Spitze steht seit 2003 Großmufti Naim Tërnava. Kritiker bezeichnen ihn als „Diktator“, nachdem er die Statuten geändert hat und nun nicht mehr abgesetzt werden kann. Liberale Geistliche klagen über undemokratische Wahlen und werfen Tërnava vor, Hassprediger und radikale Wahhabiten in den eigenen Reihen zu dulden.

Das Kosovo, ein wirtschaftlich und institutionell schwacher, zudem korrupter Staat, genießt bei seinen Bürgern wenig Vertrauen. Seit der Unabhängigkeit von 2008 konnte sich keine nationale Identität entwickeln. Ein junger Mann in einem Café beschreibt das so: „Von einem Tag auf den anderen sollten wir eine neue Flagge lieben. Daran hat sich niemand gewöhnt.“

Balkanexperte Clewing erklärt die Zuwendung zum radikalen Islam mit dieser politischen und ideologischen Orientierungslosigkeit im Land. Dazu kommt, dass der Kosovo das einzige Land auf dem Balkan ist, das keine Visa-Erleichterungen für die EU genießt. Für junge Kosovaren ist es viel schwieriger, ein Visum für ein Auslandssemester in Berlin oder Paris zu bekommen, als eine Reise in den Dschihad anzutreten.

Clewing beobachtet eine weitere Besonderheit: Während des Kriegs kämpften Islamisten an der Seite der Separatisten in der UÇK.5 Sie sind in der Regel kampferprobt und arbeitslos. Laut einer aktuellen Studie des Kosovar Center for Security Studies (KCSS) sind 36 Prozent der kosovarischen „foreign fighters“ älter als 28 Jahre6 und wissen auffallend wenig über den Islam.

Obwohl der Islam die größte Reli­gions­gemeinschaft ist, spielt er im gesellschaftlichen Leben eine untergeordnete Rolle. Wer durch die Fußgängerzone von Prishtina spaziert, sieht selten eine Frau mit Kopftuch, von einer Burka ganz zu schweigen. In den Bars und Cafés trifft man häufig junge Muslime, die rauchen und Bier und Raki trinken. In die Moschee gehen sie ihren Eltern zuliebe ein paar Mal im Jahr.

Islamistische Zellen, die als NGOs auftreten

Im sozialistischen Jugoslawien war die Islamische Gemeinschaft weitgehend isoliert. Bis 1993 stand sie unter staatlicher Aufsicht. Sie wurde zentralistisch organisiert und ihr Vorsitz nach Sarajevo verlegt, von wo aus auch die Gelder verteilt wurden. Kontakt und Austausch mit Geistlichen im Ausland war verboten. Nach Titos Tod 1980 und mit Zunahme der Spannungen zwischen den Teilstaaten wuchs das Interesse an Religion. Die spätere Vertreibung und Unterdrückung der albanischen Muslime durch das serbische Regime hat deren religiöses Bewusstsein überhaupt erst geweckt.

Nach dem Kriegsende 1999 waren die islamischen Gemeinden – wie auch das ganze Land – auf ausländische Hilfe angewiesen, 215 Moscheen und Gebetshäuser waren zerstört. Es kamen nicht nur KFOR-Soldaten, Diplomaten und UNO-Mitarbeiter in den Kosovo, sondern auch zahlreiche als humanitäre NGOs auftretende islamistische Zellen aus Saudi-Arabien, die in den Folgejahren ungestört missionieren konnten. Sie sorgten für den Bau von Moscheen, verlangten von den Frauen, sich zu verschleiern, und von den Männern, lange Bärte zu tragen. Einige dieser NGOs sollen mit Sponsoren in Verbindung gestanden haben, die zeitweise auch al-Qaida unterstützten. So hat etwa die salafistische Stiftung al-Waqf al-Islami mit Sitz in den Niederlanden7 unter ihrem Direktor Abdur Rrezaq, einem irakischen Arzt, im Auftrag der Islamischen Gemeinschaft über 20 Moscheen im Kosovo errichtet.

2014 wurde das Büro von al-Waqf al-Islam ebenso wie die neun weiterer NGOs wegen Terrorismusverdachts geschlossen. Es war das Jahr, in dem der Kosovo der „Internationalen Allianz gegen den IS“ beitrat. Im Sommer 2014 wurden 15 Imame festgenommen, bis auf einen wurden sie alle nach zwei Monaten wieder freigelassen. Einer von ihnen ist Shefqet Krasniqi, ein enger Vertrauter von Großmufti Naim Tërnava und über die Grenzen des Kosovos hinaus als radikaler Prediger bekannt. Im Internet präsentiert er sich modern, macht Selfies im Sportwagen und schüttelt angesagten Fußballspielern die Hände. Krasniqi wurde nach seiner Verhaftung zwar als Imam der großen Moschee von Prishtina seines Amts enthoben, lehrt inzwischen aber an der Fakultät für Islamische Studien in Prishtina, der höchsten muslimischen Bildungseinrichtung im Kosovo.

Das Gebäude ist ein einfacher Plattenbau mit angrenzender Moschee und Minarett, versteckt im Straßenlabyrinth der Stadt. Im Flur hängen Fotos des Großmufti. Das Fach, das Krasniqi unterrichtet, ist im Curriculum als „fikh“ ausgeschrieben, islamisches Recht. Bis 2011 hat auch Idriz Bilalli hier gelehrt. Heute ist der 52-Jährige Imam in Podujeva, einer Stadt im Nordosten, an der Grenze zu Serbien.

Bilallis Büro ist mit einem kunstvollen grünen Teppich ausgelegt, über den man nur auf Strümpfen gehen darf. Er ist neben Zuhdi einer der stärksten Gegner des „Tërnava-Systems“. 2011 gründete er eine oppositionelle Arbeitsgemeinschaft und wurde kurz darauf von der Universität und später als Vorstand der Imame in Podujeva suspendiert.8 Die Wahlverfahren in der religiösen Hier­archie der Islamischen Gemeinschaft bezeichnet er als „exjugoslawisch“. In den 700 Moscheegemeinden werden zwar Wahlen abgehalten, doch in den Vorstand kommt nicht immer der Kandidat mit den meisten Stimmen. Der Mufti wählt einen Favoriten aus. „So werden“, kritisiert Bilalli, „seit einigen Jahren wichtige Positionen systematisch mit Wahhabiten besetzt.“

Und wie reagiert der Staat darauf? „Es ist nicht unsere Aufgabe, die Islamische Gemeinschaft zu kontrollieren“, sagt Ardian Arifaj, außenpolitischer Berater von Präsident Hashim Thaçi. Immerhin wurde 2015 ein Gesetz erlassen, wonach IS-Rückkehrer mit 15 Jahren Haft bestraft werden können. Dazu wurde ein PR-Video veröffentlicht, das zeigt, wie Polizisten die Wohnung eines mutmaßlichen Dschihadisten stürmen. „Der IS hat eine bessere Strategie als der Staat Kosovo“, sagt Sibel Halimi, Soziologieprofessorin an der Universität Prishtina, die über Frauen und Dschihadismus forscht. Aus ihren Recherchen weiß sie, dass die Hassprediger schon die nächste Generation im Auge haben. „Deswegen braucht es endlich ­Deradikalisierungsprogramme“, drängt Halimi.

Genau das wollen in Podujeva und Peja auch die Imame Zuhdi und Idriz mit ihrer Chutba erreichen. Inzwischen klären sie auch im Internetportal foltash.com über den Extremismus auf. Bilallis Gemeinde ist eine der wenigen, aus denen niemand ausgereist ist. „Man muss im Kleinen beginnen, und zwar hier drinnen“, sagt er, während er auf Socken durch die Gebetshalle schlendert. Vorbei an einer Spendenbox, die er nur noch ungern leert. Darin hat er einen Brief gefunden, in dem steht: „Meine Kugel wird dich zum Schweigen bringen. Bist du wirklich so klug, wie du tust? Dann steck deine Nase nicht in unsere Angelegenheiten.“

1 Freitagspredigt, bei der es meist um aktuelle Ereignisse geht.

2 Muhaxheri starb vermutlich im August 2015. Er galt als einer der „Top Ten“-IS-Terroristen der Welt.

3 Der Wahhabismus ist eine im 18. Jahrhundert von Muhammad Ibn Abd al-Wahhab ins Leben gerufene sittenstrenge, sunnitische Glaubensrichtung und die Staatsreligion Saudi-Arabiens.

4 Bekannt ist, dass sich 80 noch im IS-Kampfgebiet befinden, 120 sind zurückgekehrt und 50 sind ums Leben gekommen.

5 Die UÇK war die albanische Befreiungsarmee im Kosovo-Krieg 1994 bis 1999.

6 Siehe www.qkss.org/repository/docs/Report_inquiring_into_the_causes_and_consequences_of_Kosovo _citizens‘_involvement_as_foreign_fighters_in_Syria_and_Iraq_307708.pdf.

7 www.rimse.gr/2014/01/al-waqf-al-islami-in-balkans.html.

8 Vgl. den Bericht von Global Intelligence vom September 2011, veröffentlicht von WikiLeaks: wikileaks.org/gifiles/docs/71/714478_kosovo-albania-us-serbia-rift-inside-kosovo-islamic.html.

Franziska Tschinderle ist Journalistin.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.05.2016, von Franziska Tschinderle