10.03.2016

Kriegszone Sahel

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Kriegszone Sahel

Der Konkurrenzkampf der Dschihadisten, die Ohnmacht der Regierungen und die europäischen Interventionen

von Philippe Hugon

Diffa, Niger: Soldaten aus dem Tschad in einer Trainingspause JOE PENNEY/reuters
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Die Terrorgruppe Boko Haram hat sich im März 2015 den Namen Islamic State’s West African Province (Iswap) zugelegt und seitdem ihre Strategie tödlicher Attentate in Nigeria und Tschad noch intensiviert. Auch in Libyen ist der Islamische Staat (IS) weiter auf dem Vormarsch. Die Organisation al-Qaida im Islamischen Magreb (AQMI), die bereits in Mali aktiv ist, hat sich zu dem Attentat in Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou bekannt, bei dem am 15. Januar 26 Gäste des Splendid-Hotels getötet wurden.

Die Ausbreitung bewaffneter dschihadistischer Gruppierungen in der Sahelzone hängt vor allem mit zwei Entwicklungen zusammen. Erstens wurden in Algerien seit Ende der 1990er Jahre die bewaffneten islamistischen Gruppen zerschlagen. Zweitens führte 2011 die westliche Intervention in Libyen zum Sturz Muammar al-Gaddafis. Seitdem haben diverse Milizen – etwa die einst von Gaddafi angeheuerten Tuareg – dank der Waffen aus den Arsenalen der libyschen Armee ihre Aktivitäten in der gesamten Sahelregion verstärkt.

Diese Entwicklungen trugen dazu bei, dass 2012 bei den Kämpfen im Norden von Mali ganz unterschiedliche Gruppen mit jeweils eigener Agenda mitmischten: In der Nationalen Bewegung für die Befreiung des Azawad (MNLA) kämpften Tuareg für ihre Unabhängigkeit; der AQMI nahestehende Milizen wollten ein Kalifat errichten; die Gruppe Ansar Dine des Tuareg-Führers Iyad Ag Ghaly forderte die Einführung der Scharia; und die Bewegung für Einheit und Dschihad in Westafrika (Mujao) wollte die mafiös-kriminellen Netzwerke unter ihre Kontrolle bringen.1

Heute streben die dschihadistischen Gruppen nicht nur die Kontrolle des Schmuggels (etwa von Waffen und Drogen) und die Ablösung der einzelnen Regierungen an, sie wollen auch die alten Kolonialgrenzen beseitigen und die Beziehungen zwischen Europa und der Sahelzone zerstören.

Auf die französische Militäroperation „Serval“ in Mali, die bis August 2014 dauerte, folgte die umfassendere Operation „Barkhane“: In die fünf Sahelländer Mauretanien, Mali, ­Niger, Tschad und Burkina Faso wurden 3000 französische Soldaten entsandt, die von afrikanischen Truppen und UN-Blauhelmen unterstützt werden. Diese Streitkräfte haben Waffenarsenale zerstört, die Bewegungsfreiheit der Dschihadisten eingeschränkt und den westlichen Nachrichtendiensten zugearbeitet. Und ohne ihre Präsenz wäre auch der Waffenstillstand in Mali vom Februar 2015 nicht zustande gekommen.

Allerdings können ausländische Militäroperationen bewaffnete Auseinandersetzungen und den Einfluss bewaffneter Gruppen bestenfalls kurzfristig eindämmen. Die eigentlichen Ursachen der Konflikte können sie nicht beseitigen. Im Gegenteil besteht die Gefahr, dass sich die Bevölkerung über kurz oder lang gegen „die Ausländer“ wendet und dass weitere lokale Splittergruppen entstehen, die gleichzeitig kriminelle, politische oder religiöse Ziele verfolgen.

Tatsächlich sind dschihadistische Milizen inzwischen in der gesamten Sa­hel­zone aktiv und haben zahlreiche Anschläge verübt. Ein Beispiel ist die Gruppe al-Murabitun, ein AQMI-Ableger unter der Führung des Algeriers Mokhtar Belmoktar, die sich zu den Attentaten von Bamako (November 2015) und Ouagadougou (Januar 2016) bekannt hat. Und in Nigeria hat sich Boko Haram unter Abubakar Shekau zu einer kriminellen und terroristischen Miliz entwickelt, die Verbindungen zum IS unterhält, aber auch auf die heimliche Unterstützung hoher Armeeoffiziere bauen kann.

Gegründet wurde die Sekte von dem in Saudi-Arabien ausgebildeten Imam Ustaz Mohammed Yusuf2 , der 2009 getötet wurde; seitdem gewann sie, auch wegen der gewaltsamen Unterdrückung durch die Armee,3 weiter an Zulauf. Die Boko Haram rekrutiert sich aus subproletarischen, kaum alphabetisierten Schichten, wo mancher bereit ist, für 50 Euro eine Bombe zu legen. Die Operationen der Gruppe erstrecken sich vom nordöstlichen nigerianischen Bundesstaat Borno über den Osten von Niger bis zum Westen des Tschad und in den Norden Kameruns und haben seit 2009 nach Angaben von Amnesty etwa 17 000 Todesopfer gefordert.

Auch die Rivalität zwischen den einzelnen Gruppen trägt zur Ausbreitung der Dschihadisten in der Sahelzone bei. Dabei konkurrieren dezentral organisierte Gruppen um die Kontrolle des Schmuggelgeschäfts oder die Rekrutierung neuer Mitglieder.4 Oft sind sie einem „Mutterhaus“ angeschlossen, gehen aber auch provisorische Bündnisse ein. Ihre Erfolge verdanken sie nicht nur der Durchlässigkeit der Grenzen, sondern auch der Schwäche ihrer Gegner, also der Regierungen, Geheimdienste und Sicherheitskräfte.

Obwohl ein globales Dschihad-Bündnis noch nicht zu erkennen ist, suchen immer mehr Gruppen Anschluss an den IS oder an al-Qaida. Auf den IS orientieren sich neben Boko Haram auch die Mujao, Wilayat Sinai in Ägypten, Majlis Schura Shabab al-Islam in Libyen und Ableger der somalischen al-Shabaab.

Die al-Shabaab selbst zählt sich zu al-Qaida, desgleichen die Front de libération du Macina (FLM) der Fulbe in Mali, Ansar Dine und al-Murabitun, eine Fusion von Teilen der Mujao und der 2012 von Belmokhtar gegründeten Gruppe Signataires par le sang („Die mit Blut unterzeichnen“). Dabei handelt es sich eher um eine Art Franchise-Beziehung zu den „Mutterhäusern“, die sich auf die Übernahme eines Labels beschränkt. Konkrete Geldflüsse oder logistische Verbindungen zum IS oder zu al-Qaida sind bislang nicht nachgewiesen.

Begünstigt werden die Erfolge der dschihadistischen Gruppen in der Sahelzone durch eine Reihe von Problemen: das starke Bevölkerungswachstum, die Folgen des Klimawandels, die Perspektivlosigkeit des städtischen Subproletariats und der Jugend in den vernachlässigten Provinzregionen. Als Brandbeschleuniger wirken der Waffen- und Drogenschmuggel in Gebieten, die der Staat nicht kontrolliert, die allgemeine Korruption, die Unfähigkeit der Sicherheitskräfte und das Versagen der Armeen. Und vor allem die allgemeine Schwäche des Staats, seine Hoheitsrechte im ganzen Land auszuüben.

Die Islamisierung der Radikalität

Im Norden Nigerias, der von den Öleinnahmen des Landes relativ wenig abbekommt, entwickelt Präsident Muhammadu Buhari, der selbst aus dem Norden stammt, immerhin mehr Initiative als sein Vorgänger Goodluck Jonathan: Seit seinem Amtsantritt im Mai 2015 kämpft er gegen Korruption und für mehr regionale Zusammenarbeit. Allerdings ist die Gewalt noch nicht gestoppt, und etliche Politiker und Militärs treffen immer noch heimliche Absprachen mit den Dschihadisten.

In Mali hat die Regierung unter Präsident Amadou Toumani Touré (2002–2012) den Schmuggel und andere Aktivitäten der Dschihadisten einigermaßen geduldet, solange sie sich auf den Norden des Landes beschränkten. Und in Burkina Faso hielt sich Staatschef Blaise Compaoré bis zu seinem Rücktritt 2014 an einen stillschweigenden Nichtangriffspakt mit bestimmten Gruppen und spielte bei Verhandlungen über die Befreiung von Geiseln gern den Vermittler. Seitdem wurden die als „Staat im Staate“ bezeichneten Präsidentengarde aufgelöst und der Geheimdienst umstrukturiert, was Burkina Faso anfälliger für Attentate macht.

Im afrikanischen Islam dominierten über Jahrhunderte malikitische Sunniten6 und Sufis, die häufig synkretistische Bruderschaften bildeten. Dabei blieb jedoch stets der Einfluss strengerer islamischer Strömungen aus dem Sudan oder dem Nahen Osten spürbar, einschließlich des fundamentalistischen Takfirismus.5 Aber der Untergang der „großen Erzählungen“ wie Sozialismus, Panarabismus oder Panafrikanismus hat auch in Afrika eine Radikalisierung des Islams gefördert, oder besser eine „Islamisierung der Radikalität“, wie Olivier Roy es nennt.

Die dschihadistischen Milizen rekrutieren ihrer Mitglieder allerdings nicht nach einheitlichen religiösen oder ethnischen Kriterien. Boko ­Haram besteht zwar mehrheitlich aus Angehörigen der Kanuri-Ethnie, aber auch Hausa und Fulbe werden aufgenommen, und es soll in ihren Reihen sogar ehemalige Christen geben.

Dass sich junge Leute den dschihadistischen Bewegungen anschließen, entspringt dem Wunsch, einer korrupten Welt zu entfliehen. Sie streben nach einer „Läuterung“ und wollen damit zeigen, dass sie die gesellschaftlichen und politischen Demütigungen satthaben.

Ein zentrales Problem für die Milizen ist das Geld. Ihre wichtigsten Finanzierungsquellen sind die natürlichen Ressourcen, die sie kontrollieren, Erlöse aus Schmuggelgeschäften, Schutzgeldern und Lösegeldern bei Entführungen sowie Zwangsabgaben der Bevölkerung und Spenden privater Geldgeber oder anderer Gruppen. Der Großteil dieser Finanzierungstechniken impliziert und fördert damit die Anwendung von Gewalt.

Ein Gutteil der Konfliktursachen liegt allerdings auch in der Geschichte der Region: Die staatlichen Grenzen wurden im Zuge der Entkolonialisierung festgeschrieben und im Grunde niemals als legitim empfunden. Zudem sind viele historische Narben, die zuweilen aus vorkolonialer Zeit stammen, noch nicht verheilt. So bezieht sich Boko Haram auf das Kalifat von Sokoto oder auf das Reich von Kanem-Bornu6 , die FLM wiederum auf das Massina-Reich der Fulbe. Diese „Dschihadisten-­Staaten“ des 19. Jahrhunderts, deren Reichtum auf dem Sklavenhandel beruhte, wurden von den europäischen Kolonisatoren zerstört, in einigen Fällen auf Ersuchen der Hausastaaten.

Neben den westlichen Mächten haben auch arabische Staaten zur Entstehung der aktuellen Situation beigetragen: Katarische Vereine oder saudische Stiftungen finanzieren Moscheen und Koranschulen; Marokko unterhält Verbindungen zur malischen MNLA, und dem algerischen Geheimdienst werden Beziehungen zu den Chefs der AQMI nachgesagt.7 Zündstoff enthält auch der Streit zwischen Algerien und Marokko über die Westsahara, und die Kriege im Irak, in Libyen und Syrien haben Auswirkungen bis in die Sahelzone.

Die ersten Opfer der Gewalt sind natürlich die afrikanischen Staaten selbst. Der Terrorismus stärkt die autoritärer Regime und die Entschlossenheit der Regierungen, auf Sicherheit statt auf produktive Investitionen zu setzen. Der Teufelskreis aus Gewalt, Armut und Marginalisierung zerstört wirtschaftliche Perspektiven und führt dazu, dass ganze Regionen von Touristen, Investoren und sogar von humanitären Helfern gemieden werden.

Die Konflikte produzieren auch immer mehr Flüchtlinge, wodurch sich lokale Auseinandersetzungen schnell zum Flächenbrand ausweiten. Am stärksten von einer Destabilisierung bedroht sind im Frühjahr 2016 die west­afrikanischen Staaten Elfenbeinküste und Senegal, wo sich der Salafismus ausbreitet und den Einfluss der traditionellen Bruderschaften zurückdrängt. Auch in Syrien kämpfen zahlreiche junge Senegalesen in den Reihen des IS (allerdings gibt es keine genaue Zahlen).

Die meisten Mitglieder der ohnehin zerstrittenen Europäischen Union beteiligen sich nicht an den Militäreinsätzen in den destabilisierten afrikanischen Regionen. Dabei ist Afrika für Europa strategisch wichtig, und das nicht nur mit Blick auf Märkte und Naturressourcen, sondern auch wegen der Risiken, was Sicherheit, Umweltbelastung und Bevölkerungsentwicklung betrifft. Und die ballen sich vor allem in der Sahelzone.

Die ausländische Finanzhilfe konzentriert sich nach wie vor eher auf das „nützliche Afrika“ und die sicheren Gebiete. Dagegen wäre es dringend geboten, den jungen Menschen in den Städten und auf dem Land eine Perspektive zu bieten, zumal sich deren Zahl in der Sahelzone bis 2050 verdoppeln wird. Eine solche neue Strategie muss vor allem zwei Ziele verfolgen: die hoheitlichen Funktionen der Staaten wiederherzustellen und funktionierende Wirtschaftsstrukturen zu fördern, die für Arbeitsplätze sorgen.

1 Siehe Daniel Bertrand, „Conjurer la fragmentation du Mali“, Le Monde diplomatique, Juli 2015.

2 Siehe Alain Vicky, „Das Monster von Nigeria“, Le Monde diplomatique, April 2012.

3 Vgl. Marc-Antoine Perouse de Montclos, „Boko Haram et le terrorisme islamiste au Nigeria. Insurrection religieuse, contestation politique ou protestation sociale“, in: Questions de recherche, Nr. 40, Centre d’études et de recherches internationales (Ceri), Paris, Juni 2012.

4 Das gilt etwa für die katiba genannten Kampfgruppen des AQMI, die Jean-Christophe Rufin in seinem gleichnamigem Roman schildert (deutsche Ausgabe: „Katiba – zwischen zwei Fronten“, Frankfurt am Main (Fischer) 2015).

5 Als takfir wird im Islam die Praxis bezeichnet, einen Muslim als Ungläubigen, kafir, zu bezeichnen.

6 Sokoto war ein im 19. Jahrhundert gegründeter islamischer Staat der Fulbe im Norden Nigerias, Kanem-Bornu ein Königreich, das zwischen dem 8. und dem 19. Jahrhundert im Norden des Tschads bestand.

7 Vgl. François Gèze und Salima Mellah, „Al-Qaida au Maghreb, ou la très étrange histoire du GSPC algé­rien“, 2007: www.algeria-watch.org.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Philippe Hugon ist Forschungsdirektor am französischen Institut für internationale und strategische Beziehungen (Iris). Autor von: „Comprendre les Afriques“, Paris (Armand Colin) 2016.

Le Monde diplomatique vom 10.03.2016, von Philippe Hugon