10.12.2015

Birma – Freiheit unter Kontrolle des Militärs

zurück

Birma – Freiheit unter Kontrolle des Militärs

von Renaud Egreteau

Neuigkeiten in Rangun GEMUNU AMARASINGHE/ap
Audio: Artikel vorlesen lassen

Bei den ersten freien Wahlen in Birma seit 25 Jahren errang die Nationale Liga für Demokratie (NLD) am 8. November 2015 einen überwältigenden Sieg. Wenn das Parlament im Februar den neuen Präsident wählt, wird sie also ihren Wunschkandidaten durchsetzen können. Er – beziehungsweise sie – darf allerdings gemäß der von der Armee beschlossenen Verfassung keine nahen Angehörigen (Eltern, Ehepartner, Kinder oder Enkel) haben, die ausländische Staatsbürger sind. Diese Einschränkung zielt direkt auf die NLD-Vorsitzende Aung San Suu Kyi, deren beide Söhne britische Staatsbürger sind.

Der Präsident kann die neue Regierung bilden, ohne mit den anderen Parteien verhandeln zu müssen, von denen die meisten bei der Wahl von der NLD förmlich hinweggefegt wurden. Von den 92 ­Parteien, die zur Wahl antraten, haben nur 12 (darunter 10 „ethnisch“ geprägte, die jeweils eine Minderheit vertreten) einen oder mehrere Sitze im Parlament gewonnen.

Das politische Programm der NLD zeigt, dass sich ihre Strategen durchaus bewusst sind, vor welchen Herausforderungen das Land steht. Dieses Manifest, das kurz vor den Wahlen veröffentlicht wurde, listet eine Reihe nobler Ziele auf und beschreibt systematisch die aktuellen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme. Abgesehen von einem detaillierten Wirtschaftsteil, der mit Hilfe australischer Ökonomen erarbeitet wurde, enthält es jedoch keinen konkreten Fahrplan. Auch fehlen bislang Gesetzentwürfe, die mit Blick auf die Schwäche der Staatsorgane Abhilfe schaffen könnten, vor allem in der Bürokratie und im Justizsystem. Solche Änderungen müssen darüber hinaus mit der Verfassung in Einklang stehen, die dem Gesetzgeber zahlreiche Beschränkungen auferlegt – zum Beispiel verbietet sie, die Rolle des Militärs infrage zu stellen. Sehen wir uns einige dieser Baustellen näher an.

Großen Nachholbedarf gibt es vor allem beim Thema Recht und Gerechtigkeit. Einige der Repressions­ins­tru­mente des Staats, die noch aus der Kolonialzeit stammen, hat die Regierung unter Präsident Thein Sein seit 2011 zurückgenommen. Im August 2011 gab es eine Amnestie für mehr als zweitausend politische Gefangene. Ein Jahr später wurde die staatliche Zensur aufgehoben und im Parlament ein Mediengesetz ausgehandelt.

Aber viele Willkürgesetze bleiben in Kraft, darunter eines von 1908, das den Bürgern Birmas jeden Kontakt zu einer mit dem Staat im Konflikt stehenden Organisation verbietet; ebenso das Staatssicherheitsgesetz von 1975 sowie ein Gesetz aus dem Jahr 1907, das die Registrierung von Personen regelt. Letzteres wurde 2012 zwar formal überarbeitet, aber durch das von der Armee kontrollierte Innenministerium ­besteht es im Prinzip unverändert weiter.

Diese Gesetze wurden seit 1989 regelmäßig gegen die Aktivisten der NLD angewandt. Und sie bleiben auch heute ein Instrument, um jeden zu bestrafen, dem zum Beispiel Verbindungen zur Unabhängigen Armee Kachin (KIA) nachgesagt werden, die immer noch im offenen Krieg mit der birmesischen Armee steht.1

Eine Übergangsjustiz kommt nicht infrage

Mit ihrer absoluten Mehrheit könnte die NLD sich sofort daran machen, diese Gesetze abzuschaffen, wenn das neue Parlament Anfang 2016 zusammen tritt. Theoretisch werden alle Gesetze mit einfacher Mehrheit beschlossen. Einige betreffen jedoch direkt die Bereiche, die der Armee vorbehalten sind (Ministerien für Verteidigung, Inneres und Grenzfragen). Und die Armee könnte diese Gesetze anfechten, mit dem Argument, sie seien nicht verfassungskonform. Das nächste Verfassungsgericht – dessen neun Mitglieder von den künftigen Präsidenten der beiden Parlamentskammern und dem Staatspräsidenten gewählt werden – wird wohl viel zu tun bekommen. Wenn es den Abgeordneten tatsächlich gelingt, die Macht und die Privilegien des Militärs Schritt für Schritt einzuschränken und die immer noch etwa einhundert aus Gewissensgründen inhaftierten Personen freizulassen, wird Aung San Suu Kyi dafür sicher sehr gelobt werden.

Für die NLD-Vorsitzende kommt es allerdings nicht infrage, eine Übergangsjustiz einzusetzen, die sich mit der schmerzhaften Vergangenheit der Diktatur beschäftigen und einige Generäle wegen Machtmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen anklagen würde. Das kann die NLD schon deshalb nicht leisten, weil die Armee das Gewaltmonopol behält. Aber sie will es auch nicht: „Wir werden keine Serie von Nürnberger Prozessen oder etwas Vergleichbares anstrengen“, erklärte Aung San Suu Kyi kurz nach den Wahlen.2 Das Land muss sich vorläufig mit einem extrem schwachen Rechtssystem abfinden, das immer noch auf der grassierenden Korruption beruht.

Zudem braucht das Land, das immer noch mitten im Bürgerkrieg steckt, endlich Frieden. In vielen abgelegeneren Gebieten, in denen nicht die Bamar (70 Prozent der Bevölkerung Birmas), sondern ethnische Minderheiten wie die Kokang, Kachin oder Palaung die Bevölkerungsmehrheit stellen, ist die Begeisterung nicht angekommen, die am 8. November große Landesteile erfasst hat. In mehr als 600 Wahlkreisen wurde die Abstimmung annulliert, sieben Sitze bleiben im nächsten Nationalparlament unbesetzt.3

Schon auf den ersten Seiten wirbt das Manifest der NLD für den interethnischen Dialog. Dafür müssen jedoch zahlreiche Hindernisse überwunden werden. Zunächst sitzt bei jedem Dialog die Armee mit am Tisch, die an allen aktuellen Konflikten beteiligt ist, entweder direkt, mit ihren Bataillonen, vor allem gegen die Kachin-, Kokang- oder Palaung-Rebellen, oder durch die oben genannten Schlüsselministerien, die sie dank der Verfassung von 2008 auch weiterhin kon­trol­lie­ren wird. Aung San Suu Kyi kann versuchen, Verhandlungen zwischen der Mehrheit, die sie vertritt, und den ethnischen Minderheiten anzustoßen, wie es bereits ihr Vater, General Aung San, vor seiner Ermordung 1947 vorgeschlagen hatte. Aber sie kann nicht allein handeln – und sie wird wohl nicht einmal einen vollständigen Lagebericht über die aktuellen Konflikte erhalten.

Außerdem gibt es in den Grenzgebieten eine Reihe ethnischer Gruppen, mit denen die NLD noch nie oder nur sehr wenig gesprochen hat. Alte Bindungen – wenn auch keine große Sympathie – gibt es zwischen der NLD und den Rebellen der KIA oder der Karen National Union (KNU). Wie aber soll Aung San Suu Kyi auf Augenhöhe mit den örtlichen Baronen der quasiautonomen Regionen Kokang und Wa, der Shan State Army-North (SSA-N), der Mong-La-Miliz, die große Gebiete an der Grenze zu China beherrscht, oder der Democratic Karen Benevolent Army (DKBA) verhandeln, die in ihren Gebieten an der thailändischen Grenze das Sagen hat?4 Und schließlich braucht die NLD auch viel politisches Geschick, um das Misstrauen zu überwinden, mit dem ihr die politischen Eliten der Minderheiten begegnen, die bei den Wahlen mehr oder weniger überrollt wurden.

Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass sich Birma seit seiner Unabhängigkeit im Januar 1948 nie wirklich als Nation wahrgenommen hat. Die Spannungen zwischen dem von den Bamar beherrschten politischen und kulturellen Zentrum und der von zahlreichen Minoritäten dominierten Peripherie, an denen die Entwicklung des Landes vorbeiging, sind weiterhin der Hauptgrund für den Bürgerkrieg. Deshalb muss sich die nächste Regierung mit dem Thema Föderalismus auseinandersetzen, einer Teilung der Macht und der Ressourcen zwischen dem tendenziell zentralistischen Landesinneren und jenen Re­gio­nen, die dezentrale Strukturen wollen.

Die neue Regierung muss auch das Problem der Staatsbürgerschaft anpacken: Wer ist Birmese? Wer nicht? Was macht heute die birmesische „Nation“ aus, und was vereint die Birmesen? Damit könnte eine lang erwartete Debatte angestoßen werden, die politische Eliten, Intellektuelle, große Organisationen und normale Bürger einbeziehen müsste. Der Kampf gegen Autoritarismus und Militarismus, der große Teile der Bevölkerung hinter Aung San Suu Kyi vereint hat, seitdem sie 1988 nach Birma zurückgekehrt ist, reicht als einende Kraft nicht mehr aus.

Die Wiedererrichtung eines halbwegs liberalen, vielleicht sogar demokratischen politischen Systems wird die seit der Unabhängigkeit bestehenden ethnischen und nationalen Fragen nicht automatisch lösen. Allerdings weist nichts darauf hin, dass die NLD bereit wäre, diese Diskussion zu führen, erst recht nicht nach den gewalttätigen Konflikten zwischen Buddhisten und Muslimen von 2012 und 2013. Das Erstarken eines lokal begrenzten, radikalisierten und islamfeindlichen Buddhismus hängt auch mit dem na­tio­na­lis­ti­schen Aufschwung der Arakanesen-Ethnie im Rakhaing-Staat zusammen, die sich durch das Bevölkerungswachstum der muslimischen Rohingya im Westen des Landes bedroht fühlt. Dieser Konflikt hat die Religion wieder ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen in Birma gerückt. Bei einer Pressekonferenz am Vorabend der Wahlen bat Aung San Suu Kyi die ausländischen Journalisten, das Problem der Rohingya nicht „überzubewerten“, obwohl die sunnitische Minderheit, die schlimmer denn je ausgegrenzt und abgelehnt wird, zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit nicht an den Wahlen teilnehmen durfte.

Wirtschaftlich ist Birma trotz seiner unermesslichen Naturschätze wie Holz, Edelsteine und Gas und seiner menschlichen Ressourcen noch ein Entwicklungsland.5 Die nächste Regierung muss irgendwie mit einer Volkswirtschaft zurechtkommen, die den Keim verschärfter Ungleichheit und wachsender Korruption in sich trägt. Die neuen Gesetzgeber werden viel zu tun haben, um die Wirtschaft neu zu strukturieren. Drei Viertel der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft, und die großen Konzerne haben ihr Vermögen mit Rohstoffen, Landbesitz und Handel gemacht.

Nach dem Abschied vom „birmesischen Weg zum Sozialismus“ 1988 entwickelte sich ein wilder, wenn auch begrenzter Kapitalismus um einige Magnaten, die dem Militärregime nahestanden. Dieses System konnte sich in den 1990er und 2000er Jahren stabilisieren, weil die Armee die Wirtschaft und den Erwerb von Grundeigentum fast vollständig unter Kontrolle hatte und das Land aufgrund der internationalen Sanktionen isoliert war.

Seit der Öffnung, die auf die Aufhebung der meisten Sanktionen 2012 folgte, wandelt sich die Vetternwirtschaft allmählich in eine breite Oligarchie, die sich ihre Macht kaum per Gesetz wird nehmen lassen. Das Manifest der NLD verspricht, den Schwerpunkt auf die Landwirtschaft und auf eine verlässliche Fiskalpolitik zu legen. Aber den enteigneten Bauern ihr Land zurückzugeben, wird keine einfache Aufgabe, solange kein loyaler Apparat für die Durchsetzung sorgt. Auch das Eintreiben von Steuern wird schwierig, denn die übergroße Mehrheit der Birmesen hat nie Steuern gezahlt.

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung Birmas hat keinen Zugang zu Strom. Um auch sie mit Energie zu versorgen, wird ein bloßes Gesetz nicht genügen, zumal sich die Öffentlichkeit regelmäßig und leidenschaftlich gegen den Bau von Staudämmen wehrt, die insbesondere ausländische Konzerne errichten wollen, allen voran chinesische. So starteten im Dezember 2009 das birmesische Ministerium für Elek­tri­zität und die China Power Investment Corporation die Arbeiten am Myitsone-Staudamm im Norden des Landes. Ursprünglich sollte die 6000-Megawatt-Anlage bis 2017 fertiggestellt sein. Doch nach massiven Protesten verhängte die Regierung 2011 einen Baustopp.

Auch gegen den Mong Ton, den größten je geplanten Staudamm in Birma, für den 12 000 Menschen umgesiedelt werden müssten, regt sich Widerstand. Die Bevölkerung, für die die endemische Korruption zum Alltag gehört, befürchtet, dass solche Großprojekte in erster Linie die Taschen der Eliten füllen werden – und das lässt sich auch durch noch so strenge Maßnahmen der neuen Regierung nicht schnell verändern.

Und schließlich scheint eines fast unmöglich: der Aufbau friedlicher, vertrauensvoller Beziehungen zwischen den zivilen und den militärischen Kräften. Es besteht die Gefahr, dass die Armee in den kommenden Jahren ein völlig autonomer politischer Machtfaktor bleibt, denn keiner ihrer Generäle scheint die Absicht zu haben, sie in eine neutrale Institution unter ziviler Kontrolle umzuwandeln. Seit fünfzig Jahren folgen die Ideologen der Armee ebenso wie ihre Generäle und die Lehrer an ihren Militärakademien der Losung Ludwigs des XIV.: „Der Staat bin ich!“

Gegen diese Einstellung wird man mit ein paar Reformen nichts ausrichten. Aung San Suu Kyi muss sich also mit Armeechef General Min Aung Hlaing einigen. Schon die ersten Parlamentssitzungen im nächsten Jahr und die dort diskutierten Themen werden zeigen, ob die NLD die offene Auseinandersetzung mit der Armee wagt, die jetzt die stärkste Oppositionskraft ist, weil sie laut Verfassung ein Viertel der Parlamentssitze einnimmt.

Auf wen kann sich die NLD also stützen, wenn sie eine nie dagewesene Phase der Demokratisierung einleiten will? Die charismatische Aung San Suu Kyi ist zwar durch das Mandat des Volks bestätigt worden. Aber die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Landschaft in Birma ist viel zersplitterter, als es die Ergebnisse der – nach dem von den Briten geerbten Mehrheitswahlrecht durchgeführten – Wahl vermuten lassen. Eine Mehrheit der Funktionäre scheint „die Lady“ am 8. November unterstützt zu haben. Das zeigt der überwältigende Sieg ihrer Partei in der Hauptstadt Naypyidaw. Damit ist aber noch lange nicht gesichert, dass die pensionierten oder aktiven Militärs, die hohe Posten in der Bürokratie besetzen, bei künftigen Reformen mitziehen werden. Wertvolle Verbündete der neuen Regierung sind die Nichtregierungsorganisationen, die sich um ethnische, soziale und Umweltfragen kümmern. Doch sie können leicht zu unangenehmen Partnern mutieren, wenn sie die NLD und Aung San Suu Kyi für all das kritisieren, was sie nicht oder schlecht oder ohne Absprachen tun werden.

Die NLD könnte auch bei Veteranen des letzten Regimes oder Persönlichkeiten aus dem zivilen und akademischen Bereich Unterstützung suchen, die seit 2011 kooptiert wurden. Zudem könnte sie auf die Rückkehr von Dissidenten im Exil setzen, die Präsident Thein Sein amnestiert hat. Und schließlich sollte vor allem die westliche Welt, die Aung San Suu Kyis Sieg begrüßt hat, ihren Beitrag leisten und der künftigen Regierung mit Großzügigkeit begegnen. Das wird eine Gratwanderung, denn schließlich hat Aung San Suu Kyi versprochen, die Abhängigkeit ihres Landes von ausländischer Unterstützung zu reduzieren. In den letzten Monaten war sie sichtlich irritiert über die kaum verhohlene Kritik des Westens an ihrer angeblichen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Rohingya – noch ein weiteres Dilemma in der Reihe zahlloser Herausforderungen, die einen schnellen und unkomplizierten Weg zur Demokratie in Birma zu versperren drohen.

1 Rebellenmilizen der Palaung, Kokang und Rakhine kämpfen immer noch gegen die Armee. Häufig gibt es auch Scharmützel mit der Shan State Army-South (SSA-S), obwohl diese 2012 einen Waffenstillstand unterzeichnet hat, sowie mit der Gruppe von Mong La. Siehe André und Louis Boucaud, „Birmas Schätze. China investiert im Nachbarland und kooperiert dabei auch mit den Separatisten“, Le Monde diplomatique, Januar 2012.

2 „Myanmar election: Full BBC interview with Aung San Suu Kyi”, 10. November 2015: www.bbc.com.

3 Zwischen 80 000 und 150 000 von 32 Millionen durch die Wahlkommission registrierten Wählern konnten wegen der Konflikte ihre Stimme nicht abgeben.

4 Siehe André und Louis Boucaud, „Die Generäle machen auf Demokratie”, Le Monde diplomatique, November 2009.

5 Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug 2013 kaufkraftbereinigt 1740 Dollar, womit Birma auf der Liste von 186 Ländern Platz 160 belegte.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Renaud Egreteau ist Politikwissenschaftler am Woodrow Wilson Center, Washington, D. C.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2015, von Renaud Egreteau