12.11.2015

Große Pläne für kleine Parzellen

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Große Pläne für kleine Parzellen

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Noch heute wohnt knapp die Hälfte der chinesischen Bevölkerung, etwa 530 Millio­nen Menschen, auf dem Land. Über 15 Prozent der Landbewohner leben unterhalb der Armutsgrenze. Dank der Landreform von 1979 ist es zumindest gelungen, den Hunger in China erfolgreich zu bekämpfen. Der Boden blieb zwar in Kollektivbesitz, aber die Nutzungsrechte wurden damals zu gleichen Teilen unter den Bauern aufgeteilt.

Hinzu kam die Verbesserung des Saatguts und der Gebrauch von Düngemitteln. Die Ernten wurden ertragreicher, und die Bauern bekamen durch die Gründung kleinerer Unternehmen vor Ort zunächst mehr Möglichkeiten, ihr Einkommen aufzubessern. Viele Betriebe konnten sich jedoch nicht halten. In jeder Familie verließ mindestens einer das Dorf, um sich den Wanderarbeitern (mingong) anzuschließen.

Für die Zurückgebliebenen wur­de die Lage zusehends schwieriger. Im Frühjahr 2000 fasste sich Li Changping, Parteifunktionär in der Provinz Hubei, ein Herz und griff zu einer ungewöhnlichen Maß­nahme: Er verfasste einen of­fenen Brief an Ministerpräsident Zhu Rongji, der in der Nanfang Zhou­mo, einer der größten Zeitungen Chinas, veröffentlicht wurde: „Das Schicksal der Bauern ist finster, das Land arm, die Landwirtschaft in der Krise!“1 Der Brief erregte großes Aufsehen. Doch die Regierung schaltete auf Durchzug. Erst vier Jahre später begann sie die Agrarsteuer zu senken (die ­etwa 6 bis 7 Prozent der bäuerlichen Einkünfte verschlang), um sie am 1. Januar 2006 ganz abzuschaffen.

Es war der Beginn einer Reihe von Maßnahmen: Einführung eines ländlichen Grundeinkommens (dibao), Zuschüsse für den Kauf von Saatgut, Dünger, Pestiziden und Maschinen sowie Festlegung garantierter Mindestpreise für Weizen, Baumwolle oder Soja. Nach offiziellen Angaben sind in ­China 20 Prozent der Anbau­flä­chen verseucht. Die Böden der über das ganze Land verstreuten winzigen Parzellen (im Durchschnitt 0,8 Hektar groß) sind durch den übertriebenen Einsatz von Düngemitteln ausgelaugt. Im Norden Chi­nas fehlt es zudem an Wasser.

Hinzu kommt der Wandel der Ernährungsgewohnheiten. Es wird weniger Getreide und dafür mehr Fleisch gegessen. Zwei Drittel der Maisproduktion werden zu Tierfutter verarbeitet, riesige Zuchtanlagen sind entstanden: Mehr als ein Viertel der verkauften Schweine stammt aus Großbetrieben mit über 3000 Tieren.2 Darüber hinaus sind manche subventionierten Produkte wie Baumwolle oder Soja inzwischen teurer als die zugelassenen Importe, was dazu führt, dass der Staat auf riesigen Vorräten sitzt, die er nur mit Verlust weiterverkaufen kann – und deshalb meist verrotten lässt.

China ist der weltweit größte Importeur von Soja (aus den USA, Brasilien und Argentinien). Selbst Weizen muss importiert werden (aus Australien, Kanada und den USA). Dabei ist das Land der weltweit führende Weizenproduzent – allerdings zu steigenden Kosten. Die Regierung plant, die Subventionen zu senken und die Importe zu erhöhen, Parzellen sollen zusammengelegt und die Urbanisierung vorangetrieben werden (bis 2020 sollen weitere 20 bis 25 Millionen Binnenmigranten in die Städte ziehen). Für Ning Gaoning, Chef des Staatskonzerns Cofco (China National Cereals, Oils and Foodstuffs Corporation), ist „der Freihandel die einzige Lösung“. Die Nummer eins auf dem chinesischen Lebensmittelmarkt besitzt riesige Ländereien im Ausland.

Laut Chen Xiwen, dem Projektleiter des Maßnahmenpakets, haben 2014 bereits „26 Prozent der ländlichen Haushalte ihre Nutzungsrechte übertragen, das entspricht 28 Prozent der gesamten Anbaufläche“. Diese „Übertragung“ geschah nicht aus freien Stücken. Die Behörden haben die Bauern vielmehr bedrängt, ihre Rechte gegen geringes Entgelt abzutreten, um sie anschließend an Immobi­lien­spekulanten oder Agrounternehmer zu verhökern. Die Bauern verlieren entweder ihr Land und ihre selbst erwirtschafteten Einkünfte, oder sie werden offiziell zu Anteilseignern in sogenannten Kooperativen erklärt, in denen sie aber nichts zu sagen haben, sondern nur als Lohnabhängige auf ihren eigenen Feldern arbeiten.

Die verdeckte Privatisierung hat bereits zahlreiche Proteste hervorgerufen. Auf einer Pressekonferenz hat selbst Chen Xiwen zugegeben, dass man sich auch im Staatsrat uneins ist: „Wir finden bei der Grundbesitzreform keinen Konsens.“3 In einigen Punkten gebe es zwischen den verschiedenen Partnern (Staat, Gemeinden, Industrie und Bauern) bedeutende Differenzen. Trotzdem wird weiter privatisiert, ohne dass es so genannt wird.

Professor Lin Wanlong von der Pekinger Landwirtschaftsuniversität, der ansonsten jedes Wort abzuwägen scheint, nimmt bei diesem Thema kein Blatt vor den Mund. So hält er gar nichts davon, den Agrokonzernen das Feld zu überlassen: „Wenn man die mittlere Größe eines europäischen Familienbetriebs als Maßstab nimmt, hieße das für China, dass nur noch eine Familie das Land bewirtschaftet, das zuvor 80 Familien ernährt hat. Das ist doch komplett unrealistisch.“

Die Flucht in die Städte macht es auch nicht besser. Hier werden die Bauern immer noch wie Bürger zweiter Klasse behandelt. Ihr „Hukou“-Ausweis weist sie als Landbewohner aus, die nicht die gleichen Rechte wie ihre in der Stadt geborenen Landsleute besitzen: Sie können ihre Kinder nicht auf eine öffentliche Schule schicken, haben keinen Zugang zur kommunalen Gesundheitsversorgung und dürfen keine Wohnung kaufen.

Die Regierung hat versprochen, das zu ändern. Außerhalb der großen Metropolen Peking, Schanghai und Chongqing soll der Hukou durch einen Personalausweis oder eine Meldebescheinigung ersetzt werden, die allen die gleichen Rechte verschafft. Doch die Reform kommt nicht vom Fleck, denn die Sozialausgaben für die neuen Städter müssen irgendwie finanziert werden. Und in Zeiten geringeren Wirtschaftswachstums – im offiziellen Wortlaut „neue Normalität“ genannt – zögern die Gemeinden, die Steuern zu erhöhen.

⇥Martine Bulard

1 Siehe Alexander F. Day, „The Peasant in Postsocialist China“, Cambridge (Cambridge University Press) 2015.

2 Zahlenangaben nach Jean-François Dufour, Jeffrey de Lairg und Du Shangfu, „Agroindustry. In the dragon’s farm“, China Corp. 2015, www.chine-analyse.com.

3 Auf der Pressekonferenz zur Präsentation des „Dokuments Nr. 1“, „SCIO briefing on agriculture modernisation“, 4. Februar 2015, www.china.org.cn.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Le Monde diplomatique vom 12.11.2015